Am Vorabend der
Zerstörung
Ein Interview mit Avraham
Burg
Avi Shavit,
Haaretz, 14.11.03
(siehe zuerst: Avraham Burg, Die Zionistische Revolution ist tot,
Auf
einmal erscheint zum Ende des Sommers die israelische Linke wieder-
nachdem sie drei Jahre lang geschlafen hat. Nach drei Jahren Schock,
Lähmung und dem Verlust ihres Weges erwacht nach dem Zusammenbruch der
Hudna (Waffenstillstand) die israelische Linke zu neuem Leben.
Auch
Avraham (Avrum) Burg erwacht zu neuem Leben. Zwei Jahre nachdem er den
Kampf um die Führung der Laborpartei verloren hat, und ein halbes Jahr,
nachdem er die angenehme Position des Knessetsprechers verloren hat,
wachte Burg an einem Augustmorgen auf, hatte im Morgendämmern ein Gespräch
mit seiner Frau Yael, einer Radikalen, und entschied, dass es unmöglich
sei, so weiterzumachen wie bisher. Es muss etwas getan, ja es muss etwas
gesagt werden. Es war Zeit, die Welt aufzurütteln. Um halb sechs ging er
in sein Büro, von dem er auf die Judäischen Hügel blicken kann. Innerhalb
einer knappen Stunde tippte er in seinen Laptop 1000 Wörter, die in der
jüdisch-zionistischen Welt im Laufe des nächsten Monats für Furore sorgte.
Der
hebräische Artikel wurde mit „Zionismus jetzt“ überschrieben. Auf
Englisch ( im Forward, 29.August 2003 und in International Herald Tribune,
6.September 2003) hieß der Titel „ Eine verfehlte israelische Gesellschaft
bricht zusammen“. Auch im Französischen und Deutschen konnte man eine
außerordentlich harte Anklage gegenüber dem zionistischen Staat lesen, die
von jemandem geschrieben war, der bis vor noch nicht langer Zeit die
zionistische Bewegung anführte.
Er
ist ein sehr tatkräftiger Bursche, der Avrum. Mit 48 ist er leichtfüßig
und zuweilen auch zerstreut ( light of foot and sometimes light of mind)
und ein wenig hyperaktiv. Er nimmt schnell auf und reagiert mit schnellen
Antworten. Er besitzt viel vom Charme israelischer Gradheit. Er ist ein
sprachgewandter Politiker mit bissigen Schlagworten. In der Vergangenheit
halfen ihm die Schlagworte, den Weg in die oberste Etage des israelischen
Establishments, in die Mitte der satten Elite, zu ebnen, die sich ein
wenig nach links vom Zentrum neigt. Seine Schlagworte sind scharf und nun
fast apokalyptisch. Es sind die Schlagworte von jemandem, der von der
Machtetage nun zur Protestetage kommt, von der politischen zur moralischen
, aus der Grauzone zum Licht, das kein Argument verträgt.
Will
er die harschen Dinge, die er gesagt hat, zurückziehen? Beunruhigt ihn,
dass hartnäckige Israelhasser seine Bemerkungen missbrauchen. Nicht im
geringsten. Während er im angenehmen Wohnraum seines Hauses in Nataf
sitzt, sagt Burg, dass er wie nie zuvor mit sich im Reinen ist. Erst jetzt
wird ihm klar, wie wenig er die Person mochte, die er innerhalb des
politischen Mahlwerks geworden ist. Erst jetzt versteht er, dass die
aufgeplusterten, herrschenden Kreise, die ihn verhätschelten , ihn auch
moralisch abstumpfen ließen und ihn von sich selbst distanzierten. Jetzt
überkommt ihn ein Gefühl großer innerer Ruhe, ein Gefühl von Frieden. Und
er wird weiter die harten Dinge sagen, die er über Israel, ohne zu zögern
oder zurückzuschrecken, aussprach – mit einem Lächeln auf den Lippen.
Ihr
Artikel sorgt in der jüdischen Welt für Furore. Viele Leute hatten das
Gefühl, dass der frühere Vorsitzende der Zionistischen Bewegung die rote
Linie überschritten hat und ein Post-Zionist geworden ist.
Burg:
„Selbst als ich der Vorsitzende der zionistischen Bewegung war, war ich
nicht in der Lage zu sagen, was ein Zionist und was ein Post-Zionist ist.
Meine Weltanschauung erlaubt mir nicht, die Orthodoxie zu akzeptieren,
weder die jüdische noch die zionistische. Falls Zionismus deshalb heute
Groß-Israel bedeutet, dann bin ich nicht nur ein Post-Zionist, sondern ein
Anti-Zionist. Falls Zionismus Netzarim und Kiryat-Arba bedeutet, dann bin
ich ein Anti-Zionist. Ich akzeptiere nicht die Art von Zionismus, die das
Judentum mit all seiner wunderbaren Schönheit nimmt und es in einen Kult
von Bäumen und Steinen verwandelt. Wenn ich heute um mich schaue, dann
habe ich das Gefühl, dass Netzarim zu einem Altar, Gott zu einem Moloch
und unsere Kinder zu Opfern geworden sind, menschliche Opfer eines
schrecklichen Götzendienstes.“
Interview:
In Ihrem Artikel beschreiben Sie Israel als einen dunklen und grausamen,
nationalistischen Staat. Haben sie das Gefühl, dass Israel im Begriff ist,
ein neues Süd-Afrika zu werden? Dass die Israelis die neuen weißen
Afrikaner sind?
„Wir
leben in einem Land, das sich in einem Prozess des moralischen Verfalls
befindet. Was mir am meisten Angst macht, ist, dass wir nicht merken, dass
wir solch einen Prozess durchmachen. Ohne dies zu beachten, entfernen wir
uns dauernd von uns selbst, hier ein wenig und dort ein wenig – immer
weiter von dem Ort, an dem wir waren. Plötzlich greift ein F16
Kampfflieger ein Gebäude an, in dem unschuldige Leute leben – und einige
Armeebefehlshaber sagen, dass sie trotzdem gut schlafen könnten. Was
geschieht, ist folgendes: wir nähern uns immer mehr unsern Feinden an. Wir
verlieren das Gefühl und die Sensibilität, die unser Gewissen war.
„In
den Straßen unserer Stadt sehe ich Slogans: Tod den Arabern!, die unsere
Stadtbehörden nicht mehr entfernen. Ich sehe schreckliche Graffiti –
rassistische und kahanistische – die wir lässig akzeptieren. Wir bemerken
sie nicht einmal mehr. Der krebsartige Prozess verschlingt uns. Die durch
die Siedler und den rechten Flügel pervertierte zionistische Form hat
schließlich jeden Teil unseres Lebens erreicht und keinen Raum
übriggelassen, der nicht vom nationalistischen Bewusstsein erfüllt ist.
Wenn sich nicht unsere letzten gesunden Zellen erheben und sich gegen den
Virus auflehnen, werden wir nicht länger existieren. Wir werden einfach
aufhören zu existieren.“
Ist es schon so weit? Sehen Sie einen Prozess der Zerstörung? Glaubt der
frühere Vorsitzende der Zionistischen Bewegung wirklich, dass der
Zionismus tot ist?
„Der
augenblickliche Weg führt uns dorthin. Wir mögen vielleicht Israelis
bleiben oder Juden. Aber wir werden keine Zionisten sein, die den
Zionismus fortführen, die den Staat gründeten.
Nur
zwei einfache Beispiele: Passt der Staat in die Konturen, die Theodor
Herzl ins Auge gefasst hatte? Nein. Erfüllt der Staat Israel noch die
Kriterien und Werte, von denen in der Unabhängigkeitserklärung die Rede
ist? Nein. Das ist die Wahrheit. Das ist die Grundwahrheit, von der wir
uns in den vergangenen 35 Jahre entfernt haben.“
In dem, was Sie sagen, finde ich zwei Dimensionen: eine moralische und
eine apokalyptische.
„Genau. Das ist meine Gemütsverfassung. Ich denke, der nationalistische
Zionismus hat uns an schreckliche Orte gebracht, von denen es für uns sehr
schwierig ist, sich zurückzuziehen. Sehen Sie, es ist für mich jedes Mal
eine Qual, wenn meine Kinder durch den Stadtteil von Jerusalem gehen, wo
die Attentate im Hillel-Cafe geschahen. Auf der andern Seite habe ich
wirklich Angst vor dem Tag – und er ist nicht mehr fern – wenn das
palästinensische Kind geboren wird, das die Juden in diesem Land zu einer
Minderheit werden lässt. Was werden wir dann tun? Was werden wir tun, wenn
wir nicht mehr die Entschuldigung und Stärke der Mehrheit haben?
„Ich
denke, jede Generation hat ihre sie prägende Wahrheit. Und die prägende
Wahrheit dieser Generation heißt, zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer
werden die Juden eine Minderheit. Damit müssen wir fertig werden. Aber der
Regierung Israels und den israelischen Politikern gelingt es nicht, mit
dieser Wahrheit fertig zu werden. In den vergangenen drei Jahren sind wir
in einen Zustand von stummem Schock geraten. In eine Situation ohne Worte.
Da gibt es einfach nichts zu sagen. Deshalb schrieb ich den Artikel. Weil
ich zu dem Schluss gekommen bin, dass wir in den vergangenen drei Jahren
nichts gesagt haben.“
Während Ihrer politischen Karriere haben Sie einen sicheren starken
Optimismus ausgestrahlt, der zuweilen ein wenig unreif ein andermal
leichtsinnig wirkte. Wollen Sie mir nun sagen, Sie seien wirklich zum
Pessimisten geworden? Sehen Sie tatsächlich jetzt alles so düster?
„Wenn
Sie heute Israelis fragen, ob ihre Kinder in 25 Jahren noch hier leben,
werden Sie keine eindeutige positive Antwort erhalten. Sie werden kein
lautes Ja hören. Im Gegenteil: junge Leute werden ermutigt, im Ausland zu
studieren. Ihre Eltern besorgen ihnen europäische Pässe. Jeder sucht nach
Möglichkeiten, im Silicon-Valley in Kalifornien zu arbeiten; jeder, der es
sich leisten kann, kauft ein Haus in London. So entwickelt sich langsam
aber sicher in Israel eine Gesellschaft, die nicht sicher ist, ob die
nächste Generation noch hier lebt. Hier lebt eine ganze Gesellschaft, die
den Glauben an die Zukunft verloren hat.
„Was
hier tatsächlich geschieht, ist, dass die führende israelische
Gesellschaftsklasse kleiner wird, weil sie nicht länger bereit ist, für
die Launen der Regierung zu zahlen. Sie will nicht länger die Last der
Siedlungen bezahlen und die Last der Transfer(Vertreibungs-)kosten. Was
wir aber in der Zwischenzeit bekommen, ist nicht eine Revolution auf der
Straße, sondern eine stille Revolution des Weggehens, der Auswanderung. Es
ist die Revolution, in der man den Laptop und die Disketten einpackt und
auszieht. Wenn Sie also auf- und um sich sehen, dann werden Sie sehen,
dass nur die Leute hier bleiben, die keine anderen Möglichkeiten haben.
Die wirtschaftlich Schwachen und die Fundamentalisten bleiben. Vor unsern
Augen wird Israel ultra-orthodox, nationalistisch und arabisch. Es wird
eine Gesellschaft, die keinen Sinn für Zukunft hat, keine Narrative und
keine Kraft, sich selbst zu erhalten.“
OK – das ist eine Sache, um die man sich mit Recht Sorgen macht. Aber Ihr
Artikel, der um die Welt ging, verwendete Ausdrücke, die fast feindlich
klangen. Sie beschrieben Israel als ein Gebäude, das sich auf menschlicher
Gefühllosigkeit gründet. Sie beschrieben es als Land, das keine
Gerechtigkeit kennt. Sie redeten über die Palästinenser, auf denen
israelische Stiefel herumtrampeln. Das sind schreckliche Ausdrücke –
Ausdrücke einer Person, die sich im Laufe eines Prozesses völlig der
Gesellschaft entfremdet hat, die sie eigentlich vertreten sollte.
„Der
Schmerz erzeugte diese Worte – nicht Feindschaft. Es sind Worte von
schneidender Selbstkritik. Wenn ich über Israel schreibe, schreibe ich
nicht über andere, sondern über mich selbst. Aber ich habe das Gefühl,
dass wir nicht sehen, was vor unserm Fenster passiert. Wenn ich am Morgen
hier in den Hügeln herum um die Gemeinde fahre, in der ich lebe, sehe ich
Kinder im Alter von 8, 10 und 12 Jahren, die auf der Suche nach Arbeit
sind. Und wenn sich ein Jeep der Grenzpolizei nähert, verstecken sich
diese Kinder ängstlich hinter Büschen und Felsen. Deshalb glaube ich,
können wir nicht weiterhin sagen, wir sind wunderbar und moralisch, weil
wir vor 60 Jahren durch den Holocaust gegangen sind. Wir können unmöglich
weiterhin sagen, wir sind wunderbar und moralisch, weil wir 2000 Jahre
lang verfolgt wurden. Wir sind heute in eine schreckliche Realität
verwickelt. Wir sehen schlecht aus, wirklich schlecht.“
Denken Sie, dass Israel ein Staat der Schande geworden ist?
„Nein. Wir sind nicht ein Staat der Schande oder eine üble Gesellschaft.
Aber wir haben das Gefühl für Schändliches verloren. Wir sind gleichgültig
und blind geworden. Wir empfinden nichts mehr und sehen nichts mehr. Erst
letzte Woche besuchte ich ein wohl bekanntes Gymnasium in Jerusalem. Eine
ganze Reihe der Schüler, mit denen ich sprach, erzählten mir schreckliche
Dinge. Sie sagten: wenn wir Soldaten sind, werden wir alte Leute, Frauen
und Kinder töten, ohne uns Gedanken darüber zu machen. Wir werden sie
vertreiben, wir setzen sie in Flugzeuge und fliegen sie in den Irak. Wir
werden Hunderttausende von ihnen ausfliegen. Millionen. Und die meisten
der Schüler im Auditorium klatschten zu diesen Äußerungen Beifall. Sie
unterstützten sie sogar dann, als ich einwarf, so haben die Leute vor 60
Jahren in Europa geredet. Ich bin also wirklich beunruhigt, sogar
alarmiert. Ich glaube, wir verinnerlichen immer mehr eine Norm, die nicht
die unsere ist. Wir werden immer mehr unsern Feinden gleich.
Eine der Kritiken Ihres Artikels ging dahin, Sie würden eine Grenze
überschreiten und damit Israels Feinden dienen.
„Solch eine Kritik ist für mich unwichtig. Ich sehe keinen Israelhasser in
Damaskus oder Malaysia, der deshalb antisemitisch wurde, weil Avrum Burg
dieses oder jenes sagte. Die im Augenblick in der internationalen
Gemeinschaft negative Haltung gegenüber Israel hängt zum Teil mit der
Politik der Regierung Israels zusammen. Wenn also Israelhasser meine Worte
verwenden, so ist das in Ordnung, soweit es mich betrifft. Vielmehr macht
mir Sorge, dass aus Angst vor Israelhassern wir nach außen hin unsere
Wäsche nicht mehr waschen, ja sie überhaupt nicht mehr waschen – und dann
fangen die Dinge zu stinken an. Schauen sie um sich und sehen Sie, wie
sehr schon alles stinkt.“
Wenn Sie in Ihrem Artikel schreiben : Israel, das aufgehört
hat, sich um die Kinder der Palästinenser zu kümmern, sollte nicht
überrascht sein, wenn sie voller Hass kommen, um sich selbst in den
israelischen Zentren der Realitätsflucht in die Luft zu sprengen. Damit
rechtfertigen Sie den Terrorismus. Wenn Sie schreiben: sie vergießen ihr
Blut in unsern Restaurants, um uns den Appetit zu nehmen, da sie zuhause
Kinder und Eltern haben, die hungrig sind und gedemütigt. Damit
rechtfertigen Sie tatsächlich Mord.
„Ich
rechtfertige keinen Terrorismus. Als Bürger Israels und als ein Bürger der
westlichen Welt ist Terrorismus mein Feind. Aber inmitten fürchterlicher
Geräusche von Explosionen, (Geheimdienst-? ER)Untersuchungen und
Verzweiflung hören wir nichts mehr. Wir empfinden nichts mehr. Und ich
sage Ihnen, ich kann nachts nicht mehr schlafen, weil ich mich als
Besatzer fühle. Und ich sage Ihnen, dass hier kein ernst zu nehmender
Krieg gegen Terrorismus geführt wird. Weil Israel den Terrorismus mit dem
Terminus von Tonnen bekämpft. Wie viele Tonnen ließ ich heute gegen den
Terrorismus fallen? Und Tonnagen von Bomben sind kein Krieg gegen Terror.
Es ist Ausdruck einer Politik der Rache, die die niederen Instinkte der
öffentlichen Meinung befriedigen soll.
„Ich
möchte gerne, dass Sie mich verstehen. Es ist mir klar, dass wir Krieg
gegen Terrorismus führen müssen. Aber ein Krieg gegen Terrorismus verläuft
wohl überlegt, kühn und raffiniert, nicht laut. Es ist kein Festival mit
Erklärungen, um sie immer und immer wieder zu treffen. Ein Krieg gegen
Terrorismus kann auch keinen Erfolg haben, wenn man nicht die Fenster
öffnet und der anderen Gesellschaft ein wenig Hoffnung zu atmen erlaubt.
Solange Israel nur brutale Gewalt anwendet, ohne irgendeine Hoffnung zu
erzeugen, bekämpft sie nicht die wahre Struktur des Terrors. Es ist
endlich Zeit, dass wir verstehen, dass nicht alle Palästinenser
Terroristen und nicht alle Palästinenser Hamas sind, und dass einige
dieser Leute uns bekämpfen, weil Israel so gleichgültig ist.“
Wenn es so ist, dann trägt Israel die Verantwortung für einen
Selbstmordattentäter, der sicht im Cafe Hillel in die Luft sprengt und für
eine Terroristin, die sich im Maxim-Restaurant in Haifa in die Luft
sprengt.
„Ich
gehe mit meiner Familie ins Hillel-Cafe. Ich besuche an Neujahr den
Besitzer des Maxim Restaurants. Wenn sich ein Selbstmordattentäter an
solchen Orten in die Luft sprengt, dann ist er dabei, auch mich zu töten.
Er kann nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden. Wenn er sich in die
Luft sprengt, greift er uns alle an. Für mich ist klar, dass von dem
Augenblick an, wo er sich einen Gürtel mit Sprengstoff umlegt, es meine
Pflicht ist, ihn zu töten. In diesem späten Augenblick ist er die Person,
die ich töten muss, bevor sie mich tötet.
„Was
ich sagen möchte, ist, dass diesem Terrorakt lange vorher
entgegengearbeitet werden sollte. Und was ich mich selbst frage: hat
Israel in den zwei Jahren vorher genug getan, um den Angriff zu
verhindern. Ich frage mich auch, ob Israel genug tut, damit ein Kind, das
jetzt zwei Jahre alt ist, sich nicht in 15 oder 20 Jahren in die Luft
sprengt? Wir haben die Verantwortung in diesem Gebiet. Selbst wenn 60% der
Verantwortung bei den Palästinensern liegt und nur 40 % bei uns, tragen
wir 100% der Verantwortung.
„Nach
drei Jahren Krieg kann ich unseren Teil nicht ignorieren, der den Frieden
verhinderte. Ich kann auch nicht die Tatsache ignorieren, dass in unserm
Kabinett heute Kriegsminister sitzen. Einer von ihnen will Krieg mit
Damaskus, ein anderer wünscht Krieg mit der ganzen arabischen Welt und der
dritte liebt nur den Krieg. Ich fühle in mir die Pflicht, eine Art von
Alternative zur Politik der Verzweiflung und Gewalt zu schaffen. Ich
denke, es ist sehr gefährlich, unser Schicksal denen anzuvertrauen, die
nicht begreifen wollen, dass Frieden nur zu unserm Besten dient. Frieden
ist das allerbeste Mittel für Sicherheit.“
Der Versuch, eine Alternative zu schaffen, führte Sie nach Genf.. Aber als
Sie und Ihre Freunde die Genfer Abmachungen formulierten, gaben Sie dem
palästinensischen Terror nach. Sie waren damit einverstanden, den
Palästinensern zu geben, was sie nicht vor deren Intifada erhielten – den
Tempelberg z.B.
„Ich
brauchte drei Wochen, bis ich mit dem Entwurf der Genfer Abmachungen
einverstanden war. Es war hart für mich; denn in der Vergangenheit war ich
tatsächlich gegenüber ( dem früheren Ministerpräsidenten) Barak kritisch
wegen dessen Konzessionen in Jerusalem. Aber es stimmt, ich habe mich
geändert. Meine Angst vor der Zerstörung Israels ist heute so eindeutig,
dass ich bereit bin, größere Konzessionen zu machen. Ich setze all meine
Kraft für die einzig wichtige Aufgabe ein, Israel vor ( den Auswirkungen)
der Besatzung zu retten, um den Zionismus zu retten.
„Ich
fand in den Abmachungen zwei wesentliche Dinge. Das eine ist, dass wir das
Symbol des Tempelberges aufgeben – während sie das Symbol des Rechtes auf
Rückkehr aufgeben. Das ist ein enormer Austausch von Symbolen und von
ungeheurer Bedeutung. Das andere ist die Erweiterung des
Erstickungsgürtels ( suffocation belt) rund um Jerusalem gegen die
Erweiterung des Erstickungsgürtels rund um Gaza. Am Ende dachte ich, dass
dies ein passender Ausgleich von Symbolen ist: Jerusalem gegen Gaza.“
Was Sie da sagen, klingt zwar ganz gut – ist aber ungenau. Nach dem Genfer
Entwurfsdokument verzichtet Israel ausdrücklich auf den Tempelberg, die
Palästinenser verzichten aber nicht ausdrücklich auf das Recht der
Rückkehr.
„Wir
dürfen Träume nicht mit praktisch Durchführbarem verwechseln. Genau wie
kein Palästinenser auf den Traum von Groß-Palästina verzichten will, so
habe auch ich nicht den Traum des Tempelbaus aufgegeben. Aber die von uns
gemeinsam gefasste Entscheidung erlaubt nicht, dass diese Träume konkrete
Politik werden. Wir entschieden, dass im Rahmen konkreter Politik, die
Juden den Tempel nicht in diesem Gebiet bauen und die Palästinenser nicht
nach Jaffa zurückkehren werden. Das ist der springende Punkt der
Abmachung: Traum gegen Traum, Realisierbares gegen Realisierbares.“
Trotzdem, wenn wir die Genfer Abmachung mit Ihrem Artikel zusammennehmen,
wird deutlich, dass Sie einen Prozess politischer Radikalisierung
durchgemacht haben. Vor zwei Jahren waren Sie Vorsitzender der
Labor-Partei auf der Basis einer fast gemäßigten Plattform, und nun sind
Sie am äußersten linken Rand. Haben Sie sich wirklich derart verändert
oder haben Sie seitdem eine total spöttische, öffentliche Kampagne
durchgeführt?
„Beides. Nach dem Streit in der Laborpartei besann ich mich und
analysierte, was in mir und mit mir vorgegangen war. Was ich unter anderem
herausfand, war, dass ich eine taktische Kampagne ohne Substanz führte.
Die Voraussetzung meiner Arbeit war, dass (US-Präsident) Bush gewählt
wurde, ohne etwas zu sagen und (Ministerpräsident Ariel) Sharon gewählt
wurde, ohne etwas zu sagen, drum dachte ich, dass es auch bei mir so
laufen wird. Als ich mir dann darüber im klaren war, dass ich eine
Niederlage erlebt habe, kam ich zu dem Schluss, dass ich zu viele Jahre zu
viel im politischen Getriebe lief und zu wenig auf meine innere Stimme
achtete. Meine Kampagne war starrköpfig, weil es eine Kampagne
persönlicher Popularität ohne wahren Inhalt war.
„Mein
Versuch, mich der Mitte zu bemächtigen und mein Verzicht, den ganzen Weg
mit meinen Ansichten zu Ende zu gehen, machte mich zu einem Kandidaten,
dem echte Positionen fehlten. Deshalb zog ich aus der Schlussanalyse die
Lektion, dass ich in einer solch schwierigen Periode meine Wahrheit
ungeschminkt aussprechen muss. Wenn es keine andere Wahl gibt, ist es
besser, wenn ich auf Grund der Wahrheit verliere, als dass ich wegen etwas
gewählt werde, was nicht vorhanden ist.“
Avrum, Sie spielen ein doppeltes Spiel, stimmt es? Einerseits sind Sie ein
gescheiter Politiker, der Erfahrung hat, durch die unruhigen Gewässer der
politischen Politik zu steuern, aber zur selben Zeit bestehen Sie darauf,
den Propheten zu spielen. Sie setzen sich zur Wehr gegen den Staat, die
Regierung und die zionistische Bewegung und geben einen jugendlichen
Schrei moralischer Entrüstung von sich.
„Ich
glaube nicht, dass meine Politik die eines unreifen Jugendlichen ist. Der
israelische Jugendliche flieht vor der israelischen Herausforderung, indem
er nach Indien oder Südamerika geht. Ich tue genau das Gegenteil. Ich
nehme den Stier bei den Hörnern und weigere mich, ihn laufen zu lassen.
Ich nehme nicht den Rucksack und renne vor dem Kampf weg. Ich glaube, wir
leben wirklich in einer schrecklichen Zeit. Ich glaube, wir leben an einem
Wendepunkt. Auf der einen Seite sind Zerstörungen, auf der anderen Rettung
und Erneuerung. Aber der Spielraum zwischen den beiden Möglichkeiten wird
immer enger. Die Gefahr einer Zerstörung ist näher als je zuvor. In solch
einer Situation kann ich nicht länger schweigen, auch wenn es weder
angenehm noch populär ist. Ich muss etwas tun, was in meiner Macht steht,
damit Israel wieder zu sich selbst zurückkehrt, dass Israel die Besatzung
aufgibt und nach Hause kommt.“
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs) |