
„Wenn man Israel verlässt und nach Gaza geht, ist man Gott":
In den Köpfen von IDF-Soldaten, die Kriegsverbrechen begehen
Als Psychologe, der sich mit Brutalität in der Armee beschäftigt, sehe ich, wie die hasserfüllte Rhetorik der Regierung das Problem verschlimmert.
Yoel Elizur - 23. Dezember 2024 - Übersetzt mit DeepL
Die Sorge um die Sicherheit von Familienmitgliedern, die in der Armee dienen, ist Teil des Familienlebens in Israel. Wie meine Altersgenossen war ich ein besorgter Vater, als meine Kinder in den israelischen Streitkräften dienten, und ich bin ein noch besorgterer Großvater. Ich bin entsetzt über die Massenmorde an Zivilisten in Gaza und besorgt über die Auswirkungen dieser Brutalität auf die psychische Gesundheit der Soldaten. Unsere Soldaten sind durch die hetzerische Rhetorik der Regierung und die Schwächung des zivilen und militärischen Rechtssystems gefährdet. Diese Politik untergräbt den Verhaltenskodex der israelischen Streitkräfte, fördert Gräueltaten und erhöht das Risiko moralischer Verletzungen.
Moralische Verletzungen entstehen, wenn Soldaten gegen ihre moralischen Werte und Überzeugungen handeln oder als Zuschauer zuschauen. Die so Verletzten empfinden Schuld und Scham und sind anfällig für Depressionen, Angstzustände und Selbstmordgedanken. Die IDF bietet traumatisierten Soldaten, von denen einige seelisch verletzt sind, eine mehrmonatige intensive Behandlung in den Rear Rehabilitation Centers (RRCs) an. Danach wird die Hälfte dieser Soldaten als wehrdienstuntauglich entlassen.
Die israelische Gesellschaft sieht die IDF als moralische Armee. Die Diskussion über Gräueltaten ruft emotionalen Widerstand hervor, obwohl intellektuell verstanden wird, dass es in jeder zivilisierten Gesellschaft Verbrechen gibt und dass Soldaten in jeder Armee Kriegsverbrechen begangen haben. Entwicklungspsychologen haben bei Kleinkindern gefühllose Züge festgestellt, während Sozialpsychologen nachgewiesen haben, dass autoritäre Anweisungen und sozialer Druck normale Menschen zu schädlichem Verhalten veranlassen.
Dennoch fällt es schwer, der Gewalttätigkeit gefühlloser Soldaten und der Verrohung gewöhnlicher Soldaten ins Auge zu sehen. Deshalb beruhigt es mich nicht, wenn mein Enkel sagt: "Mach dir keine Sorgen, Opa, ich werde einen illegalen Befehl verweigern.
Ich möchte ihn und alle anderen schützen, die ihren Körper und ihre Seele riskieren, wenn sie in der IDF dienen. Ich möchte, dass sie wissen, wie schwer es ist, sich einem gefühllosen Kommandanten zu widersetzen und dem Gruppenzwang zu widerstehen, der Brutalität fördert. Ich möchte, dass sie wissen, wie schlüpfrig der Weg zur Brutalität ist, und dass sie die moralischen Dilemmas kennen, mit denen sie in Kriegszeiten konfrontiert werden. Dies hat mich dazu motiviert, diesen Aufsatz zu schreiben, sowohl als Großvater als auch als Psychologe, der die Erfahrungen von Soldaten mit Verrohung erforscht hat.
Nuphar Ishay-Krien war während der ersten Intifada (1987-93) Sozialarbeiterin bei zwei mechanisierten Infanteriekompanien, die im südlichen Gazastreifen stationiert waren. Sie sprach mit den Soldaten, die sich ihr öffneten. Vier Jahre später betreute ich ihre Forschungsarbeit über die Verrohung der Soldaten. Sie führte vertrauliche Interviews, um den moralischen Verfall, die Brutalität und die daraus resultierenden psychischen Probleme zu untersuchen. Unser wissenschaftlicher Artikel wurde später als erstes Kapitel in einem Sammelband mit dem Titel „The Blot of a Light Cloud: Israeli Soldiers, Army, and Society in the Intifada“ veröffentlicht, der 2012 erschien.
Die folgenden Kapitel spiegeln unsere Forschung wider und bauen auf ihr auf. Sie wurden von einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern aus den Bereichen psychische Gesundheit, Soziologie, Recht, Politikwissenschaft, Kommunikation und Philosophie verfasst. Außerdem waren Schriftsteller, Künstler und hochrangige Offiziere im Ruhestand beteiligt.
Wir haben fünf Gruppen von Soldaten anhand ihrer Persönlichkeitsmerkmale identifiziert. 1. Eine kleine Gruppe von Gefühlskalten bestand aus skrupellosen Soldaten, von denen einige vor ihrer Einberufung Gewalttaten gestanden hatten. Diese Soldaten begingen die meisten schweren Gräueltaten. Die Macht, die sie in der Armee erhielten, war berauschend: „Es ist wie eine Droge ... man fühlt sich wie das Gesetz, man macht die Regeln. Als wäre man Gott, sobald man den Ort namens Israel verlässt und den Gazastreifen betritt“. Brutalität ist für sie ein Ausdruck von Stärke und Männlichkeit.
„Mit Frauen habe ich kein Problem. Eine hat einen Pantoffel nach mir geworfen, da habe ich sie hier (zeigt auf die Leistengegend) getreten, das habe ich mir gebrochen. Die kann heute keine Kinder kriegen“.
„X hat einem Araber viermal in den Rücken geschossen und ist mit dem Argument der Notwehr davongekommen. Vier Kugeln in den Rücken aus zehn Metern Entfernung ... kaltblütiger Mord. So etwas haben wir jeden Tag gemacht.
„Ein Araber ging die Straße entlang, etwa 25 Jahre alt, warf keinen Stein, nichts. Peng, eine Kugel in den Bauch. Wir schossen ihm in den Bauch, er lag sterbend auf dem Bürgersteig, und wir fuhren gleichgültig davon.“
Palästinenser betrachten am Sonntag ihr Haus, das am späten Samstagabend bei einem israelischen Angriff in Deir al-Balah zerstört wurde.
Diese Soldaten waren erbarmungslos und meldeten keine moralischen Verletzungen. Einige wurden von Militärgerichten verurteilt. Sie fühlten sich verbittert und betrogen.
Eine kleine, ideologisch motivierte Gruppe von Gewalttätern unterstützte die Brutalität, ohne sich selbst daran zu beteiligen. Sie glaubten an die jüdische Vorherrschaft und waren den Arabern gegenüber feindselig eingestellt. Aus dieser Gruppe wurden keine moralischen Verstöße gemeldet.
Eine kleine, unbestechliche Gruppe widersetzte sich dem Einfluss der gefühllosen und ideologischen Gruppen auf die Unternehmenskultur. Anfangs von den brutalen Kommandeuren eingeschüchtert, nahmen sie später eine moralische Haltung ein und meldeten die Gräueltaten dem Divisionskommandeur. Nach ihrer Entlassung empfanden die meisten ihren Dienst als sinnvoll und stärkend. Ein Whistleblower wurde jedoch massiv schikaniert und ausgegrenzt, so dass er in eine andere Einheit versetzt werden musste. Er war traumatisiert, depressiv und verließ nach seiner Entlassung das Land.
4) Eine große Gruppe der Mitläufer bestand aus Soldaten, die zuvor nicht gewaltbereit waren. Ihr Verhalten wurde vor allem durch das Vorbild jüngerer Offiziere und die Normen der Kompanie beeinflusst. Einige Mitläufer, die Gräueltaten begangen hatten, berichteten von moralischen Verletzungen: „Ich fühlte mich wie, wie, wie ein Nazi ... es sah so aus, als wären wir wirklich die Nazis und sie die Juden“.
5) Die zurückhaltende Gruppe bestand aus einer großen Gruppe in sich gekehrter Soldaten, die sich an militärische Normen hielten und keine Gräueltaten begingen. Sie reagierten auf palästinensische Gewalt und lebensbedrohliche Situationen ausgewogen und rechtlich gerechtfertigt. Sie haben keine moralischen Verstöße begangen.
In jeder Kompanie entwickelte sich eine interne Kultur, die weitgehend von jüngeren Kommandeuren und charismatischen Soldaten geprägt war. Anfangs führten die Normen zu Grausamkeiten.
„Ein neuer Kommandant kam zu uns. Wir gingen mit ihm um sechs Uhr morgens auf die erste Patrouille. Er bleibt stehen. Keine Menschenseele auf der Straße, nur ein kleiner vierjähriger Junge, der in seinem Garten im Sand spielt. Plötzlich rennt der Kommandant los, packt den Jungen und bricht ihm den Arm am Ellbogen und das Bein hier. Er trat ihm dreimal in den Bauch und ging weg. Wir standen alle mit offenem Mund da. Wir starrten ihn schockiert an ... Ich fragte den Kommandanten: „Was ist Ihre Geschichte?“ Er sagte: „Diese Kinder müssen vom Tag ihrer Geburt an getötet werden. Wenn ein Kommandant das tut, ist es legitim.
Ein energisches Eingreifen des Divisionskommandeurs änderte die Position der beiden Infanteriekompanien. Nach dem Bericht der „Unbestechlichen Soldaten“ leitete er eine Untersuchung ein, die zu Verurteilungen führte. Außerdem wurden zwei der „Unbestechlichen Soldaten“ zur Offiziersausbildung abkommandiert. Als sie als Offiziere in ihre Kompanien zurückkehrten, überwachten sie die Soldaten genau, sorgten für strenge Disziplin und förderten eine interne Kultur, die dem Verhaltenskodex der israelischen Streitkräfte (IDF) entsprach.
Die Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen im aktuellen Krieg sind zahlreich und leicht zugänglich. Lee Mordechai, ein israelischer Historiker, hat die Daten gesammelt, kategorisiert und regelmäßig aktualisiert. Die Daten umfassen Berichte von angesehenen Institutionen wie den Vereinten Nationen, Berichte von Mainstream-Medien sowie Bilder und Videos, die in sozialen Medien hochgeladen wurden.
Es gibt Beweise für die Erschießung von Zivilisten, die weiße Fahnen schwenkten, für die Misshandlung von Gefangenen und Leichen, für das Niederbrennen von Häusern ohne rechtliche Genehmigung, für die rachsüchtige Zerstörung von Eigentum und für Plünderungen. Darüber hinaus stellt Mordechai fest, dass "im Vergleich zu den Beweisen für die begangenen Verbrechen nur eine verschwindend geringe Zahl von Ermittlungen eingeleitet wurde.
Meine Untersuchung der Daten ergab eine ähnliche Gruppierung von Soldaten mit einigen signifikanten Unterschieden. Vor allem die Gruppen der Gefühlskalten und Ideologisch Gewalttätigen scheinen größer und extremer zu sein und ihre Ideologie unter Missachtung der IDF-Standards und des geschwächten Justizsystems auszuleben.
Die Trauerreden bei der Beerdigung von Shuvael Ben-Natan, einem Reservisten, der im Libanon getötet wurde, veranschaulichen diese Verschiebung. Ein Redner erwähnte, dass Ben-Natan einen 40-jährigen Palästinenser getötet hatte, der mit seinen Kindern im Westjordanland Oliven erntete. Mitglieder seiner Militäreinheit berichteten, wie er die Moral in Gaza stärkte, indem er ohne Erlaubnis ein Haus in Brand setzte. Sie bekannten sich zu weiteren Brandstiftungen und Racheakten in Gaza, im Libanon und in Samaria (Westjordanland).
Während der korrumpierende Einfluss der gefühllosen und ideologisch motivierten Gewaltsoldaten zunimmt, werden die Unbestechlichen an den Rand gedrängt. Max Kresh, ein Reservesoldat, erklärte, er weigere sich, an Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie der „Zerstörung von Gaza“ teilzunehmen. Die Folge war eine schwere soziale Ächtung: „Sie haben mich aus meinem Team geworfen. Sie haben deutlich gemacht, dass sie mich nicht wollen“. Er kehrte aus dem Reservedienst zurück und fühlte sich „mental am Boden zerstört“.
Sde Teiman, ein Gefangenenlager, ist wie ein Mikrokosmos der Brutalität im gegenwärtigen Krieg. Sie erlangte traurige Berühmtheit, als ein unbestechlicher Armeeveteran Anzeichen von schwerem sexuellem Missbrauch eines Gefangenen meldete. Neun IDF-Reservisten wurden daraufhin wegen des Verdachts auf schwere Sodomie und andere Formen des Missbrauchs inhaftiert.
Medienberichten zufolge laufen 36 Untersuchungen zu Todesfällen von Gefangenen, die seit dem 7. Oktober in Sde Teiman inhaftiert waren. Zeugenaussagen von freigelassenen Palästinensern, die von der israelischen Menschenrechts-NGO B'Tselem gesammelt wurden, deuten auf häufige, harte und willkürliche Gewalt, Demütigung und Erniedrigung, bewusstes Aushungern und andere Misshandlungen hin. Soldaten äußerten anonym, dass ein Diskurs von Hass und Rache den Missbrauch von Gefangenen normalisiere.
Ein Reserveoffizier beschrieb die Verrohung und ihre Auswirkungen auf die Gefangenen. „Ich habe dort sadistische Menschen gesehen. Menschen, die es genießen, anderen Schmerzen zuzufügen. ... Das Beunruhigendste war zu sehen, wie leicht und schnell normale Menschen abspalten und die Realität vor ihren Augen nicht sehen können, wenn sie sich in einer schwierigen und schockierenden menschlichen Situation befinden“.
Ähnlich äußerte sich ein Arzt im Reservedienst: „Hier findet eine völlige Entmenschlichung statt. Sie werden nicht wirklich wie Menschen behandelt ... Im Nachhinein ist das Schwierigste für mich, was ich gefühlt habe, oder besser gesagt, was ich nicht gefühlt habe, als ich dort war. Es stört mich, dass es mich nicht gestört hat. Es gibt eine Normalisierung des Prozesses, und irgendwann hört es einfach auf, einen zu stören“.
Eine zurückhaltende Reservistin hielt an ihren Werten fest, indem sie aus der Einrichtung floh: „Die Entmenschlichung hat mir Angst gemacht. Die Begegnung mit solch gefährlichen Einstellungen, die in unserer Gesellschaft immer normaler werden, war traumatisch für mich ... Mit Hilfe eines Psychiaters konnte ich mich aus dem Reservedienst befreien“.
Sde Teiman und die Kriegsverbrechen in Gaza müssen in einem größeren Kontext gesehen werden. Israel trat in den Krieg ein, nachdem die Hamas massenhaft Zivilisten getötet und ihre genozidalen Absichten aufgedeckt hatte. Kurz darauf griff die Hisbollah, die die Infrastruktur für ein paralleles Massaker im Norden vorbereitet hatte, unsere Zivilbevölkerung an. Sie waren bewaffnet und wurden vom Iran unterstützt, der offen seine Absicht erklärte, den Staat Israel zu zerstören und die „Endlösung“ für die israelischen Juden zu vollenden.
Wir fühlten uns schwach und verletzlich, als die Erinnerungen an den Holocaust wieder auflebten und wir uns gegen reale Bedrohungen unserer Existenz verteidigen mussten. Es gab auch dunkle Gefühle von Wut und Rache und kein Mitgefühl für die Menschen in Gaza, die sich über das Massaker an jüdischen Frauen und Kindern freuten.
Unsere Kinder und Enkelkinder, unsere Ehemänner und Ehefrauen zogen mutig in diesen Krieg und riskierten ihr Leben mit einer Kameradschaft, die das widerspiegelt, was in unserem Land wertvoll und bedeutsam ist. Es war die Pflicht unserer Regierung und des Oberkommandos, unsere Soldaten in die Schlacht zu führen und sie körperlich, geistig und moralisch auf die besonderen Herausforderungen dieses Krieges vorzubereiten. Wir brauchten Führungspersönlichkeiten, die uns helfen würden, unserer eigenen Dunkelheit mutig ins Auge zu sehen, und die Rache strikt verbieten würden.
„Krieg ist eine grausame Sache“, schrieb Generalmajor a.D. Yaakov Amidror in ‚The Blot of a Light Cloud‘ und fuhr fort: “Die eigentliche Frage ist: Wie können wir die Grausamkeit auf diejenigen konzentrieren, die uns schaden wollen, und nicht auf andere, die zufällig in der Nähe sind?“
In diesem Zusammenhang hat die von Hass und Rache geprägte Rhetorik unserer Regierung, die durch ihre entschlossene Untergrabung des Justizsystems noch verstärkt wurde, zu exzessiven Vergeltungsmaßnahmen und Massentötungen von Zivilisten in Gaza geführt. Sie hat die Gräueltaten gefühlloser und ideologisch motivierter gewalttätiger Soldaten ermutigt, ihren Einfluss auf ihre Anhänger verstärkt und die Unbestechlichen an den Rand gedrängt.
In dieser schwierigen Situation ist es die Aufgabe des Oberkommandos, die Werte aufrechtzuerhalten, die im Ethikkodex der israelischen Streitkräfte (IDF) verankert sind, darunter die Reinheit der Waffen und die Disziplin, die vorschreiben, dass „IDF-Soldaten ihre Waffen oder ihre Macht nicht einsetzen, um unbeteiligten Zivilisten oder Gefangenen Schaden zuzufügen“ und dass „der Soldat sicherstellt, dass er nur legale Befehle erteilt und keine illegalen Befehle befolgt“. Wenn wir diese Werte hochhalten, können wir die Verrohung gegen Unschuldige verhindern und die Seelen unserer Soldaten schützen.
Wir, die Bürger, die ihre Kinder, Ehepartner und Enkel in den Militärdienst schicken, müssen Wege des Widerstands finden. Es ist unsere Pflicht, klare Worte zu finden, um die Grausamkeit des Krieges einzudämmen, unseren moralischen Kodex aufrechtzuerhalten und die Soldaten vor moralischen Verletzungen und deren langfristigen Folgen zu schützen. Quelle |

Eine Neuerscheinung
Gaza: Völkermord als Staatsräson?:
Eine Betrachtung aus menschenrechtlicher Perspektive
Arne Hoffmann
Taschenbuch – 4. Januar 2025
Unter Völkermordforschern wächst die übereinstimmende Auffassung, dass Israel in Gaza einen Genozid begeht.
Eine Reihe dieser Forscher stammt aus Israel selbst. Die deutschen Leitmedien aber berichten über diesen zunehmenden Konsens nicht. Auch andere wesentliche Informationen erreichen ihre Leser und Zuschauer bestenfalls in Bruchstücken. Viele Menschen scheinen das zu ahnen, weshalb fast jeder Zweite wenig oder gar kein Vertrauen in die deutsche Berichterstattung zum Geschehen in Gaza hat.
Dieses Buch liefert die fehlenden Informationen, jeweils mit nachprüfbaren Belegen etwa aus der Presse anderer Länder.
Es zeichnet nach, wie sich der Völkermord in Gaza abspielt, und wie verzweifelt Menschen versuchen, auch in Deutschland darüber zu sprechen – nur um immer wieder gegen Mauern zu laufen.
Dabei widmet sich dieses Buch wichtigen Fragen: Wie konnte es zu dieser Eskalation des Grauens kommen?
Was ist Deutschlands Anteil daran?
Wie geriet die Debatte über Israels Vorgehen in eine bedenkliche Schieflage, die auch immer mehr progressive Juden mit Sorge erfüllt?
Was müsste unser Land Fachleuten zufolge jetzt tun? Und wie wird dieser Völkermord voraussichtlich enden? Quelle |
Unterstützt das Weiterbestehen des
„Das Palästina Portal“

In einer Medienlandschaft, in der kritische und wahrheitsgetreue Berichterstattung über Palästina immer noch eine Seltenheit ist, bleibt "Das Palästina Portal" standhaft - kompromisslos unabhängig, bewegungsgeführt und unbeirrbar in seinem Engagement.
Das Leiden der Palästinenserinnen und Palästinenser wird dokumentiert, die Heuchelei des Zionismus aufgedeckt, eine konditionierte Berichterstattung hinterfragt und die Unterwürfigkeit einer Politik entlarvt, die von Werten spricht, aber ihre eigenen Interessen über alles stellt.
Jeden Tag widersetzt sich "Das Palästina Portal" dem Schweigen und versucht, die Stimmen zu stärken, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen.
Kostenlos ist leider nicht kostenfrei.
Für dieses politisch unabhängige Engagement sind wir auf Unterstützung und Solidarität angewiesen. Wir freuen uns über jeden einmaligen oder auch regelmäßigen Beitrag. Sponsorenbeitrag
Wenn Sie dieses Portal nützlich und notwendig finden, wäre es sehr hilfreich, wenn Sie sich als einer der wenigen entscheiden und diese Arbeit unterstützen. So können wir weiterhin über die Ereignisse in Palästina berichten.
Mehr >>>
|

New York Times enthüllt israelischen Vernichtungsbefehl, der die Tötung von 20 Zivilisten für jeden „Kämpfer“ erlaubt
Andre Damon - 26. Dezember 2024 - Übersetzt mit DeepL
Am Donnerstag veröffentlichte die New York Times einen detaillierten Bericht über die Existenz offizieller israelischer Militärdokumente, die die Tötung von 20 Nicht-Kombattanten für jeden Angriff auf einen einzigen mutmaßlichen Hamas-Anhänger genehmigen, wobei das Verhältnis in einigen Fällen 100 zu 1 beträgt.
Der Bericht macht deutlich, dass Israel seinen Krieg gegen Gaza als Vernichtungskrieg geführt hat, in dem die Tötung der Zivilbevölkerung durch Luftangriffe ein ebenso wichtiges Ziel war wie das Massaker an denen, die sich der israelischen Besatzung widersetzten.
Die Times berichtete, dass die israelischen Streitkräfte (IDF) innerhalb weniger Stunden nach Beginn des Angriffs am 7. Oktober einen beispiellosen Befehl erteilten, der die praktisch uneingeschränkte Bombardierung ziviler Gebiete in Gaza erlaubte.
„Bei jedem Angriff, so der Befehl, hatten die Offiziere die Befugnis, das Risiko einzugehen, bis zu 20 Zivilisten zu töten“, schrieb die Times.
Der Befehl ermächtigte die IDF, Personen, die vage mit der Hamas in Verbindung gebracht wurden, zu Hause bei ihren Familien ins Visier zu nehmen, und schuf damit die Voraussetzungen für ein systematisches und vorsätzliches Massaker an ganzen Haushalten. “Das bedeutete zum Beispiel, dass das Militär einfache Kämpfer ins Visier nehmen konnte, während sie zu Hause von Verwandten und Nachbarn umgeben waren“.
Die Times fügte hinzu, dass „hochrangige Kommandeure Angriffe auf Hamas-Führer genehmigten, von denen sie wussten, dass sie jeweils mehr als 100 Nichtkombattanten gefährden würden - eine außergewöhnliche Schwelle für ein modernes westliches Militär“.
Aus dem Bericht der Times geht klar hervor, dass das „System“ und die „Einsatzregeln“, die bei den „Präventivschlägen“ gegen mutmaßliche Hamas-Sympathisanten angewandt wurden, nichts anderes als ein Deckmantel für eine flächendeckende Bombardierung des Gazastreifens mit massiven Sprengbomben waren, mit dem Ziel, so viele Menschen wie möglich zu töten und so viel wie möglich vom Gazastreifen zu zerstören.
Das Ziel dieses Massakers war ein ethnisch gesäuberter Gazastreifen, der dauerhaft von Israel annektiert, besetzt und besiedelt werden sollte, als Teil dessen, was der israelische Premierminister Netanjahu den „neuen Nahen Osten“ nannte, unter der direkten Hegemonie und Herrschaft der imperialistischen Mächte über ihren israelischen Vasallenstaat.
Dass diese Massenvernichtungskampagne bis heute andauert, zeigt die Ermordung von fünf Journalisten bei einem Luftangriff am Donnerstag, womit die Gesamtzahl der seit Oktober 2023 in Gaza getöteten Journalisten auf 201 gestiegen ist.
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden bei dem israelischen Angriff auf Gaza, der am 7. Oktober begann, bisher 45.361 Palästinenser getötet. Diese Zahl berücksichtigt jedoch nicht die große Zahl von Menschen, die durch das gezielte Aushungern der Bevölkerung Gazas durch Israel oder durch die Zerstörung des Gesundheitssystems gestorben sind. Die Gesamtzahl könnte bei 186.000 oder mehr liegen, so The Lancet im Juli.
Der Bericht der Times stellt eine halboffizielle Bestätigung der Existenz des Vernichtungsbefehls durch die US-Regierung dar, hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Schadensbegrenzung. Ein Großteil der Geschichte wurde bereits vom +972 Magazine, einer unabhängigen israelisch-palästinensischen Publikation, berichtet, aber der Bericht der Times ist das erste Mal, dass eine große amerikanische Medienquelle behauptet, das Dokument gesehen zu haben, das die Tötung von 20 Zivilisten für jeden Kämpfer autorisiert.
Die israelischen Angriffe erfolgten ohne Vorwarnung, oft mit Hilfe eines Systems namens „Lavender“, das künstliche Intelligenz einsetzt, um ganze Häuser und ihre Bewohner ohne Vorwarnung und in einigen Fällen ohne menschliche Aufsicht zu zerstören.
Dem Befehl vom 7. Oktober folgte ein weiterer am 8. Oktober, in dem es laut Times hieß, dass „Angriffe auf militärische Ziele in Gaza ... kumulativ bis zu 500 Zivilisten pro Tag gefährden“ könnten.
In einem bemerkenswerten Absatz schrieb die Times: „Ein von der Times befragter Wissenschaftler in West Point, Prof. Michael N. Schmitt, sagte, es bestehe die Gefahr, dass dies von Offizieren im mittleren Dienst als eine Quote interpretiert werde, die sie erreichen müssten.“ Trotzdem, so die Times, wurde die „Quote“ nur wenige Tage später aufgehoben, und es gab Tage, an denen mehr als 500 Tote in Gaza gemeldet wurden.
In den ersten beiden Tagen des Krieges, so die Times in einem früheren Artikel, „waren 90 Prozent der von Israel über Gaza abgeworfenen Munition satellitengesteuerte Bomben mit einem Gewicht von 1.000 bis 2.000 Pfund“.
US-Beamte haben wiederholt erklärt, sie hätten die israelische Führung ermutigt, Munition mit geringerer Sprengkraft zu verwenden. Diese öffentlichen Erklärungen werden jedoch durch die Tatsache widerlegt, dass die USA laut einem Reuters-Bericht vom Juli zwischen Oktober und Juli 14.000 2.000-Pfund-Bomben an Israel geliefert haben, mehr als jede andere Art von Munition.
Die Existenz dieses Befehls hilft, die Ergebnisse eines im November veröffentlichten Berichts des UN-Menschenrechtsbüros zu erklären, der zu dem Schluss kommt, dass 70 Prozent der zivilen Todesopfer in Gaza seit Oktober Frauen und Kinder waren, wobei Kinder unter 18 Jahren den bei weitem größten Anteil der Todesopfer ausmachten.
Während des gesamten Genozids hat die Biden-Administration versucht, die Behauptung zu untermauern, dass Israel, obwohl es manchmal übereifrig Waffen einsetzt, nicht die Absicht habe, die Bevölkerung von Gaza zu vernichten oder gewaltsam zu vertreiben.
Tatsache ist jedoch, dass die von der New York Times überprüften Dokumente innerhalb weniger Tage nach ihrer Veröffentlichung den US-Geheimdiensten zur Verfügung gestanden hätten. US-Präsident Joe Biden sei vor seiner Reise nach Israel im Oktober 2023 darüber informiert worden, wo er die volle Unterstützung der US-Regierung für den Völkermord zusicherte.
Während der israelische Angriff auf Gaza eine beispiellos schnelle Vernichtung in einem von den USA unterstützten Krieg des 21. Jahrhunderts darstellt, haben die Vereinigten Staaten seit der Ausrufung des „Kriegs gegen den Terror“ im gesamten Nahen Osten Krieg geführt und dabei viele der von Israel angewandten Methoden übernommen. Eine 2013 in der medizinischen Fachzeitschrift PLOS Medicine veröffentlichte Studie kam zu dem Schluss, dass die US-Invasion im Irak zwischen 2003 und 2011 den Tod von mindestens einer halben Million Menschen verursacht hat, von denen 70 Prozent bei gewaltsamen Angriffen getötet wurden.
Seit 2001 haben die USA weltweit unglaubliche 100.000 Luftangriffe geflogen, unter anderem im Irak, in Afghanistan, Pakistan, Libyen, Syrien, Jemen und Somalia. Während der Obama-Administration wurden US-Drohnenangriffe mit schockierender Regelmäßigkeit während der „Terror Tuesday“-Sitzungen des Präsidenten durchgeführt, bei denen er persönlich Ziele für illegale Tötungen aus einer Orwellschen „Dispositionsmatrix“ von Zielen auswählte.
Es gibt keine vergleichbare aktuelle Studie über die Zahl der Todesopfer in diesen Kriegen, aber wenn die Methoden, die 2013 im Irak angewandt wurden, in diesen Ländern angewandt würden, ginge die Zahl der Todesopfer wahrscheinlich in die Millionen.
Die systematische Anwendung außergerichtlicher Tötungen durch die Vereinigten Staaten im letzten Vierteljahrhundert ist die Antwort auf die Behauptungen des Weißen Hauses, Israel zur „Zurückhaltung“ zu drängen.
In Wirklichkeit perfektioniert und institutionalisiert Israel mit den von den USA gelieferten Waffen und Geheimdienstinformationen nur die Methoden, die von den USA im „Krieg gegen den Terror“ eingesetzt wurden. Und Israels Verbrechen schaffen nur einen Präzedenzfall für den weiteren Einsatz von Massentötungen gegen dicht besiedelte städtische Gebiete, sowohl weltweit als auch innerhalb der Vereinigten Staaten selbst.
Die Komplizenschaft der imperialistischen Mächte beim Völkermord in Gaza ist eine Anklage gegen das gesamte kapitalistische System, das systematisch Völkermord - die höchste Form sozialer Barbarei - normalisiert, um die Interessen der parasitären kapitalistischen Finanzoligarchie zu verteidigen. Quelle und mehr >>>
|

Um die Bilder zu vergrößern auf das Bild klicken
Lowkey - Lang lebe Palästina ft Frankie Boyle, Maverick Sabre (Teil 3) [Musikvideo] | GRM Daily
05.04.2019 |

Newsletter A2025/01
Drei übersetzte Beiträge: ChristInnen in Gaza, Stürmung des Kamal Adwan Krankenhaus, Wo ist Dr. Abu Safiya?, Lesehinweise
Dr. Martha Tonsern - Büro des Botschafters - Vertretung des Staates Palästina in Österreich, Slowenien und Kroatien und ständige Beobachtermission des Staates Palästina bei der UN und den internationalen Organisationen in Wien
Ein neuer Kommandant kam zu uns. Wir gingen mit ihm auf die erste Patrouille nach sechs Uhr morgens. Er blieb stehen. Auf den Straßen war keine Menschenseele zu sehen, nur ein kleiner vierjähriger Junge, der im Sand in seinem Garten spielte. Plötzlich rannte der Kommandant los, packte den Jungen und brach ihm den Arm am Ellbogen und das Bein. Er trat ihm dreimal auf den Bauch und ging weg. Wir standen alle mit offenen Mündern da. Schockiert starrten wir ihn an. Ich fragte den Kommandanten: „Was soll das?“ Er antwortete mir: „Diese Kinder müssen von dem Tag an, an dem sie geboren werden, getötet werden.“ Wenn ein Kommandeur das tut, dann wird es legitim.“
---
„Ein Araber ging einfach die Straße entlang, etwa 25 Jahre alt, er warf keinen Stein, tat nichts. Peng, eine Kugel in den Bauch. Man schoss ihm in den Bauch, und er lag sterbend auf dem Bürgersteig, und wir fuhren gleichgültig davon.“
---
„Es ist wie eine Droge... man hat das Gefühl, dass man das Gesetz ist, dass man die Regeln macht. Als ob man von dem Moment an, in dem man den Ort namens Israel verlässt und den Gazastreifen betritt, Gott ist.“
---
„Ich habe kein Problem mit Frauen. Eine hat einen Pantoffel nach mir geworfen, also habe ich ihr hier einen Tritt verpasst (zeigt auf die Leiste) und alles hier zertrümmert. Sie kann heute keine Kinder bekommen.“
---
„X schoss einem Araber viermal in den Rücken und kam mit dem Argument der Notwehr davon. Vier Schüsse in den Rücken aus einer Entfernung von zehn Metern... kaltblütiger Mord. Wir haben solche Sachen jeden Tag gemacht.“
Alle Aussagen stammen von israelischen Soldaten, gesammelt vom Militärpsychologen Yoel Elizur für den Haaretz-Artikel „'When You Leave Israel and Enter Gaza, You Are God': Inside the Minds of IDF Soldiers Who Commit War Crimes“ (23.12.2024)
„Die israelische Armee eröffnet in Jabalia im Gazastreifen ein Zentrum für ihre Soldaten. Es bietet Massagen, Pediküre, Playstation, Eiskaffee, verschiedene Arten von Shahuka und sogar Waffeln. Und das alles, während sie Menschen bombardieren, ihnen Nahrung und Wasser vorenthalten, auf Kinder schießen und Krankenhäuser dem Erdboden gleichmachen. Ich glaube, mein menschliches Gehirn ist kurz davor zu explodieren.“
Tomer Dotan-Dreyfus, israelischer Schriftsteller
„Ein israelischer Soldat, der sich im Ausland aufhielt, war aufgrund seiner mutmaßlichen Beteiligung an Kriegsverbrechen Gegenstand einer Untersuchung des brasilianischen Bundesgerichts. Er verließ das Land sofort mit Unterstützung der israelischen Botschaft, bevor er vorgeladen oder festgenommen werden konnte.
Als Reaktion darauf veröffentlichten der Mossad und später die wichtigsten israelischen Nachrichtenmedien Anweisungen für SoldatInnen/Reservisten, die ins Ausland reisen, wie z. B. die Löschung von Informationen über ihre militärischen Aktivitäten oder von „belastenden Beweisen“ auf ihren persönlichen Konten in den sozialen Medien, die Konsultation von Rechtsexperten vor der Reise und die Vermeidung der Weitergabe des Echtzeit-Standorts während der Reise.
Wie wäre es, wenn die Weigerung, sich an Kriegsverbrechen zu beteiligen, Vorrang vor dem Versuch hätte, diese zu verschleiern und sich der Verantwortung dafür zu entziehen?“
Addam Yekutieli, israelischer Künstler und Friedensaktivist
„Israelischer Nachrichtensender 13 an SoldatInnen: „Wenn Sie Bilder von Ihrem Militärdienst haben, löschen Sie sie!“ – Ein Aufruf zur Vernichtung von Beweisen im nationalen Fernsehen. Dieses Land glaubt wirklich, es stehe über dem Gesetz.“
Tomer Dotan-Dreyfus, israelischer Schriftsteller
„Einer meiner tiefsten Beweggründe, Israel zu verlassen, war, dass ich den Gedanken nicht ertragen konnte, in einem Café neben einem Piloten zu sitzen, der in der Nacht oder in der Woche zuvor so etwas getan haben könnte [eine Familie zu töten und ein 22 Monate altes Kind mit Amputationen zurückzulassen] und jetzt seine freie Zeit genießt. Dieser Gedanke hat mich einfach zerstört.“
Alon Mizrahi, israelischer Publizist und Denker
„Wenn heute von Völkermord die Rede ist, ist es sowohl rechtlich als auch moralisch korrekt, die Menschen in Gaza als Hauptopfer hervorzuheben. Doch der Schaden für Recht und Moral, den Israel angerichtet hat, geht über sie hinaus – es wurde ein moralischer Abgrund geschaffen, der keinen juristischen Namen hat.“
Rob Howse, Professor für Internationales Recht, New York University School of Law
Sehr geehrte Damen und Herren,
Die Berichterstattung in den österreichischen Medien über die Stürmung des Kamal Adwan Krankenhauses erreichte Ende Dezember einen neuen Tiefpunkt. Abgesehen davon, dass Gaza ohnehin mehr oder weniger aus den Schlagzeilen verschwunden ist, wurden hier die Aussagen israelischer Armeesprecher einmal mehr unhinterfragt übernommen und keinerlei Fragen nach Beweisen für die israelischen Behauptungen, im Kamal Adwan Krankenhaus wäre ein „Hamas-Stützpunkt“ oder eine „Hamas-Kommandozentrale“, gestellt. Es erfolgte auch keine journalistische Einordnung der Geschehnisse in einen größeren Kontext wie beispielsweise die systematische Zerstörung der Gesundheitsinfrastruktur in Gaza (siehe Berichte von Ärzte ohne Grenzen, Vereinte Nationen, etc.) oder dass eben genau jene Zerstörung der Gesundheitsinfrastruktur einen der Indikatoren für den Tatbestand eines Genozids darstellt (siehe zahlreiche Genozid-ExpertInnen, VölkerrechtlerInnen, Amnesty International, UN, etc.).
Ein “Bericht“ über die Stürmung des Krankenhauses auf orf.at vom 27.12.2024 (https://orf.at/stories/3380104/) endet mit dem Satz „Klinikvertreter waren nicht für eine Stellungnahme zu erreichen.“ – Abgesehen davon, dass der Direktor des Kamal Adwan Krankenhauses seit Wochen fast täglich mittels Videobotschaften versuchte, die Weltöffentlichkeit zu erreichen und detailliert über die israelischen Angriffe berichtete, also mehrfach Stellungnahmen abgab und um Hilfe bat, darüber jedoch kein einziges Mal berichtet wurde, löst dieser Satz auch dahingehend Irritation aus, als dass Dr. Abu Safiya für eine Stellungnahme nicht erreichbar war und ist, weil er von der israelischen Armee verschleppt wurde.
Die letzten existierenden Aufnahmen von Dr. Abu Safiya zeigen, wie er alleine, im weißen Arztkittel, zwischen Ruinen und Schutt auf zwei israelische gepanzerte Militärfahrzeuge zugeht. Seitdem ist er verschwunden, sein Verbleib und Wohlergehen ungewiss. Seine Familie – die das Schlimmste befürchtet – richtete mehrfach verzweifelte Appelle an die Weltöffentlichkeit, die WHO kritisierte die Festnahme scharf, weltweit engagiert sich medizinisches Personal bei Protesten, auch PolitikerInnen (wie beispielsweise der slowenische UN-Botschafter Samuel Zbogar) forderten die Freilassung von Dr. Abu Safiya.
Zunächst wurde seine Haft von den israelischen Behörden geleugnet, dann wurde bestätigt, dass er sich in israelischer Gefangenschaft befindet, die Auskunft über seinen Aufenthaltsort wurde – und wird – jedoch weiterhin verweigert. Nach wie vor gibt es keine bestätigte Meldung darüber, wo und in welchem Zustand er sich befindet, jedoch wurde von kürzlich freigelassenen Häftlingen berichtet, dass Dr. Abu Safiya im berüchtigten Folterlager Sde Teiman gefangen gehalten wird.
Ehemalige Gefangene und Wärter des Lagers haben von Folterungen wie sexuellen Übergriffen, Schlägen, Hunger, Schlafentzug und der Verweigerung von medizinischer Versorgung berichtet. Gegen israelische Soldaten, die als Wärter in dem Gefängnis gearbeitet haben, wird derzeit Anklage erhoben, weil sie einen palästinensischen Gefangenen gruppenvergewaltigt haben sollen. Der Fall wurde nur deshalb publik, weil der Gefangene aufgrund schwerster innerer Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste.
In den frühen Morgenstunden wurde heute bekannt, dass Dr. Abu Safiyas Mutter gestorben ist.
- - - - - - - - - - - - -
In der heutigen ersten Aussendung dieses Jahres finden Sie drei übersetzte Beiträge.
Im ersten Beitrag von 972Mag berichtet ein Journalist aus Gaza über die Stürmung des Kamal Adwan Krankenhauses und die Situation der Menschen auf ihrer Flucht aus dem Norden von Gaza.
Im zweiten Beitrag von The Intercept spricht der Journalist Jonah Valdez mit der humanitären Organisation MedGlobal, für die Dr. Abu Safiya arbeitet. Wie MedGlobal-Geschäftsführer Joseph Belliveau berichtet, ist Dr. Abu Safiya einer von sechs medizinischen Mitarbeitern der Organisation, die sich in israelischer Gefangenschaft befinden. „Diese Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts, wonach die Konfliktparteien Maßnahmen zum Schutz medizinischer Einrichtungen ergreifen müssen, sind völlig außer Kraft gesetzt, und wir sprechen von einer völligen Vernichtung medizinischer Einrichtungen“, so Belliveau. „Es ist schwer, das in Worte zu fassen.“
Zunächst jedoch geht es um die christliche Gemeinde in Gaza und hierbei insbesondere um die Familie Al-Suri. Ramez und Helen Al-Suri, palästinensische Christen aus Gaza-Stadt, sind – so wie viele andere ChristInnen – mit ihren drei Kindern Suhail, Julie und Majd in die griechisch-orthodoxen Kirche St. Porphyrius geflüchtet. Im Glauben, die Familie sei in der Kirche sicher, ließen sie ihre drei Kinder am 19. Oktober 2023 am Schlafplatz in der Kirche zurück, um kurz den kranken Großvater in einem anderen Gebäude zu besuchen. Gegen 20:30 Uhr traf ein israelischer Luftangriff das Außengebäude der Kirche, brachte es zum Einsturz und tötete 18 Menschen, darunter alle drei Kinder von Helen und Ramez Al-Suri: „Am [19. Oktober] habe ich mein ganzes Leben verloren – mein Leben hat jetzt keinen Sinn mehr. Ich habe drei Kinder in wenigen Sekunden verloren, und jetzt sind ihre Mutter und ich allein. Das ist es, was der Krieg in Gaza mit mir gemacht hat.“
_______________________________
Die Christinnen und Christen in Gaza, die in Kirchen Zuflucht suchen, sehen einem weiteren Weihnachtsfest unter Beschuss entgegen
Nach wiederholten israelischen Angriffen auf die historischen Kirchen im Gazastreifen trauern die vertriebenen PalästinenserInnen um ihre Angehörigen und die Freude über die verloren gegangene Weihnachtszeit.
Ruwaida Kamal Amer - 972Mag - 24. Dezember 2024 - Quelle
Während das zweite Weihnachtsfest unter israelischem Bombardement näher rückt, finden fast 1 000 palästinensische ChristInnen Zuflucht in der griechisch-orthodoxen Kirche St. Porphyrius und dem lateinischen Kloster im Zentrum von Gaza-Stadt. Seit mehr als einem Jahr, seit dem Beginn des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen, leben sie in diesen beiden Kirchen und haben kaum Nahrung, Wasser oder Strom.
Unter ihnen ist der 47-jährige Ramez Suhail Al-Suri, ein palästinensischer Christ aus Gaza-Stadt. Vor dem Krieg, so erinnerte sich Al-Suri gern, war Weihnachten für ihn und seine Familie – seine Frau Helen und seine drei Kinder Suhail (14), Julie (12) und Majd (11) – eine fröhliche Zeit.
„In Gaza hatten wir während der Feiertage [zu Hause] einen Christbaum, und wir gingen auf den Markt und kauften neue Kleidung, Schokolade und Dekoration, damit die Kinder glücklich waren“, erzählte Al-Suri gegenüber +972. „Wir haben auch an kirchlichen Feiern teilgenommen – wir hatten viel Freude in unserem Leben.“
Als Israel am 7. Oktober mit der Bombardierung von Gaza begann, suchten Al-Suri und seine Familie zusammen mit anderen Angehörigen Zuflucht in der orthodoxen Kirche. „Wir wissen, dass die internationalen und humanitären Gesetze die Bombardierung von Kirchen und Moscheen verbieten“, erklärte er.
Aber es wurde ihnen schnell klar, dass „die Bombardierungen willkürlich und sehr gewalttätig waren“. Als am 17. Oktober 2023 eine gewaltige Explosion das Al-Ahli-Krankenhaus erschütterte, das nur 350 Meter von dem Ort entfernt war, an dem Al-Suri und seine Familie in der Kirche Schutz gesucht hatten, konnten sie die Auswirkungen spüren. „Es war ein sehr schrecklicher und tragischer Moment – fast 500 Menschen wurden getötet. Wir waren sehr beunruhigt über diesen Angriff, da er so nah war.“
Leider sollten sich Al-Suris Befürchtungen nur zwei Tage später bewahrheiten. „An diesem Abend brachten wir unsere Kinder an ihre Schlafplätze [in der Kirche] und ließen sie dort zurück“, so Al-Suri gegenüber +972. „Meine Frau und ich gingen zu meinem kranken Vater, der 87 Jahre alt ist und in einem anderen Gebäude schlief, um ihn zu pflegen und zu betreuen.“
Gegen 20:30 Uhr traf ein israelischer Luftangriff das Außengebäude der Kirche, brachte es zum Einsturz und tötete 18 Menschen, darunter die drei Kinder von Al-Suri, und verletzte mehrere andere. „In diesem Moment konnte ich nicht glauben, was ich da sah. Ich versuchte, meine Kinder zu retten, aber alle drei waren in einem kritischen Zustand und starben schnell“, sagte Al-Suri. „Eines meiner Kinder hing auf dem Zaun der Kirche und ich konnte es nicht herunterheben, aber die Rettungsteams halfen mir.“
Der Angriff vom 19. Oktober war nur der erste von vielen Angriffen auf Kirchen im Gazastreifen im vergangenen Jahr, obwohl sie Hunderten von vertriebenen PalästinenserInnen, darunter kleinen Kindern, älteren Menschen und Behinderten, als Zufluchtsort dienen. Weniger als zwei Monate später, im Dezember, töteten israelische Scharfschützen Mutter und Tochter Nahida und Samar Anton im Innenhof des lateinischen Klosters, auch bekannt als Kirche der Heiligen Familie, und verletzten sieben weitere Personen, die ihnen zu Hilfe eilen wollten. Im Juli griff die israelische Armee die Schule der Heiligen Familie an und tötete vier ZivilistInnen, und in einem weiteren Luftangriff wurde die griechisch-orthodoxe Kirche erneut angegriffen.
Al-Suris Kinder besuchten alle die Holy Family School, „eine der angesehensten Schulen in Gaza“, erinnert er sich mit Stolz. „Sie hatten Träume für ihre Zukunft: Julie wollte Zahnärztin werden, Suhail wollte Buchhalter werden, und Majd wollte Wirtschaft studieren.“ Alle drei wollten im vergangenen Jahr an einem Wettbewerb zum Auswendiglernen der Bibel im Westjordanland teilnehmen. „Sie lernten die Bibel auswendig und warteten auf die Erlaubnis, Gaza zu verlassen“, fügt er hinzu. „Jetzt lesen sie das Buch im Himmel.“
„Am [19. Oktober] habe ich mein ganzes Leben verloren – mein Leben hat jetzt keinen Sinn mehr. Ich habe drei Kinder in wenigen Sekunden verloren, und jetzt sind ihre Mutter und ich allein“, sagt Al-Suri. „Das ist es, was der Krieg in Gaza mit mir gemacht hat.“
„Wir hoffen, dass Gott uns antwortet und diesen Krieg beendet“
Die griechisch-orthodoxe Kirche des Heiligen Porphyrius in Gaza-Stadt ist eine der ältesten aktiven Kirchen der Welt. Ihre Gründung geht auf das 5. Jahrhundert zurück, während das heutige Bauwerk im 12. Jahrhundert fertiggestellt wurde, mit Glasfenstern, die kunstvolle biblische Darstellungen zeigen, und dicken Mauern, die das Grab des Heiligen Porphyrius, des ersten Bischofs von Gaza, umgeben. Das Gebäude ist ein Erbe der wechselvollen Geschichte von Gaza, die heidnische, christliche und muslimische Herrschaftszeiten erlebt hat.
Sowohl die Kirche St. Porphyrius als auch das lateinische Kloster waren auch Ankerpunkte für die schwindende christliche Gemeinde im Gazastreifen, deren Zahl vor Israels bisher heftigstem und zerstörerischstem Angriff auf den Gazastreifen bei etwas über 1 000 lag – und vor der von Israel verhängten Belagerung und Blockade im Jahr 2007 etwa dreimal so hoch war. Es war auch nicht das erste Jahr, in dem sie als Schutzräume dienten: Beide Einrichtungen öffneten ihre Türen für die BewohnerInnen des Gazastreifens verschiedener Glaubensrichtungen während der vier Kriege, die Israel seit 2005 gegen die Enklave geführt hat. Während der israelischen Operation „Protective Edge“ 2014 fanden etwa 70 PalästinenserInnen tagelang Schutz in der orthodoxen Kirche.
In den letzten anderthalb Jahrzehnten war Weihnachten für viele ChristInnen im Gazastreifen eine seltene und geschätzte Gelegenheit, dem abgeriegelten Streifen zu entkommen und ihre Familien im Westjordanland wiederzusehen. „Früher haben wir von der israelischen Armee die Erlaubnis erhalten, die Geburtskirche in Bethlehem zu besuchen“, erzählte Al-Suri gegenüber +972. „Wir erlebten die glorreichen Festtagsrituale in dieser Stadt mit ihren Gebeten und Feiern.“
Al-Suris Familie besuchte auch Freundinnen und Verwandte in Ramallah und Jerusalem, wo sie zur Grabeskirche pilgerten, die von den ChristInnen als Ort der Kreuzigung und der Beerdigung Jesu angesehen wird. Al-Suri gab sich große Mühe, diese Besuche zu organisieren. „Wir bekamen diese Genehmigungen nur einmal im Jahr“, berichtet er.
Dieses Weihnachten in Gaza ist wie alle anderen Feiertage, die eigentlich fröhlich sein sollten, „trist und beschränkt sich auf Gebete und Wehklagen“, so Al-Suri. Helen, seine Frau, kann die Abwesenheit ihrer Kinder immer noch nicht begreifen. „Sie versucht, stark zu sein, aber ich sehe unendliche Traurigkeit in ihren Augen, und ich kann es ihr nicht verdenken“, sagt er. Helen leidet jetzt unter Bluthochdruck und einem vergrößerten Herzmuskel, den sie versucht, mit Medikamenten in den Griff zu bekommen. Um ihr zu helfen, mit dem Verlust fertig zu werden, hat Al-Suri sie vor kurzem für ein Online-Studium der Buchhaltung an der Al-Azhar-Universität eingeschrieben.
Sobald er dazu in der Lage ist, plant Al-Suri, für sich, seine Frau und seine Eltern Asyl zu beantragen – entweder in Australien, den Vereinigten Staaten oder in Europa. Seine Schwestern leben im Ausland und haben versucht, ihm bei der Ausreise aus dem Gazastreifen zu helfen, was seit der Schließung des Grenzübergangs Rafah durch Israel im Mai ein unmögliches Unterfangen ist.
„Wir hoffen, dass Gott uns erhört und diesen Krieg beendet“, bittet Al-Suri. „Was wir an Ungerechtigkeit, Hunger und Vertreibung erlebt haben, ist genug, und ich glaube nicht, dass das palästinensische Volk in der Lage ist, noch mehr Leid zu ertragen. Ich versuche, den Menschen durch humanitäre Arbeit in allen Gebieten des Gazastreifens zu helfen und zu meinem normalen Alltag zurückzukehren, aber ich schaffe es einfach nicht: Ich habe meine Kinder immer vor Augen.“
Keine sicheren Orte für Gottesdienste oder Unterkünfte
Von den palästinensischen ChristInnen, die seit dem 7. Oktober aus dem Gazastreifen geflohen sind, sind 300 in Ägypten gelandet. Kamel Ayyad, ein 51-jähriger palästinensischer Christ aus Gaza-Stadt, wurde zu Beginn des Krieges mit seiner Familie aus dem westlichen Teil der Stadt in deren Zentrum vertrieben und konnte schließlich im November 2023 nach Ägypten fliehen.
Nach dem 7. Oktober trommelte Ayyad schnell seine engsten Familienangehörigen und Verwandten zusammen und suchte wie Al-Suri und seine Familie Schutz in einem Gotteshaus – dem Lateinischen Kloster im Stadtteil Zeitoun. „Wir glaubten, dass dies ein sicherer Ort sei und uns nichts passieren würde“, sagt er gegenüber +972.
Ihre Probleme verschärften sich jedoch rapide. „Es gab keine Lebensmittel, kein Wasser und keinen Strom. Die Kirche versuchte, uns mit dem Nötigsten zu versorgen, aber die Situation war sehr schlecht“, erinnert sich Ayyad.
Mitte Oktober versetzte dann das Massaker in der griechisch-orthodoxen Kirche St. Porphyrius Ayyad und andere ChristInnen, die im Lateinischen Kloster Zuflucht gefunden hatten, in einen Schockzustand. Viele von ihnen kamen zu Fuß an den Ort des Geschehens, um bei den Rettungsarbeiten zu helfen und nach Familie und Freunden zu suchen: „Alle liefen hin, um den Ort zu durchsuchen. Wir fanden einige Leichenteile, die wir wiedererkannten. Unter den Toten waren meine Cousine Lisa Al-Suri [32], ihr Mann Tariq [37] und ihr Sohn Issa [12]. Eine ganze Familie wurde durch die israelische Bombardierung ausgelöscht.“
Für Ayyad war der Angriff ein Wendepunkt. „Es war eine große Tragödie – Traurigkeit machte sich in den Kirchen breit“, erinnert er sich. „Alle bekamen Angst und wollten den Gazastreifen verlassen. Der Anblick der Leichen in den weißen Leichentüchern bestätigte, dass dies ein Krieg ist, der viele Grenzen überschreitet und niemanden verschont; es gibt keine sicheren Gotteshäuser oder Unterkünfte für die Vertriebenen.“ Aus Angst um die Sicherheit seiner Kinder traf Ayyad die Entscheidung, das Land zu verlassen.
Ayyad aus Ägypten, der früher in der Kirche der Heiligen Familie gearbeitet hat, erinnert sich an vergangene Weihnachtsfeiern in Gaza. „Der Dezember war für uns der schönste Monat. Junge Leute kamen, um die Kirche zu schmücken, und der riesige Baum stand in der Mitte des Innenhofs. ChristInnen und MuslimInnen feierten gemeinsam. Jetzt ist die Kirche traurig: Die Vertriebenen schlafen in den Gängen, die meisten von uns haben ihre Häuser und Arbeitsplätze verloren, und die Bombardierungen dauern an. Es hat sich überhaupt nichts geändert.“ Trotz alledem hofft Ayyad, eines Tages nach Gaza zurückkehren zu können – „in ein Gaza, so wie es früher war.“
Ruwaida Kamal Amer ist eine freiberufliche Journalistin aus Khan Younis.
_________________________
Israel stürmt das letzte Krankenhaus im Norden des Gazastreifens und zwingt die verbliebenen BewohnerInnen in den Süden
Der Angriff auf Kamal Adwan markiert den Höhepunkt einer dreimonatigen Kampagne der ethnischen Säuberung und Zerstörung in der nördlichen Stadt Beit Lahiya.
Amer Amer - 972Mag - 27. Dezember 2024 - Quelle
In den Morgenstunden des 27. Dezember 2024 stürmten israelische Streitkräfte das Gelände des Kamal Adwan Krankenhauses in Beit Lahiya und beendeten damit eine fast einwöchige Belagerung des letzten funktionierenden Krankenhauses im nördlichen Gazastreifen.
Die Soldaten zwangen die PatientInnen aus dem Kamal Adwan Krankenhaus gewaltsam in das indonesische Krankenhaus weiter südlich in der Stadt, das bereits einige Tage zuvor vom Militär evakuiert worden war.[1]
„Die chirurgischen Abteilungen, das Labor, die Wartungsabteilung und die Notaufnahme vom Kamal Adwan Krankenhaus sind vollständig niedergebrannt, und das Feuer breitet sich weiter aus“, hieß es in einer Erklärung des Krankenhauspersonals, in der davor gewarnt wurde, dass die PatientInnen „jeden Moment vom Tod bedroht sind“. Der Direktor des Krankenhauses, Dr. Hussam Abu Safiya, erklärte gegenüber palästinensischen Medien, er habe von der Armee eine „klare und direkte Warnung“ erhalten, dass er verhaftet werden würde.
In einer Erklärung behauptete die israelische Armee, dass sie innerhalb des Krankenhauses operiere, „nachdem sie zuvor Informationen über die Anwesenheit von Militanten, terroristischer Infrastruktur und terroristischen Aktivitäten an diesem Ort erhalten hatte“, und dass sie „den PatientInnen und dem Personal des Krankenhauses erlaube, das Gebiet auf geordnete Weise zu evakuieren“.
Am Donnerstag (26.12.2024) wurden bei einem israelischen Luftangriff auf ein Gebäude in der Nähe von Kamal Adwan Berichten zufolge 50 Menschen getötet. Unter ihnen waren fünf KrankenhausmitarbeiterInnen, so Dr. Abu Safiya, der diese Woche zweimal mit +972 sprach.
„Die Welt muss verstehen, dass dieses Krankenhaus absichtlich angegriffen wird. Die Menschen hier sind nicht nur PatientInnen – sie sind Opfer eines systematischen Versuchs, unsere Fähigkeit, Leben zu retten, zu zerstören“, sagte er am 23. Dezember gegenüber +972.
„Wir rufen die internationale Gemeinschaft auf, schnell zu intervenieren und humanitäre Korridore zu öffnen, um Hilfe zu bringen und das Gesundheitssystem, die MitarbeiterInnen und die PatientInnen zu schützen.“
Der Angriff auf die medizinischen Einrichtungen in Beit Lahiya ist die jüngste Eskalation in Israels brutaler Kampagne der ethnischen Säuberung im nördlichen Gazastreifen, durch die in den letzten drei Monaten die große Mehrheit der in diesem Gebiet lebenden PalästinenserInnen gewaltsam vertrieben wurde.
Eine von ihnen, die 68-jährige Bader Al-Hout, hat die Zerstörung ihres Viertels in Beit Lahiya aus erster Hand miterlebt. Bis Ende Oktober wohnten sie und ihre Familie in ihrem Haus in der Nähe des Kamal Adwan Krankenhauses. Doch nachdem das Haus durch einen israelischen Luftangriff beschädigt worden war, zogen sie zu Verwandten in einem anderen Teil der Stadt.
„Wir überlebten mit Konserven und Mehl, das wir gelagert hatten. Meine Enkelkinder weinten vor Hunger, aber wir hatten nichts mehr, was wir ihnen geben konnten“, so Al-Hout gegenüber +972. „Viele unserer NachbarInnen wurden getötet, als sie versuchten, sauberes Wasser aus den leeren Häusern oder dem Krankenhaus zu holen. Wir hatten keine andere Wahl, als salziges Wasser zu trinken.“
In der Anfangsphase der Belagerung nahmen die israelischen Streitkräfte das Flüchtlingslager Jabalia ins Visier und verwandelten das am dichtesten besiedelte Gebiet des Gazastreifens in eine „Geisterstadt“. Wie +972 Ende November berichtete, verlagerte sich die Aufmerksamkeit der israelischen Streitkräfte dann aber auf Beit Lahiya, wo sie durch Luftangriffe auf große Wohngebäude, ferngesteuerte Quadcopter und Panzerfeuer Hunderte von EinwohnerInnen töteten und Tausende weitere vertrieben.
Vor Beginn der israelischen Offensive Anfang Oktober 2024 waren 400.000 PalästinenserInnen im nördlichen Gazastreifen eingeschlossen. Heute sind es nach Angaben von Mahmoud Basal, dem Sprecher des palästinensischen Zivilschutzes in Gaza, nur noch etwa 20.000. Die jüngsten Angaben des UNRWA gehen von einer noch geringeren Zahl aus, die zwischen 10.000 und 15.000 liegt.
Zu Beginn der israelischen Operation wurden zuerst die Häuser von Al-Hout's Nachbarn angegriffen – die Familien Amin und Al-Amri. Am 29. Oktober, so erinnert sich Al-Hout, „wurden der Vater der Familie Amin, seine schwangere Frau und ihre 2-jährige Tochter getötet. Im Haus der Familie Alamri befanden sich 27 Menschen [als es getroffen wurde]; die meisten wurden getötet, andere wurden schwer verletzt. Die Granatsplitter und Trümmer der Bombardierung trafen unser Gebäude und zerstörten die Wohnung meines Sohnes“, fügt sie hinzu. „Er hat 12 Jahre lang dafür gearbeitet, sie zu bauen.“
Nachdem sie in das Haus ihrer Verwandten umgezogen waren, weigerten sich Al-Hout und ihre Familie mehrere Wochen lang, nach Gaza-Stadt zu evakuieren. Sie hatte von Verwandten, die evakuiert worden waren, gehört, dass israelische Truppen junge Männer festnahmen, auch solche, die keiner der palästinensischen politischen Gruppierungen angehörten, und befürchtete, dass ihren Mann und ihre Söhne das gleiche Schicksal erwartete.
Doch als in der Nacht zum 21. Dezember auch das Haus, in dem sie untergekommen waren, bombardiert wurde, war für Al-Hout klar, dass es zu gefährlich war, dort zu bleiben. „Der Lärm der Roboterexplosionen und der Luftangriffe war ohrenbetäubend, so etwas hatten wir noch nie gehört. Die Fenster und Türen zersplitterten durch die Explosionen in der Nähe. Wir dachten, es würde unsere letzte Nacht sein“, erzählt sie. Meine 5-jährige Enkelin Lina weinte und fragte mich: „Warum bombardieren und töten sie uns?“
Am nächsten Morgen verließen sie und 17 ihrer Verwandten Beit Lahiya in Richtung Süden nach Gaza-Stadt, ohne zu wissen, wo sie die erste Nacht überhaupt verbringen würden. Als sie sich auf den Weg machten, erfuhren sie, dass einer ihrer Nachbarn am Morgen bei einem Fluchtversuch getötet worden war.
„In den Straßen von Beit Lahiya lagen Leichen“, beschrieb Al-Hout gegenüber +972 den Beginn ihrer Reise. „Ich kann normalerweise keine langen Strecken laufen, aber ich wusste, wenn ich stehen bleiben würde, wäre ich tot.“
An einem militärischen Kontrollpunkt auf dem Weg hielten israelische Soldaten die Familie an. „Sie nahmen meine vier Söhne und meinen kranken Mann mit“, erinnert sich Al-Hout. In der Hoffnung, dass sie an Ort und Stelle freigelassen würden, wollte sie auf sie warten, aber die Soldaten befahlen ihr, mit den anderen Frauen zu gehen. Schließlich wurden ihr Mann und ihr ältester Sohn freigelassen, aber das Schicksal ihrer beiden jüngeren Söhne war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichts unbekannt.
Als sie das Zentrum von Gaza-Stadt erreichten, fanden sich Al-Hout und ihre Familie im Yarmouk-Stadion wieder, wo Hunderte von vertriebenen PalästinenserInnen aus dem Norden in behelfsmäßigen Zelten leben. Angesichts der starken Überfüllung gelang es der Familie nicht, ein Zelt oder auch nur einen Platz zum Aufstellen eines Zeltes zu finden.
Während sie auf Nachrichten von ihrem Mann und ihren Söhnen wartete, dachte Al-Hout darüber nach, was ihre Familie zu diesem Moment geführt hatte. „[Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu] behauptet, er sei aus einem bestimmten Grund hier, aber er ist nur hier, um zu zerstören“, sagt sie. „Aber er trägt nicht die alleinige Schuld – Amerika ist mitverantwortlich, denn es hat ihm grünes Licht gegeben. Ich bin eine ältere Frau – bitte, erklären Sie mir das: Was haben wir Amerika angetan, dass wir die Zerstörung unseres Landes, unserer Heimat und unserer Häuser verdient haben?“
Wenn ich zusammenbreche, wird auch meine Familie zusammenbrechen
Wie Al-Hout floh auch die 47-jährige Nada Hammam am 22. Dezember 2024 aus ihrem Haus in Beit Lahiya in Richtung Gaza-Stadt. „Es war wie der Tag des Jüngsten Gerichts“, so beschreibt sie ihre Erfahrung.
Zwei Monate lang ertrug die siebenfache Mutter die Schrecken im nördlichen Gazastreifen und hoffte verzweifelt auf einen Waffenstillstand und den Abzug der israelischen Streitkräfte. Doch die Situation verschlimmerte sich mit jedem Tag, der verging.
Der Gesundheitszustand ihres 71-jährigen Vaters, der an Bluthochdruck und Diabetes leidet, verschlechterte sich rapide, als ihm die Medikamente ausgingen. Hammams eigene Medikamente, die sie gegen ihre Rückenprobleme einnehmen muss, waren ebenfalls aufgebraucht.
Am 8. Dezember nahmen die Dinge eine tragische Wendung. Hammam war gerade dabei, in ihrem Haus Brot zu backen, als ein Nachbar hereinstürmte und sie darüber informierte, dass ihr Bruder Hussain von einem israelischen Luftangriff getroffen worden war, als er auf der Suche nach Lebensmitteln war. „Wir brachen zusammen“, erzählt sie.
Hammam, die älteste ihrer Geschwister, rief keinen Krankenwagen; sie wusste, dass es im Kamal Adwan Krankenhaus ohnehin keinen mehr gab. „Ich bat meine Brüder, bei unserem Vater zu bleiben, während ich einen langen Weg zurücklegte, um meinen verletzten Bruder unter Beschuss [zurück ins Haus] zu bringen“, sagte sie gegenüber +972. „Ich schob ihn in einem Rollstuhl, während Quadcopter um uns herum schossen.“
Als sie zu Hause ankamen, erlag Hussain seinen Wunden. Die Familie beerdigte ihn im Erdgeschoss ihres Hauses.
Trotz des verheerenden Verlusts und der anhaltenden israelischen Bombardierung wollten Hammam und ihre Familie unbedingt in ihrem Haus in Beit Lahiya bleiben. Doch wie Al-Hout und zahllose andere erkannte sie bald, dass die Risiken dafür viel zu hoch waren.
„Am Morgen des 21. Dezember erreichten die Bombardierungen unser Viertel“, sagte Hammam gegenüber +972. Wegen der dichten Wolke aus Trümmern und Schrapnellen konnten sie nicht sehen, was sich vor ihrem Fenster abspielte. Aber sie konnten die Explosionen hören, die immer näher kamen, und die Schreie der NachbarInnen, die um Hilfe riefen. „Vier junge Schwestern aus unserer Nachbarschaft wurden bei einem israelischen Luftangriff getötet, als sie versuchten, Wasser vom Dach zu holen“, erinnert sie sich.
Hammam berichtet, die Bombardierung habe sich in der Nacht verstärkt. „Wir blieben von 22.00 Uhr bis 6.00 Uhr morgens wach, erstarrt vor Angst, unfähig, auch nur auf die Toilette zu gehen. Wir warteten nur auf den Moment, in dem das Feuer aufhören würde.“
Am nächsten Tag beschloss die Familie, nach Gaza-Stadt zu fliehen. Als sie die Tür öffneten, um das Haus zu verlassen, fanden sie drei Leichen, die auf der Straße lagen. „Wir konnten sie nicht einmal begraben“, sagt Hammam, ihre Stimme schwer vor Kummer.
Auf ihrem Weg nach Süden durch das zerstörte Beit Lahiya wurden Hammams Ehemann, ihre vier Söhne und ihr 71-jähriger Vater an einem Militärkontrollpunkt festgehalten. Die israelischen Soldaten zwangen Hammam, mit den anderen Frauen weiterzugehen. Wie bei den beiden Söhne von Frau Al-Hout ist auch ihre Lage unbekannt.
Nach einer beschwerlichen fünfstündigen Reise erreichten Hammam und ihre Verwandten schließlich Gaza-Stadt und fanden in einem behelfsmäßigen Zelt auf dem Bürgersteig der Al-Wihda-Straße im Stadtzentrum Schutz. „Ich bin so erschöpft“, sagt sie gegenüber +972. „Aber ich versuche, meine Tränen zu verbergen, denn wenn ich zusammenbreche, wird auch meine Familie zusammenbrechen.“
Systematische Angriffe auf medizinische Einrichtungen
Am 24. Dezember 2024 umstellten israelische Truppen das indonesische Krankenhaus in Beit Lahiya, damals eine der letzten drei medizinischen Einrichtungen im nördlichen Gazastreifen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza zwangen sie rund 65 medizinische MitarbeiterInnen und PatientInnen zur Flucht – viele von ihnen machten sich anschließend zu Fuß auf den kilometerlangen Weg zu einem Krankenhaus in Gaza-Stadt auf.
In den vergangenen Tagen haben israelische Panzer und Bulldozer, begleitet von schwerem Geschützfeuer, auch das weiter nördlich gelegene Kamal-Adwan-Krankenhaus umzingelt, was palästinensische Gesundheitsbeamte als „beispiellosen“ Angriff bezeichneten. Berichten zufolge haben israelische Truppen vor dem Krankenhaus mit Sprengstoff präparierte Roboter zur Explosion gebracht, bevor die Armee in den frühen Morgenstunden des Freitags mit der gewaltsamen Evakuierung der Einrichtung begann.
Nach Angaben des Krankenhausdirektors Dr. Hussam Abu Safiya wurden bei dem Angriff in der Nähe des Krankenhauses am Donnerstagabend unter anderem der Kinderarzt Dr. Ahmad Samour, die Laborantin Esraa Abu Zaidah, die Sanitäter Abdul Majid Abu Al-Eish und Maher Al-Ajrami sowie der Wartungstechniker Fares Al-Houdali getötet.
Am 23. Dezember berichtete Dr. Abu Safiya gegenüber +972, dass das Krankenhaus unter direkten Beschuss geraten sei. „Die Kugeln sind in kritische Bereiche eingedrungen, darunter unsere Intensivstation, die Entbindungsabteilung und die chirurgische Abteilung. Drohnen haben Bomben auf das Dach und den Innenhof abgeworfen, und wir haben aufgrund von Treibstoffmangel und Bränden fast unsere gesamte Sauerstoffversorgung verloren.“ Der Beschuss erreichte auch einen der Hauptgeneratoren des Krankenhauses, der in Brand geriet und den Betrieb der Einrichtung weiter gefährdete.
Am Donnerstag, dem 26. Dezember, verschlechterte sich die Situation weiter erheblich, so Dr. Abu Safiya. „Leider war die letzte Nacht schlimmer als die Nacht zuvor. Die Art der Sprengsätze war alarmierend; es ist klar, dass die Menge des verwendeten Sprengstoffs dieses Mal wesentlich größer war. Die Splitter dieser Explosionen drangen in das Gebäude ein und trafen eines der PatientInnenzimmer, wobei der Krankenpfleger Hassan Al-Dabous schwer verletzt wurde. Er erlitt eine schwere Kopfverletzung mit zertrümmertem Schädel und Frakturen im Gesicht und am Kiefer. Er befindet sich derzeit auf der Intensivstation und sein Zustand ist sehr ernst. Das Kamal Adwan Krankenhaus verfügt nicht mehr über die nötigen Mittel, um solch schwere Fälle angemessen zu behandeln“, fügt er hinzu. „Wir bemühen uns, die Patienten in andere Krankenhäuser zu verlegen.“
Die letzte Explosion ereignete sich nach Angaben von Dr. Abu Safiya gegen 4.30 Uhr morgens. „Sie war so stark, dass sie fast alles im Inneren des Krankenhauses zerstörte – Türen, Fenster, Trennwände und Glas – und die Intensivstation fast funktionsunfähig machte“, erklärte er gegenüber +972. „Erst vor kurzem wurde ein Mitarbeiter durch ein Schrapnell eines von einem Quadcopter abgeworfenen Sprengstoffs verletzt.“
Vor dem Evakuierungsbefehl am Freitag beherbergte das Krankenhaus „75 Verwundete mit ihren BegleiterInnen und 180 medizinische MitarbeiterInnen, womit sich die Gesamtzahl der Menschen im Krankenhaus auf etwa 350 beläuft“, sagte Dr. Abu Safiya.
„Die internationale Gemeinschaft muss jetzt handeln, um diesen Angriff zu stoppen. Die Menschen, die wir versorgen, laufen Gefahr, vertrieben zu werden oder Schlimmeres zu erleiden, da unsere Möglichkeiten, sie zu behandeln, von Stunde zu Stunde schwinden.“
Ein Sprecher der israelischen Armee erklärte in seiner Antwort auf Anfragen für diesen Artikel, die Operationen der Armee im nördlichen Gazastreifen zielten auf „terroristische Ziele nach den Bestrebungen der Hamas, ihre operativen Fähigkeiten in dem Gebiet wieder aufzubauen“, und bestritt, dass sie Angriffe auf ZivilistInnen oder zivile Einrichtungen durchführt.
Die Behauptung, in der Nähe des Kamal-Adwan-Krankenhauses Sprengstoff deponiert zu haben, wurde als „Hamas-Propaganda“ abgetan, und die Inhaftierung von „Personen, die verdächtigt werden, an terroristischen Aktivitäten beteiligt zu sein“, in Kampfgebieten wurde mit der Aussage gerechtfertigt, dass diejenigen, die sich als unbeteiligt erwiesen hätten, freigelassen würden. Ferner erklärte sie, dass alle Behauptungen über Fehlverhalten von ihrem internen Untersuchungsmechanismus überprüft werden würden.
Ahmed Ahmed ist ein Pseudonym für einen Journalisten aus Gaza-Stadt, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben möchte.
_______________________________
Die Suche nach dem Arzt im weißen Kittel aus Gaza läuft auf Hochtouren
Dr. Hussam Abu Safiya ist einer von sechs medizinischen Mitarbeitern der in Chicago ansässigen Organisation MedGlobal, die sich weiterhin in israelischer Gefangenschaft befinden.
Jonah Valdez - The Intercept - 31. Jänner 2024 - Quelle
Als das israelische Militär in den letzten Wochen das Kamal-Adwan-Krankenhaus – die letzte noch verbliebene größere Gesundheitseinrichtung im nördlichen Gazastreifen – einnahm, blieb Dr. Hussam Abu Safiya im Krankenhaus, um die sich verschlechternde Situation zu dokumentieren.
In einem Video zeigt Abu Safiya, der Leiter des Krankenhauses, eine Intensivstation mit zerschossenen Fenstern, wo ihm zufolge Granatsplitter den Schädel eines Krankenpflegers zertrümmerten, der einen Patienten versorgt hatte. In einem anderen Video, in dem Bomben das Gebäude erschüttern, erklärt Abu Safiya, dass mit Sprengstoff bestückte Roboter der israelischen Armee etwa 50 Meter vom Krankenhaus entfernt detonierten. Auf weiteren Videos ist zu sehen, wie Quadcopter-Drohnen Bomben auf nahe gelegene Gebäude abwerfen, während PatientInnen und Personal zusehen.
Letzte Woche hatten israelische Soldaten das Krankenhaus gestürmt. Hundertachtzig medizinische Mitarbeiter und mehr als 75 PatientInnen und deren Angehörige befanden sich im Krankenhaus. Medizinisches Personal und PatientInnen berichteten, dass israelische Soldaten sie schlugen und einen Arzt töteten. Nach Angaben von Gesundheitsbeamten aus dem Gazastreifen setzten die Soldaten mehrere Teile des Krankenhauses in Brand. Das Krankenhaus ist derzeit nicht mehr funktionsfähig.
Dr. Abu Safiya gehörte zu denjenigen, die vom israelischen Militär verhaftet wurden. Die letzten bekannten Bilder von ihm, die zuerst von Al Jazeera ausgestrahlt wurden und seitdem im Internet weit verbreitet wurden, zeigen Abu Safiya, wie er – immer noch seinen weißen Arztkittel tragend – inmitten von Trümmerhaufen auf zwei gepanzerte israelische Fahrzeuge zugeht. Seitdem ist er im geheimen Gefängnissystem des israelischen Militärs verschwunden, ohne dass es eine Anklage gibt – Normalität für palästinensische Gefangene, die von den israelischen Behörden oft auf unbestimmte Zeit festgehalten werden.
KollegInnen und Familienangehörige bemühen sich, Abu Safiya ausfindig zu machen und seine Freilassung zu erreichen. Die Verhaftung von Abu Safiya hat einen Aufschrei von Amnesty International, der Weltgesundheitsorganisation, von politischen VertreterInnen und Hunderten von ÄrztInnen hervorgerufen, die eine Kampagne in den sozialen Medien gestartet haben, um seine Freilassung zu fordern.
Abu Safiya hat die israelischen Angriffe auf das Gesundheitssystem des Gazastreifens im vergangenen Jahr scharf kritisiert. Auch sein 15-jähriger Sohn Ibrahim wurde im Oktober bei einem israelischen Drohnenangriff vor dem Kamal Adwan Krankenhaus getötet, wo er mit seiner Familie Zuflucht gesucht hatte. Abu Safiya ist einer von Hunderten von MedizinerInnen, die während des völkermörderischen Krieges im Gazastreifen vom israelischen Militär – meist ohne Grund – inhaftiert wurden.
Nach Angaben seiner Familie und ehemaliger Gefangener wird er in Sde Teiman festgehalten, einem geheimen israelischen Militärgefängnis in der Negev-Wüste, das für seine Misshandlungen, Folter und sexuellen Übergriffe bekannt ist. „Er leidet jetzt unter schweren Misshandlungen im Sde Teiman-Gefängnis, einschließlich Demütigung, Kälte und Verweigerung medizinischer Versorgung“, so seine Familie in einer Erklärung.
Abu Safiya arbeitet für MedGlobal, eine in Chicago ansässige humanitäre Organisation, die medizinische Hilfe in Katastrophen- und Konfliktgebieten leistet, und ist nur einer von sechs medizinischen Mitarbeitern der Organisation, die sich nach Angaben des Geschäftsführers von MedGlobal, Joseph Belliveau, weiterhin in israelischer Haft befinden. Zwei weitere Ärzte, zwei Reinigungskräfte, ein Angestellter und ein Krankenpfleger – alle am 26. Oktober in Kamal Adwan verhaftet – befinden sich weiterhin in Haft.
Belliveau sagte in den letzten Tagen, dass MedGlobal mit dem US-Außenministerium, Mitgliedern des Kongresses, der Europäischen Union, den Vereinten Nationen und der israelischen Regierung zusammengearbeitet hat, um die Freilassung von Abu Safiya und anderen MedGlobal-Mitarbeitern zu erreichen.
Israelische Beamte haben bestätigt, dass die Mitarbeiter verhaftet wurden, „aber darüber hinaus herrscht absolutes Schweigen“, so Belliveau. „Wo genau sind sie? Wie sind ihre Bedingungen? Was wirft man ihnen vor? Wie werden sie behandelt? Was kommt als nächstes? Was ist mit einem ordentlichen Verfahren? Nichts.“
Ein weiterer MedGlobal-Arzt verschwand letzten Monat in israelischer Haft und tauchte mit einer Geschichte über die brutale Behandlung durch seine Entführer wieder auf. Am 17. November verhaftete die israelische Armee einen von Abu Safiyas Kollegen des Kamal Adwan Krankenhauses an einem nahe gelegenen Kontrollpunkt. Etwa einen Monat später entließ das israelische Militär den Arzt ohne Erklärung wieder in den Gazastreifen, so Belliveau. Er lehnte es aus Sicherheitsgründen ab, den Namen des Arztes zu nennen.
„Wir konnten auch einige Tage nach seiner Entlassung nicht mit ihm sprechen, weil er so traumatisiert war von dem, was ihm widerfahren war“, berichtet Belliveau. „Während seiner Inhaftierung war der Arzt gezwungen, in einem „Hühnerstall“ im Freien zu leben, wo er der Kälte ausgesetzt war. Außerdem wurde ihm das Essen verweigert und er wurde auch auf andere Weise erniedrigend, gedemütigt und brutal behandelt. Aufgrund seines Zustands haben wir noch immer kein vollständiges Bild“, fährt er fort. „Doch das gibt Ihnen einen Eindruck von der Art der Behandlung, die unseren Kollegen widerfährt, wenn sie inhaftiert werden.“
Der MedGlobal-Arzt war im Ofer-Gefängnis im besetzten Westjordanland inhaftiert, das eine lange Geschichte von Misshandlungen hat. Im Mai starb Dr. Adnan al-Bursh, der Leiter der orthopädischen Abteilung des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt, in Ofer. MenschenrechtsvertreterInnen und Familienangehörige vermuten, dass der Orthopäde an den Folgen von Folter durch israelische Wachen gestorben ist. Seit Beginn der Angriffe auf den Gazastreifen im vergangenen Jahr, die von zahlreichen internationalen Menschenrechtsgruppen und Experten als Völkermord bezeichnet werden, sind mindestens drei palästinensische Ärzte in israelischen Gefängnissen getötet worden.
Ehemalige Gefangene und Wärter des Gefängnisses Sde Teiman, in dem Abu Safiya angeblich festgehalten wird, haben von Folterungen wie sexuellen Übergriffen, Schlägen, Hunger, Schlafentzug und der Verweigerung medizinischer Versorgung berichtet. Gegen israelische Soldaten, die als Wärter in dem Gefängnis dienten, wird derzeit Anklage erhoben, weil sie einen palästinensischen Gefangenen gruppenvergewaltigt haben sollen.
Belliveau sagt, dass AnwältInnen und ÄrztInnen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz das Gefängnis nicht betreten dürfen, um Abu Safiya zu sehen und zu behandeln, was nach humanitären Völkerrecht vorgeschrieben ist.
Das israelische Militär verdächtigt Abu Safiya, ein Hamas-Aktivist zu sein, und behauptet, dass die Hamas von der Einrichtung in Kamal Adwan aus operiert habe, hat aber keine Beweise für diese Behauptungen vorgelegt. Das israelische Militär reagierte nicht auf Bitten um Stellungnahme.
Belliveau, ehemaliger Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Kanada, verteidigt seine Mitarbeiter gegen solche Anschuldigungen und kritisierte das israelische Militär dafür, dass es seine Behauptungen über die Beteiligung der Hamas an medizinischen Einrichtungen nicht belegen kann. Organisationen wie MedGlobal überprüfen alle ihre Mitarbeiter in einem Prozess, so Belliveau, ein Prozess, der auch die israelische Regierung mit einbezieht. Belliveau würdigt die Professionalität und das Durchhaltevermögen derjenigen, die trotz der harten Bedingungen weiterarbeiten.
In den 25 Jahren, in denen er medizinische Hilfe in Konfliktgebieten geleistet hat – unter anderem in Konflikten voller Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht im Irak, im Kongo, im Sudan, im Jemen, in Liberia und in Sierra Leone – sind die Herausforderungen, mit denen er sich in Gaza konfrontiert sieht, um seine Mitarbeiter vor den Angriffen der israelischen Armee zu schützen, beispiellos, so Belliveau.
MedGlobal erwägt, rechtliche Schritte gegen das israelische Militär aufgrund der Inhaftierung von Abu Safiya und anderen medizinischen Mitarbeitern der Organisation einzuleiten. Ärzte ohne Grenzen unternimmt auch rechtliche Schritte innerhalb des israelischen Rechtssystems, um die Freilassung einer ihrer Ärzte, Dr. Mohammed Obeid, zu erwirken, der vor seiner Verhaftung im Oktober als orthopädischer Chirurg in Kamal Adwan Krankenhaus tätig war.
Die jüngste israelische Bodeninvasion im nördlichen Gazastreifen hat Hunderte von Menschen getötet und Tausende von PalästinenserInnen zur Flucht gezwungen. Bombardierungen und Angriffe haben das Gesundheitssystem in der Region lahm gelegt, und die Verwundeten haben Mühe, eine angemessene Versorgung zu finden. Im gesamten Gazastreifen suchen viele Menschen unter winterlichen Bedingungen nach einer Unterkunft, und mindestens fünf Kleinkinder sind bereits in der Kälte erfroren. Humanitäre Hilfe gelangt nur dürftig in den nördlichen Gazastreifen, der weiterhin einer strengen israelischen Blockade unterliegt. Die Vereinten Nationen haben davor gewarnt, dass eine Hungersnot immer wahrscheinlicher wird.
„Diese Grundprinzipien des humanitären Völkerrechts, wonach die Konfliktparteien Maßnahmen zum Schutz medizinischer Einrichtungen ergreifen müssen, sind völlig außer Kraft gesetzt, und wir sprechen von einer völligen Vernichtung medizinischer Einrichtungen“, so Belliveau. „Es ist schwer, das in Worte zu fassen.“
Jonah Valdez ist Reporter bei The Intercept und berichtet über Politik, US-Außenpolitik, Israel und Palästina, Menschenrechtsfragen und Protestbewegungen für soziale Gerechtigkeit.
Lesehinweise:
Mohammed Al-Zaqzouq: Bücher verbrennen in Gaza
Aus dem Arabischen von Sandra Hetzl
https://blnreview.de/ausgaben/2024-12/al-zaqzooq-buecher-verbrennen-in-gaza-lehmoefen
Brasilien: Haftbefehl gegen israelischen Soldaten wegen Kriegsverbrechen in Gaza – Der flieht aus dem Land
Von Julius Jamal, 5. Jänner 2024
https://etosmedia.de/politik/brasilien-richter-erlaesst-haftbefehl-gegen-israelischen-soldaten-wegen-kriegsverbrechen-in-gaza-der-flieht-aus-dem-land/
|

Palästinenser, darunter auch Kinder, werden nach dem israelischen Angriff auf das Haus der Familie Rayhan in Jabalia, Gaza-Stadt, am 7. Januar 2025 zur Behandlung in das Al-Ahli Baptistenkrankenhaus gebracht.
EU-Finanzierung für israelische Technologie wirft neue Fragen über Mitschuld an Völkermord auf
8. Januar 2025 - Übersetzt mit DeepL
Der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) durch Israel, finanziert durch Forschungsprogramme der Europäischen Union, zur gezielten Tötung von Zivilisten hat viel Kritik hervorgerufen. Seit Beginn der israelischen Angriffe auf Gaza am 7. Oktober 2023 hat die EU israelischen Institutionen mehr als 238 Millionen Euro (246 Millionen US-Dollar) für Forschung und Innovation zur Verfügung gestellt. Es wird vermutet, dass diese Gelder die Entwicklung einer KI-gesteuerten „Ortungs- und Tötungstechnologie“ unterstützt haben, die von Israel gegen palästinensische Zivilisten in Gaza eingesetzt wird.
Nozomi Takahashi, Vorstandsmitglied der European Coordination of Committees and Associations for Palestine (ECCAP), sagte der Nachrichtenagentur Anadolu, man sei sich der Vorwürfe bewusst, dass EU-Gelder für KI-Technologien verwendet würden, die gegen Zivilisten gerichtet seien. Takahashi sagte, sie hätten das Thema in Briefen an hochrangige EU-Beamte angesprochen, darunter den ehemaligen EU-Außenbeauftragten Josep Borrell.
Sie verwies auf KI-basierte Systeme, die von der israelischen Armee verwendet werden und die Namen "Habsora" (Das Evangelium), "Lavender" und "Where is Daddy? Sie sagte, dass diese Systeme verwendet werden, um „die Ziele des aktuellen Völkermords in Gaza zu identifizieren, zu lokalisieren und zu töten“.
Takahashi betonte, dass diese Systeme wahllos gegen Zivilisten eingesetzt würden und stellte fest: „Solche außergerichtlichen Tötungen sind nach internationalem Recht verboten. Das Ausmaß und die Häufigkeit, mit der Zivilisten in Gaza durch solche KI-Systeme getötet werden, ist verheerend“.
Der ECCAP-Vertreter hob den besonderen Fokus der EU auf die Entwicklung von KI hervor und sagte, dass auch israelische Forschungseinrichtungen an verschiedenen EU-finanzierten Projekten in diesem Bereich beteiligt seien. Es sei jedoch unmöglich festzustellen, welches EU-finanzierte Projekt den von der israelischen Armee genutzten zugrunde liege, da Vertraulichkeit und Geheimhaltung gewahrt werden müssten. „Das potenziell hohe Risiko, das mit einer solchen Technologie in den Händen einer Regierung mit einer Geschichte von Menschenrechtsverletzungen verbunden ist, sollte uns alarmieren“.
Nur zivile Projekte, fügte Takahashi hinzu, kämen für eine Finanzierung durch das Programm „Horizon Europe“ in Frage. „Die Entwicklung solcher KI-Technologien verwischt die Grenze zwischen zivilen und militärischen Anwendungen.“ Sie kritisierte die EU für ihren „engen Fokus“ bei der Bewertung der Ziele der von ihr finanzierten Projekte, die unzureichend überwacht würden und deren militärisches Nutzungspotenzial übersehen werde.
Takahashi betonte, dass die ethischen Grundsätze von Horizon Europe verlangen, dass die geförderten Projekte „die Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Minderheiten, respektieren“. Die Vorgeschichte der Forschungseinrichtung in Bezug auf militärische Aktivitäten oder Menschenrechtsverletzungen werde bei der Ethikprüfung jedoch „weder hinterfragt noch verlangt“, sagte sie.
Eman Abboud, Dozentin am Trinity College Dublin, sagte, es sei bewiesen, dass EU-Gelder unter dem Deckmantel der zivilen Sicherheit und der technischen Forschung Rüstungsunternehmen finanziert hätten. Sie sagte, die EU sei „schuldig“, die Militärindustrie in Israel - das derzeit vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Völkermordes angeklagt ist - durch ihre Förderprogramme unterstützt zu haben.
„Israelische Unternehmen wie Elbit Systems Ltd. und Israel Aerospace Industries, die von der langjährigen gewaltsamen Unterdrückung und Apartheid in Israel und dem aktuellen Völkermord am palästinensischen Volk profitieren und tief darin verstrickt sind, haben im Rahmen europäischer Förderprogramme Gelder für Sicherheitsforschung erhalten“, sagte Abboud.
Sie kritisierte die Möglichkeit, dass Organisationen, die zu Menschenrechtsverletzungen und zur Untergrabung des humanitären Völkerrechts beitragen, von EU-Geldern profitieren, und sagte: „Die EU hat sich geweigert, ihre Handelsbeziehungen mit Israel abzubrechen oder sie von Horizon Europe auszuschließen“, trotz des laufenden ICJ-Verfahrens gegen den Besatzungsstaat.
Sie verwies auf EU-GLOCTER, ein „Anti-Terror“-Projekt, an dem israelische Institutionen beteiligt sind, und wies auf die Verbindungen zum israelischen Militär und Geheimdienst hin, darunter das International Institute for Counter-Terrorism (ICT) an der Reichman-Universität, das von einem ehemaligen Geheimdienstchef mitbegründet wurde. „Wir müssen verstehen, dass Institutionen wie diese die Mittel bereitstellen, um den Geheimdienstapparat aufzubauen, der dazu dient, bestimmte Zivilisten in Gaza und im Libanon ins Visier zu nehmen. Angesichts der strategischen Doppelnutzung von akademischer und militärischer Forschungsfinanzierung können wir sie nicht voneinander trennen.
Die vom israelischen Militär entwickelte KI-Technologie namens Habsora, die automatisiert und in Echtzeit Ziele generiert, trifft häufig zivile Infrastruktur und Wohngebiete, wobei die Zahl der zivilen Opfer immer im Voraus bekannt ist.
Die Lavender-Technologie analysiert Daten von etwa 2,3 Millionen Menschen in Gaza und bewertet anhand unklarer Kriterien die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mit der palästinensischen Widerstandsgruppe Hamas in Verbindung steht.
Quellen berichteten den in Tel Aviv ansässigen Zeitungen +972 und Local Call, dass das Militär zu Beginn der Angriffe auf Gaza „sich vollständig auf Lavender verließ“ und Männer, die von Lavender markiert worden waren, ohne Überwachung oder spezifische Kriterien automatisch ins Visier nahm. Lavender markierte etwa 37.000 Palästinenser als „Verdächtige“.
Mit dem KI-basierten System „Wo ist Daddy?“ verfolgt Israel Tausende von Menschen gleichzeitig, und wenn sie ihre Häuser betreten, werden die Zielpersonen bombardiert, ohne Rücksicht auf die Anwesenheit von Zivilisten, einschließlich Frauen und Kindern.
Diese KI-Technologien sind dafür bekannt, dass sie häufig Rechenfehler machen und das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ missachten. Sie haben eine wichtige Rolle bei der Tötung von mehr als 45.850 Palästinensern seit dem 7. Oktober 2023 gespielt. Quelle |

Palästina verstehen
Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung „Geschichte und Kultur der Region Palästina“ des Instituts für Arabistik und Islamwissenschaft der Universität Münster, 17.10.2024
Alexander Flores - 17.10.2024
Ich habe diesen Vortrag mit einiger Anmaßung „Palästina verstehen“ genannt. Ich meine natürlich das Palästinaproblem, das man verstehen sollte und das, glaube ich, zu wenig verstanden wird. Wie wichtig dieses Problem ist und wie wenig es verstanden wird, zeigt sich krass seit dem 7. Oktober 2023 und der ungeheuren Aufregung, der enormen emotionalen Aufladung, mit der die Diskussion darum geführt wird, wenn man denn hier von Diskussion überhaupt sprechen will. Oft wird beklagt, dass die israelischen Opfer des Angriffs vom 7. Oktober zu wenig Empathie erfahren haben. Ich habe den Eindruck, dass es da durchaus nicht an Entsetzen über den Angriff und seine terroristischen Züge, also an Empathie für seine israelischen Opfer, gefehlt hat. Das wurde freilich sehr schnell von dem Entsetzen über den israelischen Rachefeldzug überlagert, der noch am Tag des Angriffs begann und seinerseits um ein Vielfaches mehr Kriegsverbrechen beinhaltete als der Angriff selber. Das wurde und wird weithin zur Kenntnis genommen und sorgte auf der israelischen Seite für einen großen Rechtfertigungszwang. Die israelische und proisraelische Propagandamaschine läuft auf vollen Touren. Und hier möchte ich einsetzen, und zwar ohne besondere Berücksichtigung des 7. Oktober, denn dieser hat den Konflikt zwar enorm intensiviert, aber seine Grundkonstellation nicht total verändert. Der 7. Oktober und das, was er ausgelöst hat, haben Vorgeschichte und Kontext. Um diesen Kontext geht es mir hier.
Der Konflikt
Der Palästinakonflikt ist entstanden als Zusammenstoß zwischen der zionistischen Bewegung und den arabischen Palästinensern. Der Zionismus war in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der miserablen und sich verschlechternden Lage der Juden in Europa, besonders in Osteuropa, entstanden. Er war nur eine der möglichen Reaktionen auf diese Lage, nämlich die nationalistische Reaktion, die im Geist des seinerzeit in Europa herrschenden Nationalismus die Gründung eines jüdischen Nationalstaats als Lösung der „Judenfrage“ für geboten hielt. Da ein dafür geeignetes Territorium in Europa nicht existierte, sah man sich anderswo um und verfiel auf Palästina als Zielland. Theodor Herzl formulierte das Programm am klarsten. Es zielte auf jüdische Masseneinwanderung nach Palästina und auf die Gründung eines jüdischen Staats dort ab.
Der Zionismus
Am Ort seiner Entstehung, in Europa, war der Zionismus eine defensive Reaktion auf reale Benachteiligung. Am Ort seiner Realisierung, in Palästina, musste er aber notwendig offensiv werden: Das Land hatte eine einheimische Bevölkerung, und zwar eine so dichte, wie es unter den gegebenen ökonomischen Umständen möglich war, und diese Bevölkerung bestand um 1880 zu mehr als 95% aus Arabern. Palästina war de facto ein arabisches Land. Es in einen jüdischen Staat zu verwandeln, war nur möglich, wenn man die einheimische Bevölkerung vertrieb und/oder unterdrückte. Überdies war das Land seinerzeit Teil des Osmanischen Reichs. Das Projekt konnte also nur verwirklicht werden, wenn entweder die Osmanen oder eine andere in der Region einflussreiche Macht es begünstigten. Das sah Herzl und wirkte energisch darauf hin; zu seinen Lebzeiten aber ganz erfolglos. Auch unter den Juden selbst blieben die Zionisten seinerzeit eine kleine Minderheit.
Der Zionismus sah sich also um 1900 vor großen Schwierigkeiten, die er aber in seiner Propaganda kleinzeichnete. Herzl war sich durchaus bewusst, dass Palästina eine einheimische Bevölkerung hatte, behauptete aber, man könne sie friedlich aus dem Land entfernen. O-Ton Herzl: „Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte expropriieren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jede Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muß ebenso wie die Fortschaffung der Armen mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.“[1]
Herzl wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass das nicht so einfach sein würde. So schrieb ihm 1899 Yusuf Diya al-Khalidi, ein palästinensischer Notabel, einen Brief, in dem er seine Sympathie für die Juden, ja sogar für den Zionismus ausdrückte, aber eindringlich vor dem Versuch warnte, ihn in Palästina zu verwirklichen. Das Land habe bereits eine dichte nichtjüdische Bevölkerung und könne nur unter Blutvergießen von anderen übernommen werden. Er schloss: „Um Gottes willen, man soll Palästina in Ruhe lassen!“[2] Und Ludwig Gumplowicz, ein Soziologe, den Herzl nach seiner Meinung über den Zionismus gefragt hatte, antwortete, ebenfalls 1899: „Und nun Ihre politische Naivität! Sie wollen einen Staat ohne Blutvergießen gründen? Wo haben Sie das gesehen? Ohne Gewalt u. ohne List? So ganz offen u. ehrlich – auf Actien? Gehen Sie und schreiben Sie Gedichte u. Feuilletons … – aber lassen’s mich aus mit Ihrer Politik!“[3] Diese Warnungen blieben ungehört, sollten sich aber als prophetisch erweisen.
Die potentielle Tragweite des durch den Zionismus ausgelösten Problems wurde schon vor dem 1. Weltkrieg gesehen. Ein klarsichtiger Beobachter schrieb 1905:
Zwei wichtige Phänomene von gleicher und doch entgegengesetzter Natur, auf die noch kein Mensch aufmerksam wurde, werden in diesem Augenblick im türkischen Asien erkennbar: das Erwachen der arabischen Nation und die latente Anstrengung der Juden, in einem sehr großen Rahmen das alte Königreich Israel wiederzuerrichten. Diese beiden Bewegungen sind dazu bestimmt, sich solange zu bekämpfen, bis die eine den Sieg über die andere davongetragen hat.[4]
Den meisten erschien der Zionismus seinerzeit als utopische Spinnerei. Er hatte damals keinerlei Chancen auf Realisierung. Das änderte sich aber radikal mit dem 1. Weltkrieg und seinem Ausgang. Großbritannien besiegte das Osmanische Reich und etablierte sich in Palästina als Kolonialmacht (offiziell Mandatsmacht genannt). Es hatte bereits 1917 mit der Balfourdeklaration eine zionismusfreundliche Erklärung abgegeben und begünstigte nach dem Krieg den Aufbau eines von den Zionisten geführten jüdischen Protostaats im Land: Erleichterung jüdischer Einwanderung und jüdischen Bodenkaufs, Einflussmöglichkeiten zionistischer Institutionen bei der Verwaltung, Niederhaltung arabischer Opposition dagegen. Die Balfourdeklaration war nicht aus purer Menschenfreundlichkeit erfolgt, sondern aus britischem Eigeninteresse. Eine Großbritannien verpflichtete jüdische Kolonie erschien in einer wichtigen Weltregion in unmittelbarer Nähe des Suezkanals, einer Hauptschlagader des britischen Weltreichs, als höchst nützlich. Ein hoher Kolonialbeamter sprach in diesem Zusammenhang einmal von einem „kleinen loyalen jüdischen Ulster“.[5] Der Zionismus bzw. später Israel war nicht nur auf eine Schutzmacht existentiell angewiesen, sondern konnte dieser etwas anbieten: militärische Schlagkraft in ihrem Dienst in einer wichtigen, aber als potentiell feindlich gesehenen Region, also als eine Art Wachhund, manchmal spricht man auch von einem unsinkbaren Flugzeugträger.
Die Entwicklung unter dem Mandat
Was tat sich nun unter dem britischen Mandat über Palästina? Die selbstgesetzte Aufgabe der Zionisten war anspruchsvoll: jüdische Masseneinwanderung nach Palästina und Errichtung eines jüdischen Staats dort. Obwohl sie jetzt das Wohlwollen der britischen Kolonialmacht in Gestalt der Balfour-Politik hatten, waren sie davon noch weit entfernt. 1918 machten Juden erst etwa 10% der Bevölkerung aus, und einen Staat hatte Großbritannien den Zionisten nicht versprochen. Sie mussten also den Status quo radikal verändern, und das hieß, sie mussten offensiv, proaktiv vorgehen, und zwar notwendig, wenn sie ihr Ziel erreichen wollten. Das konnte nicht ohne großen Schaden für die arabische Bevölkerung des Landes abgehen. Der Plan wurde realisiert, der Schaden trat ein, die Palästinenser und anderen Araber lehnten das ab und leisteten, wo sie konnten, Widerstand dagegen. Ihnen das vorzuwerfen und diese Weigerung sowie diesen Widerstand als konfliktbegründenden Faktor anzusehen, nicht aber das Projekt, das den Widerstand erst auslöste, ist eine groteske Verzerrung der historischen Wahrheit.
Zu jener Zeit, also in der frühen Mandatszeit, leugneten manche Zionisten für den internationalen Konsum, dass sie auf einen Staat hinauswollten. Das war vor allem die Aufgabe des seinerzeitigen Führers der zionistischen Bewegung, Chaim Weizmanns. Intern hielt man an den Zielen fest, und das blieb den Palästinensern nicht verborgen. Im Gegensatz zu Weizmanns beschwichtigenden Versicherungen sprach der Führer der Revisionisten, d.h. der maximalistischen Richtung der Zionisten, Zeev Jabotinsky, offen aus, was sich aus der Verwirklichung des zionistischen Programms ergab: Ablehnung und Widerstand der Palästinenser und die Notwendigkeit, sie gewaltsam zu brechen:
Jedes Volk kämpft gegen die Kolonisation, so lange es noch die geringste Hoffnung hat, sich von der Gefahr der Kolonisation zu befreien. … Die zionistische Kolonisation muß man entweder einstellen oder sie gegen den Willen der einheimischen Bevölkerung weiterführen. Sie kann daher nur unter dem Schutze einer von der einheimischen Bevölkerung unabhängigen Macht – einer eisernen Wand – die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann, weitergeführt und entwickelt werden. … Wozu die Balfourdeklaration? Wozu das Mandat? Ihr Sinn und Bedeutung besteht für uns darin, daß eine fremde Macht sich verpflichtet hat, solche Verwaltungs- und Sicherheitsverhältnisse im Lande zu schaffen, daß der einheimischen Bevölkerung ohne Rücksicht auf ihre Wünsche die Möglichkeit genommen wäre, die jüdische Kolonisation administrativ oder politisch zu verhindern.[6]
Eine Seitenbemerkung: Jabotinsky und seine Bewegung waren lange Zeit eine extremistische, vielfach verteufelte Minderheit im Zionismus, aber an dieses Rezept – die eiserne Wand – hielten sich die Zionisten, lange Zeit unter Führung von Ben Gurion.
Der Artikel von Jabotinsky wurde 1923 geschrieben, als die Zionisten in Palästina noch nicht über nennenswerte eigene Machtinstrumente verfügten. Die „eiserne Wand“, von der Jabotinsky sprach, waren in dieser Situation die britischen Bajonette. Großbritannien ermöglichte den zionistischen Aufbau nicht nur durch die rechtliche und administrative Erleichterung jüdischer Einwanderung und Ansiedlung, sondern auch durch die Unterdrückung des arabischen Widerstands, wenn er sich gewaltsam äußerte, am spektakulärsten in der brutalen Niederschlagung des arabischen Aufstands von 1936 bis 1939. Großbritannien – damals immerhin noch das weltweit bedeutendste Imperium, wenn auch im Niedergang – brachte dazu großen militärischen Nachschub ins Land und wandte schärfste Unterdrückungsmaßnahmen an, um den Widerstand zu brechen. Alles das zeigte, dass die Zionisten in Großbritannien den starken Bundesgenossen hatten, den sie brauchten – jedenfalls bis 1939.
Das zionistische Projekt konnte sich unter dem Schutzschild des britischen Mandats erheblich ausweiten. Die Zahl der Juden in Palästina stieg von 57.000 im Jahr 1919 auf 608.000 Ende 1946 an; der jüdische Landbesitz betrug vor 1920 ca. 650 km2, Ende 1946 waren es 1.624 km2. Diese enorm dynamische Entwicklung war zum großen Teil den zionistischen Anstrengungen selbst (und natürlich den Vorgängen in Europa, die immer mehr Juden nach Palästina trieben) geschuldet; ohne die von den Mandatsbehörden garantierten Rahmenbedingungen wäre sie aber nicht möglich gewesen. Zwischen den Kriegen verfügten die Zionisten nicht über nennenswerte eigene Machtinstrumente; diese entwickelten sich erst allmählich. Sie waren also auf den Schutz der Briten existentiell angewiesen.
Exkurs: Israel als europäische Siedlungskolonie
Das führt mich zu einem Exkurs zum kolonialen Charakter des zionistischen Projekts bzw. Israels. Israel ist entstanden als europäische Siedlungskolonie; es ist immer noch eine. Der Zionismus entsprang ausschließlich europäischen Umständen; die zionistischen Siedler kamen bis zur Gründung des Staats fast ausschließlich aus Europa; und das Unternehmen konnte in Palästina nur Fuß fassen im Zuge der europäischen kolonialen Expansion. Unter der osmanischen Herrschaft hatte es keinerlei Realisierungschancen; ein arabischer Nationalstaat hätte seine Entstehung mit Sicherheit verhindert. Nur das Intermezzo der britischen Herrschaft gestattete ihm die Einpflanzung in Palästina, weil die Briten es eben begünstigten – Stichwort Balfourdeklaration. Nun war dies aber keine Siedlungskolonie zwecks Ausbeutung der Einheimischen wie etwa in Algerien oder Südafrika, sondern die Ansiedlung von Juden selbst war der Zweck, vergleichbar mit den Siedlungskolonien in den USA, Australien oder Neuseeland. Die Einheimischen waren dabei im Weg und sollten nach Möglichkeit physisch, auf jeden Fall aber als Störfaktor ausgeschaltet werden. Übrigens hatten die Zionisten selbst lange Zeit überhaupt keine Bedenken, ihr Werk als Kolonisation zu bezeichnen (siehe oben Jabotinsky) und sich als Teil der kolonialen Expansion Europas zu sehen. Schon Herzl hatte angekündigt, der von ihm vorgeschlagene Judenstaat werde „den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.“[7] Erst später, als der Kolonialismus immer unpopulärer wurde, leugnete man diesen Charakter. Israel ist also eine europäische Siedlungskolonie, die einzige derzeit noch aktive Siedlungskolonie, denn wie man in letzter Zeit verstärkt wahrnimmt, geht die Siedlungstätigkeit munter weiter. Übrigens beinhaltet das alles noch keine Wertung, sondern ist einfach Tatsachenfeststellung.
Eine neue Wende: 1948 und die Nakba
Zurück zur geschichtlichen Entwicklung unter dem Mandat bzw. am Ende des Mandats. Großbritannien hatte das Wachstum des zionistischen Projekts ermöglicht und geschützt; 1939 verabschiedete es sich aber unter dem Eindruck des arabischen Aufstands von seiner einseitig prozionistischen Politik. Die Zionisten orientierten sich jetzt stärker auf die USA als Schutzherrn; gleichzeitig ließen sie jede programmatische Zurückhaltung fallen und strebten offen die Unabhängigkeit Palästinas als jüdischer Staat an. Nach dem 2. Weltkrieg fühlten sie sich stark genug, dieses Programm in die Tat umzusetzen. Sie wandten sich auch militärisch gegen Großbritannien, um dessen Rückzug vom Palästinamandat zu beschleunigen, und nutzten die UN-Teilungsresolution vom November 1947 dazu, in einem Krieg gegen die Palästinenser und die arabischen Interventionsarmeen ein eigenes Territorium zu erobern und den Staat Israel zu gründen und zu erweitern. In diesem Zug kam es dann auch zu der bisher größten Katastrophe der palästinensischen nationalen Existenz, zur Nakba.
Die Nakba war die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gebiet, das dann der Staat Israel werden sollte. Diese Vertreibung, euphemistisch meist Transfer genannt, war Teil der zionistischen Pläne von Anfang an. Schon Herzl hatte sie ins Auge gefasst; seit den 1930er Jahren wurde sie intensiv diskutiert. Es war klar, dass das zionistische Unternehmen umso leichter werden würde, je weniger Araber im Land blieben. 1937 schrieb Ben Gurion in einem Brief an seinen Sohn Amos: „Wir müssen Araber vertreiben und ihren Platz einnehmen“.[8] Die Idee der Vertreibung war integraler Bestandteil des zionistischen Denkens. Im ersten israelisch-arabischen Krieg von 1947 bis 1949 bot sich die Gelegenheit, sie in großem Umfang durchzuführen. Das geschah mit den verschiedensten Mitteln, oft als regelrechte physische Vertreibung. Massaker größten Ausmaßes und enormer Grausamkeit der Durchführung spielten dabei eine große Rolle.
Von den etwa 900.000 Arabern, die vor dem Krieg auf dem Gebiet lebten, das dann der Staat Israel wurde, waren nach dem Krieg nur noch etwa 150.000 da. Es waren also ungefähr 750.000 Leute vertrieben worden, weit mehr als die Hälfte der arabischen Bevölkerung Gesamtpalästinas. Israel weigerte sich strikt, sie zurückkehren zu lassen, obwohl eine UN-Resolution es dazu aufforderte. Das war ein großes historisches Unrecht. Israel versuchte die Verantwortung für dieses Unrecht von sich abzuwälzen, indem es völlig falsche Darstellungen der Ereignisse verbreitete: Die Araber seien nicht vertrieben worden, sondern auf Befehl ihrer Führer weggelaufen, und ähnliche irreführende Behauptungen, die in der seriösen historischen Literatur längst widerlegt sind, aber gleichwohl von israelischen Propagandisten immer noch unter die Leute gebracht werden.
Die palästinensische Gesellschaft wurde 1948 völlig zerstört. Die in Israel verbliebenen Palästinenser erhielten zwar die Staatsbürgerschaft, wurden aber einem Militärregime unterworfen und scharf diskriminiert. Das Militärregime wurde 1966 aufgehoben; die scharfe Diskriminierung besteht immer noch. Die Bewohner der 1948 nicht von Israel eingenommenen Gebiete, Westbank und Gazastreifen, waren nun vom übrigen Land abgeschnitten, die Vertriebenen weit zerstreut. Kein Teil der palästinensischen Bevölkerung erhielt nationale Selbstbestimmung.
Die Besatzung von 1967
Das war die Situation nach 1948. Eine neue Verschiebung der Konfliktkonstellation ergab sich durch den Junikrieg 1967, in dem mit der Westbank und dem Gazastreifen neben anderen arabischen Gebieten das ganze Restpalästina israelisch besetzt wurde. Auch hier wieder wurden viele Leute vertrieben, aber das Gros der Bevölkerung blieb. Seitdem sind also von den drei großen Teilen der Palästinenser, denen in Israel, denen in den 1967 besetzten Gebieten und der Flüchtlingsbevölkerung außerhalb Palästinas, zwei unter israelischer Kontrolle, was die Konfliktlage nicht vereinfacht.
Diese Situation dauert nun seit 57 Jahren an. Sie ist nicht statisch, sondern beinhaltet ständig weitergehende Prozesse der Besiedlung, der Landenteignung, der Einzwängung und der scharfen politischen und militärischen Unterdrückung der Bewohner der 1967 besetzten Gebiete, alles das eine Kette von gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Ich will darauf jetzt nicht im Einzelnen eingehen; die minutiöse Dokumentation alles dessen umfasst inzwischen Bibliotheken. Neulich hat ja auch der Internationale Gerichtshof bekräftigt, dass die israelische Besatzung völkerrechtlich illegal ist, und ihre sofortige Beendigung gefordert.
Die großen Linien des Konflikts
Ich möchte noch einmal die großen Linien des Konflikts kurz anreißen. Da war der Zionismus, ein eminent europäisches Phänomen, entstanden aufgrund der prekären Situation der Juden in Europa. Er war die durchaus verständliche Reaktion einer jüdischen Minderheit auf diese Situation, hatte aber am Ort seiner Realisierung, der eben nicht in Europa lag, fatale Konsequenzen: 1. Den Umstand, dass er sich aus geopolitischen Gründen in die imperialen Bestrebungen der europäischen Kolonialmächte einpassen musste. 2. Die Tatsache, dass er aufgrund seiner eigenen Zielsetzung und der Gegebenheiten im Land in einen diametralen Gegensatz zur einheimischen Bevölkerung geriet, und 3. Den enormen Egoismus der Bewegung, die ihre eigenen Interessen rücksichtslos verfolgte. Aus alldem erwuchs die Schärfe der Auseinandersetzung zwischen der zionistischen Bewegung und den palästinensischen Arabern.
Die Palästinenser wurden von den Zionisten durchaus als Gegner wahrgenommen, aber unterschätzt. Auch die britische Mandatsmacht hatte die Palästinenser unterschätzt und zu Beginn des Mandats angenommen, sie würden sich letzten Endes mit dem zionistischen Aufbau im Land abfinden. Diese Unterschätzung war ein Irrtum. Die Palästinenser waren gegenüber den Zionisten und ihren mächtigen Bundesgenossen schwach, aber sie lehnten das zionistische Projekt ab und bekämpften es mit den verschiedensten Mitteln, darunter auch mit Gewalt. Die Zionisten wiederum bekämpften die Palästinenser. Der palästinensische Historiker Rashid Khalidi liest die Geschichte des Landes seit 100 Jahren als einen fortwährenden Krieg der Zionisten bzw. Israels gegen die Palästinenser in einem neueren Buch, das ich nur dringend empfehlen kann: „Der hundertjährige Krieg um Palästina“.[9]
Dieser andauernde Krieg beinhaltet enormes historisches Unrecht gegenüber den Palästinensern, große Scheußlichkeiten und Massaker eingeschlossen, die man plastisch beschreiben könnte. Aber von den spektakulären Ungerechtigkeiten, die ja manchmal in die Presse kommen, ganz abgesehen: Noch wichtiger sind die alltäglichen Demütigungen und Schikanen, von denen ausnahmslos alle Bewohner der besetzten Gebiete betroffen sind, und in etwas anderer Form auch die Palästinenser in Israel selbst. Man kann das auch den alltäglichen Rassismus nennen. Ich gehe darauf hier nicht weiter ein, weise aber auf ein anderes Buch hin, das vor kurzer Zeit erschienen ist und in dem einige Aspekte dieses Rassismus beschrieben sind: „Was befürchtet Israel von Palästina“ von Raja Shehadeh.[10]
Ich habe eben das zionistische Unternehmen als einen Fall von europäischem Siedlerkolonialismus beschrieben. Es unterscheidet sich aber von vergleichbaren Fällen dadurch, dass es spät kam. In den USA, Australien und Neuseeland gelang es den Siedlern, die einheimische Bevölkerung entweder auszurotten oder so stark politisch und kulturell zu pulverisieren, dass sie zu nennenswertem Widerstand nicht mehr in der Lage war. Die Palästinenser wurden zwar vertrieben, in mehrere Gruppen zerstreut, hart unterdrückt und immer wieder mit Militärkampagnen überzogen, aber sie haben seit langer Zeit nationalistische Bestrebungen entwickelt, sie sind noch da, wollen dableiben und zumindest in Teilen Widerstand leisten. Sie haben auch einen zumindest kulturellen Rückhalt in den anderen Arabern. Sie konnten also als nennenswerter Faktor nicht ausgeschaltet werden, so sehr die israelische Führung das auch anstrebt (und ihrer eigenen Bevölkerung suggeriert). Israel ist ja am Land interessiert, mit so wenigen Palästinensern wie möglich. Es gibt seit langem die israelische Politik, die Palästinenser auf einem möglichst kleinen Teil des Landes zusammenzudrängen und sie in Botmäßigkeit zu terrorisieren. So sind die immer wiederholten Militärkampagnen in der Westbank und im Gazastreifen zu erklären – schon vor dem 7. Oktober. Ein israelischer Militärführer sagte einmal: „Man muss den Palästinensern bis in ihre letzte Gehirnwindung einbrennen, dass sie ein geschlagenes Volk sind“.[11] Diese Politik war nicht erfolgreich. Sicher sind die Palästinenser schwach, aber ein geschlagenes Volk sind sie nicht.
Als vorläufige Bilanz halte ich fest: Die Vorgeschichte Israels und seine Geschichte seitdem haben eine koloniale Situation entstehen lassen, eine Unterordnung der arabischen Palästinenser unter die jüdischen Israelis, die drei Aspekte hat: die Vertreibung der meisten Palästinenser 1948 und die israelische Totalverweigerung, sie zurückkehren zu lassen, die Struktur des Staats, die scharfe ethnische Diskriminierung beinhaltet, und die seit 1967 andauernde Besatzung weiterer arabischer Territorien, deren Bewohner praktisch überhaupt keine Rechte haben. In keinem dieser Punkte scheint Israel Anstalten zu machen, diese koloniale Situation zu beenden, und sei es partiell und allmählich.
Alternative Szenarien?
War das alles unvermeidlich? Gab es nicht historische Momente, in denen die Option für andere Verhaltensweisen andere, weniger mörderische Ergebnisse hervorgebracht hätte? Gar Chancen auf friedliche Lösungen bestanden? Wie bei allen historischen Prozessen gab es solche Momente – Kreuzwege könnte man sie nennen – hier zweifellos. Sie wurden nicht in eine heilsame Richtung genommen; vielmehr schlug man solche Wege ein, die die Situation beinahe jedes Mal verfahrener machten, bis wir bei der heutigen, hoffnungslos verfahrenen Situation gelandet sind. Die Verantwortung dafür liegt bei den Zionisten bzw. bei Israel, die zweifellos die stärkere, die proaktive Konfliktpartei waren und sind, während die Palästinenser weitgehend nur reagierten.
Einer der angedeuteten Kreuzwege, vielleicht der prominenteste, war der sog. Oslo-Prozess, d.h. die israelisch-palästinensische Einigung von 1993, in der sich Israel und die PLO gegenseitig anerkannten und den Palästinensern eine Art von Selbstverwaltung in Westbank und Gaza in Aussicht gestellt wurde. Diese Sache ging bekanntlich schief. Sie krankte von vornherein daran, dass Israel sich weder mit einem palästinensischen Staat einverstanden erklärte noch den in großem Umfang weitergehenden Siedlungsbau stoppte, dass also die Besatzung praktisch andauerte, während die PLO ihr Recht auf Widerstand gegen die Besatzung preisgab. In die dadurch gerissene Lücke stieß dann Hamas, mit all den bekannten Folgen.
Warum das alles? Warum ergriff Israel nicht die goldene Gelegenheit des Oslo-Moments, der ja ein bemerkenswertes Friedensangebot der Palästinenser beinhaltete? Das ist auch die Frage von Raja Shehadeh in dem schon genannten Buch. Er beantwortet sie, knapp angedeutet, so: Maßgebliche israelische Politiker waren nach 1967 davon überzeugt, man habe nun ganz Palästina in der Hand und brauche nichts davon wieder herzugeben. Israel war schlicht unwillig, das Land mit einem anderen Volk zu teilen. Die israelischen Rüstungsproduzenten vermarkten ihre Produkte mit dem Hinweis, sie seien an der Palästinensern ausprobiert, und das geht natürlich besser bei fortgesetztem Krieg. In Israel sind messianische Kräfte erstarkt, die sich auf Gottes Landverheißung berufen. Und schließlich war man weithin davon überzeugt, dass die Palästinenser als Störfaktor ausgeschaltet sind und man ihnen daher nicht entgegenkommen muss.
Israel war also gegenüber den Palästinensern in einer starken Position und nutzte diese Stärke bis zum Letzten aus, indem es das ganze Land unter seine Kontrolle nahm, die Palästinenser aus dem Land verdrängte und diejenigen, die es nicht vertreiben konnte, ausgrenzte und auf einem möglichst kleinen Teil des Landes zusammendrängte – ganz extrem im Gazastreifen, aber auch in der Westbank werden sie vertrieben bzw. zusammengepfercht. Und: Die Welt gestattet Israel dieses Verhalten. Nehmen wir nur als Beispiel die USA, Israels engsten Verbündeten, der als einzige Macht Israel im Alleingang zu etwas zwingen könnte. Sie bekennen sich seit langem zu einer Zwei-Staaten-Lösung, sie sprechen sich offiziell gegen den Siedlungsbau aus, aber sie haben nie auch nur den kleinen Finger gerührt, diese Position praktisch umzusetzen, sondern sie haben Israel sein Verhalten, das dem diametral entgegengesetzt ist, durchgehen lassen, ja es finanziell, militärisch und politisch unterstützt. Für wichtige europäische Staaten gilt grosso modo das Gleiche. Warum diese Staaten das tun, ist Gegenstand heftiger Kontroversen; ich begnüge mich hier mit der Feststellung. Alles das wird ja heftig kritisiert und in Frage gestellt; eine wesentliche Änderung dieser Konstellation steht aber kurzfristig nicht in Aussicht.
Auswege?
Oft wird gefragt, was denn ein Ausweg aus dieser Situation sein könnte, die furchtbares Leid und wiederholte Kriege mit sich bringt, im Moment mehr als je. Gibt es Lösungen? Die Zwei-Staaten-Lösung? Eine Ein-Staaten-Lösung, also einen Staat auf dem gesamten Territorium Israel/Palästina mit gleichen Rechten für alle seine Bevölkerungsteile? Irgendeine andere Patentlösung? Ich fürchte, auf diese Fragen habe ich keine Antwort. Ich bilde mir ein, ich kann einigermaßen sagen, wie die Dinge bis hierher gekommen sind. Wie sie sich weiterentwickeln werden, kann ich nicht sagen; schon gar nicht bei der schieren Verrücktheit der Regierung Netanyahu. Eine Zwei-Staaten-Lösung, so oft und gern sie auch in letzter Zeit wieder beschworen wird, erscheint ausgeschlossen. Die Rahmenbedingungen dafür sind gründlich zerstört, außerdem dürften ihre Befürworter, soweit es sich um Staaten handelt, auch nicht stärker als bisher bereit sein, sich tatkräftig für sie einzusetzen. Eine Ein-Staaten-Regelung erscheint mir noch weniger realistisch. Grundsätzlich ist das eine schöne und moralische Vorstellung – wer könnte etwas gegen One Man One Vote haben? Aber wer will nach allem, was passiert ist, den Leuten vor Ort die Koexistenz mit der jeweils anderen Bevölkerung schmackhaft machen? Und zwar bei beiden großen Gruppen im Land, jüdischen Israelis wie Palästinensern.
Im Hinblick auf die Propagierung von Lösungsmöglichkeiten rate ich also Bescheidenheit an. Was wir freilich von außen tun können und sollten, ist die Denunziation des bestehenden Unrechts und die Erhebung entsprechender Forderungen: Beendigung der Besatzung, Beendigung des andauernden Gemetzels. Was die Qualität möglicher Lösungen angeht, scheinen mir zwei Desiderate dringend: Sicherung der Anerkennung der beiden großen nationalen Gruppen im Land, der arabischen Palästinenser und der jüdischen Israelis, und ihrer gegenseitigen Tolerierung und Sicherung der völligen individuellen und kollektiven Gleichheit der Menschen im Land.
Ein Aufruf
Ich habe eben von Kreuzwegen gesprochen, von historischen Momenten, in denen alternative Verhaltensweisen offenstanden. Ein solcher Moment war die Situation nach dem israelischen Sieg von 1967 mit der Eroberung von Westbank und Gazastreifen. Damals gab es in Israel einen großen Siegestaumel, aber es gab auch Stimmen, die eindringlich zum Rückzug aus diesen Gebieten aufriefen und vor fortgesetzter Besatzung warnten. Eine der frühesten und klarsten war die Anzeige, die einige Personen am 22. September 1967 in der israelischen Zeitung Haaretz schalteten. Da hieß es:
Besatzung führt zu Fremdherrschaft. Fremdherrschaft führt zu Widerstand. Widerstand führt zu Unterdrückung. Unterdrückung führt zu Terror und Gegenterror. Die Opfer des Terrors sind in der Regel unschuldige Menschen. Das Behalten der besetzten Gebiete wird uns in ein Volk von Mördern und Ermordeten verwandeln. Verlassen wir die besetzten Gebiete sofort![12]
Es hat wohl kaum je einen prophetischeren Text gegeben. Wie viel Blutvergießen hätte vermieden werden können, hätten die Regierenden in Israel diesen Rat befolgt!
Die Unterzeichner dieser Anzeige waren zum großen Teil Mitglieder und Sympathisanten der Sozialistischen Organisation in Israel, meist einfach „Matzpen“ genannt. Sie war nicht nur sozialistisch, sondern antizionistisch. Dieser Organisation, die seit langem nicht mehr besteht, deren literarisches Erbe aber lebendig ist, verdanken wir viele Texte von außerordentlicher Klarheit und analytischem Wert zum Verständnis des Konflikts. Enden möchte ich mit einer weiteren Buchempfehlung. Sie betrifft das Buch „Israelis und Palästinenser – Konflikt und Lösung“[13] von Moshé Machover, einem der Gründer und dem wohl wichtigsten Theoretiker von Matzpen. Dieses Buch ist eine Sammlung sehr aufschlussreicher Texte, vielleicht am wichtigsten der gleichnamige Aufsatz, ursprünglich eine Vorlesung an der Londoner SOAS. Ich persönlich halte dies für das wichtigste Buch, wenn man den Konflikt wirklich verstehen will. Leider ist der Verlag der deutschen Ausgabe neulich pleite gegangen, aber soweit ich feststellen konnte, gibt es immer noch ein e-book für lächerliche 9 Euro.
[1] Theodor Herzl, Tagebuecher, Erster Band (= ders., Gesammelte zionistische Werke Bd. 2), Berlin: Jüdischer Verlag 1922, 98
[2] Zit. nach Rashid Khalidi, Der Hundertjährige Krieg u Palästina. Eine Geschichte von Siedlerkolpnialismus und Widerstand, Zürich: Unionsverlag 2024, 13
[3] Ludwig Gumplowicz, Brief an Herzl, 12.12.1899, in: Theoder Herzl, Biefe Anfang Dezember 1898 – Mitte August 1900, Frankfurt/M./Berlin: Propyläen 1991, 602
[4] Negib Azoury, zit. nach H. Spehl, Spätfolgen einer Kleinbürgerinitiative, Bd.2, Freiburg: Eigenverlag 1979, 200
[5] Ronald Storrs, Orientations, London: Readers Union Ltd 1939, 358
[6] Wladimir Jabotinsky, Die eiserne Wand (Wir und die Araber), in: Menorah (Wien), 1. Jg., 1923, H. 5, S. 2
[7] Theodor Herzl, Der Judenstaat, in: ders., Zionistische Schriften, Berlin: Jüdischer Verlag 1934, 45
[8] Ben-Gurion, Brief an seinen Sohn Amos, 5.10.1937, in: Journal of Palestine Studies, Winter 2012, 251ff.
[10] Raja Shehadeh, Was befürchtet Israel von Palästina? Von der Hoffnung auf einen gerechten Frieden, Neu-Isenburg: Westend 2024
[11] Moshe Yaalon, zit. nach Alexander Flores, Der Palästinakonflikt, Freiburg: Herder 2009, 115
[12] Zit. nach Lutz Fiedler, Matzpen. Eine andere israelische Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 141
[13] Moshe Machover, Israelis und Palästinenser – Konflikt und Lösung, Hamburg: Laika 2013
|
Archiv
Ältere Seiten ab dem 18.4.2009 finden Sie im Web Archiv >>>
|