Mein Terrorist, Dein Terrorist
Uri Avnery, 16.März 2016
IST DIE HISBOLLAH
also eine terroristische Organisation?
Nein, natürlich
nicht.
Warum hat dann die
Arabische Liga entschieden, dass sie eine ist?
Weil die meisten
Liga-Mitgliederstaaten sunnitische Muslime sind, während die
Hisbollah eine schiitische Organisation ist, die den schiitischen
Iran und den alawitischen (fast schiitischen) Bashar al-Assad in
Syrien unterstützen.
Also haben Israels
arabische Parteien recht, wenn sie die Resolution der Liga
verurteilen?
Richtig, aber nicht
weise.
BEGINNEN WIR
also mit der Hisbollah. Überraschenderweise ist sie in gewisser Art
eine israelische Schöpfung.
Der Libanon ist ein
künstlicher Staat. Vor Jahrhunderten wurde er als ein Teil Syriens
angesehen. Weil sein gebirgiges Gebiet ein idealer Ort für kleine,
verfolgte Sekten war, die sich dort verteidigen konnten. Unter
ihnen gibt es die maronitisch christliche Gemeinschaft, die nach
einem Mönch Maron benannt wurde.
Nach dem ersten
Weltkrieg, als die siegreichen Großmächte das ottomanische Reich
unter sich aufteilten, bestand Frankreich auf der Schaffung eines
christlichen, libanesischen Staates unter seiner Verwaltung. Solch
ein Staat würde sehr klein gewesen sein und ohne einen größeren
Hafen. So wurden in unkluger Weise die Gebiete von verschiedenen
anderen Sekten hinzugefügt, um einen größeren Staat zu schaffen, der
aus verschiedenen gegenseitig sich feindlich gesinnten
Gemeinschaften bestand.
Da waren (a)die
Maroniten in ihrer Bergfestung, (b) verschiedene andere christliche
Sekten, (c) die sunnitischen Muslime, die dort vom sunnitisch
ottomanischen Reich in den größeren Hafenstädten angesiedelt wurden,
(d)die Drusen, die sich vor vielen Jahrhunderten vom Islam
abgespalten haben und (e) die schiitischen Muslime.
Die Schiiten sind die
Bewohner des südlichen Libanon. Sie sind die ärmste und schwächste
Sekte, verachtet und von allen anderen ausgenützt.
In dieser Föderation
von Sekten, die der Libanon ist, gab die Verfassung jeder Sekte eine
führende Aufgabe. Der Präsident des Staates ist immer ein Maronit,
der Ministerpräsident ein Sunnit, der Befehlshaber der Armee ein
Druse. Da blieb für die armen Schiiten nichts übrig, außer dem
Posten des Vorsitzenden des Parlamentes, ein Titel ohne Macht.
Länger als eine
Generation war die israelisch-libanesische Grenze, die praktisch die
israelisch-schiitische Grenze ist, Israels einzige friedliche
Grenze. Die Bauern auf beiden Seiten arbeiteten in enger
Nachbarschaft, ohne Zäune, ohne Zwischenfälle. Man sprach davon,
dass der Libanon der zweite Staat sein würde, der mit Israel Frieden
machen wird - er wagte nicht, der erste zu sein.
In den frühen
40iger-Jahren, überquerte ich einmal versehentlich die nicht
markierte Grenze. Ein netter libanesischer Gendarm fing mich ab und
zeigte mir höflich den Weg zurück.
NACH DEM
„Schwarzen September“ in Jordanien (1970), als König Hussein die
palästinensischen Kräfte besiegte, wurde der Süd-Libanon die neue
palästinensische Basis. Die ruhigste Grenze wurde sehr unruhig.
Die Schiiten liebten
die Palästinenser und die Unruhe, die sie verursachten, nicht. Als
die israelische Armee 1982 in den Libanon einfiel mit dem
unausgesprochenen Ziel, die Palästinenser dort zu vertreiben und
eine maronitische Diktatur einzusetzen, waren die Schiiten froh. Die
Bilder von schiitischen Dorfbewohnern, die die israelischen Soldaten
mit Brot und Salz empfingen, waren echt.
Ich überquerte die
Grenze am vierten Tag des Kampfes, um selbst zu sehen. Ein
jemenitischer Soldat, der sich schwach daran erinnerte, mein Gesicht
schon einmal im Fernsehen gesehen zu haben, vermutete, ich wäre
jemand Hohes in der Regierung, öffnete mir das Tor. Ich war mit zwei
Kolleginnen in meinem privaten Auto – mit gelbem israelischem
Nummernschild - durch die schiitischen Dörfer unterwegs und wurde
überall mit großer Freude empfangen.
Der Grund für diese
spontane Freundschaft war offensichtlich. Die Schiiten nahmen an,
dass die Israelis sie von den arroganten Palästinensern befreien
würden, dass sie sich verabschieden und bald wieder gehen würden.
Aber die Israelis gingen nicht Nach einigen Monaten wurde den
Schiiten klar, dass an Stelle einer palästinensischen Besatzung, sie
nun eine israelische Besatzung hatten. Also begannen sie einen
klassischen Guerilla-Krieg. Der gutmütige, unterdrückte schiitische
Bauer wurde über Nacht ein erbitterter Kämpfer.
Die moderate
schiitische Partei, die die Schiiten so lange vertreten hat, wurde
durch die sehr militante neue Hisbollah – die Partei Gottes -
ersetzt. Die israelischen Truppen wurden aus dem Hinterhalt von
einem unsichtbaren Feind angegriffen. Soldaten bewegten sich in
einem Konvoy. (Ich schloss mich einmal solch einem Konvoy an.
Einige Soldaten zitterten buchstäblich vor Angst.)
Nach 18 Jahren
verließen die israelischen Truppen endgültig - fast in Panik - den
Libanon. Sie ließen einen Ministaat hinter sich, der jetzt von der
Hisbollah beherrscht wurde. Ihr Führer wurde von Israel ermordet und
der weit fähigere Hassan Nasrallah nahm seinen Platz ein.
Heute sind die
Schiiten bei weitem die stärkste Gemeinschaft im Libanon. Sie sind
ein bedeutender Teil des mächtigen „schiitischen Bogens“ – dem Iran,
dem Irak, Bashar al-Assads Syrien und der Hisbollah.
Benjamin Netanjahu
glaubt, dass dieser Bogen eine tödliche Bedrohung für Israel sei. Er
hat sich im Geheimen mit Saudi Arabien verbündet, das eine
sunnitische Gegenkraft mit Ägypten und den Golfmonarchien geschaffen
hat, und lose mit Daesh, dem islamischen „Kalifat“(IS), verbunden
ist.
Die Hisbollah unser
gefährlichster Feind? Ich bitte darum, zu unterscheiden. Ich glaube,
dass unser gefährlichster Feind der Daesh ist – nicht wegen seiner
militärischen Macht, sondern wegen seiner mächtigen Idee. Sie
entflammt Hundert Millionen Muslime in aller Welt. Ideen können
nämlich gefährlicher sein als Kanonen – eine Tatsache, die dem
israelischen Denken fremd ist.
Die Hisbollah hat nun
reguläre Truppen und kämpft nun in Syrien gegen Daesh und andere.
Sei es, wie es sein
mag, eines ist die Hisbollah auf jeden Fall nicht: es ist keine
terroristische Organisation.
WAS IST
„Terrorismus“? Es ist jetzt zum Schimpfwort ohne wirklichen Inhalt
geworden.
Ursprünglich meinte
Terrorismus nur eine Strategie, um Angst zu schüren, um ein
politisches Ziel zu erreichen. In diesem Sinn ist jeder Krieg
Terrorismus. Aber der Terminus wird genauer bei individuellen
Gewaltakten angewandt mit dem Ziel, in die Herzen der feindlichen
Bevölkerung Terror zu legen.
Jetzt nennt jedes
Land und jede Partei seine Feinde „Terroristen“. Es ist der moderne
Kraftausdruck. Er hat keine reale Bedeutung.
Wenn überhaupt, dann
ist jede Armee ein Instrument des Terrorismus. In Kriegszeiten
versuchen Armeen dem Feind immer Angst einzujagen, damit er ihre
Forderungen akzeptiert. Das Abwerfen der Atombombe auf Hiroshima war
ein terroristischer Akt, auch das Verbrennen von Dresden war es.
In der Vergangenheit
wurde der Terminus Terrorismus gebraucht, um die Akte der russischen
Revolutionäre zu beschreiben, die die russischen Minister töteten
(Akte, die von Lenin verurteilt wurden) oder den österreichischen
Kronprinzen (die Tat, die den 1. Weltkrieg auslöste, der selbst
nicht Terrorismus genannt wurde, weil er Millionen tötete und nicht
nur ein paar).
Terroristen erreichen
nicht ihre Ziele, die der Größe ihrer Taten entsprechen, sondern
eher durch ihre psychologische Wirkung. Das Töten von einhundert
kann am nächsten Tag vergessen sein, doch das Töten einer Person mag
noch Jahrhunderte später in Erinnerung bleiben. Samson, der
Erz-Terrorist, ist in der Bibel als großer Held unsterblich gemacht
worden.
(Weil die
psychologische Wirkung so bedeutsam ist, dienen die meisten
Reaktionen auf Terrorismus nur dem Terroristen.)
Moderne Terroristen –
reale Terroristen - legen Bomben in Märkten, schießen wahllos auf
Zivilisten oder überfahren sie. Hisbollah tut nichts dergleichen.
Man kann die Hisbollah hassen und Nasrallah verachten. Sie aber
„Terroristen“ nennen, ist nur dumm.
ALL DIESES
ist aktuell wegen einer Kette von Vorfällen, die kürzlich Israel
erschütterten.
Die Arabische Liga,
dominiert von Saudi-Arabien, hat erklärt, dass die Hisbollah eine
„terroristische“ Organisation sei. Dies hat fast keine Bedeutung, es
ist eine kleine Geste in der Schlacht zwischen der Saudischen
Monarchie und dem Iran. Oder zwischen dem „schiitischen Bogen“ und
dem „sunnitischen Block“.
Zwei kleine arabische
Parteien in Israel, beide Mitglieder der arabischen
4-Parteien-Liste, haben die Erklärung der Liga verurteilt und sich
auf die Seite von Hisbollah gestellt.
Sie sind die arabisch
nationale Balad-(Mutterland) Partei und die kommunistische (pro
Assad) Partei.
Die Knesset war außer
sich. Wie können sie das wagen?! Unsere Feinde verteidigen? Leugnen,
dass diese Erz-Terroristen Erz-Terroristen sind?
Die jüdischen
Mitglieder, praktisch alle, forderten, dass beide Parteien geächtet
und ihre Mitglieder aus der Knesset vertrieben werden. Da es in
Israel keine Todesstrafe gibt, können sie leider nicht gehenkt
werden. Schade.
HATTEN DIESE
arabischen Mitglieder der Knesset Recht mit ihrer Äußerung?
Natürlich hatten sie Recht.
War ihre Äußerung
logisch? Tatsächlich war sie es.
Aber Logik kann in
der Politik Gift sein.
Für gewöhnliche
jüdische Israelis ist die Hisbollah ein giftiger Feind. Nasrallah
mit seinem spöttischen, erhabenen Stil wird von jedem gehasst. Durch
ihre Äußerung, die tatsächlich nichts mit Israel zu tun hat,
provozierten die arabischen Knesset-Mitglieder und erschütterten die
ganze jüdische Öffentlichkeit.
Natürlich sind diese
Araber Teil der arabischen Welt. Sie haben das Recht, ihre Meinung
zu allem, was in der arabischen Welt geschieht, zu äußern. Das
Recht, nicht die Pflicht.
Die arabischen
Mitglieder der israelischen Knesset werden von zwei scheinbar
gegensätzlichen Pflichten zerrissen: den Interessen ihrer Wähler zu
dienen und Stellung zu Problemen ihrer palästinensischen Nation und
der arabischen Welt im Allgemeinen zu beziehen.
Indem sie die
Verurteilung der Hisbollah durch die Arabische Liga kritisieren,
erfüllen sie ihre zweite Pflicht. Aber indem sie die Kluft zwischen
Israels Arabern und den jüdischen Bürgern ohne dringenden Grund
vergrößern, schaden sie ersteren. Dadurch schädigen sie auch die
Chance für einen Frieden.
Ich verstehe sie,
aber ich glaube, dass dies nicht klug war.
(aus dem Englischen
übersetzt: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.)
|