Demokratie und
Kolonialismus
Ran HaCohen , 7.12.05 antiwar.com
Israels Politik
kocht. Das Volk freut sich: es sieht so aus, als wäre der tote Punkt
überwunden. Amir Peretz, ein junger Östlicher (ein Mizrahim),
sozial-demokratisch orientierter Führer übernimmt die versteinerte
Labor-Partei vom opportunistischen Shimon Peres – dem
Friedensnobelpreisträger, der der erste war, Atomwaffen in den Nahen
Osten einzuführen und später den israelischen Nuklear-Whistleblower
Mordechai Vanunu zu kidnappen. Nur wenige Tage nach diesen
überraschenden Vorwahlen und dem folgenden Auszug von Peretz aus seiner
Koalition, verließ Ministerpräsident Ariel Sharon seine regierende
Likud-Partei und nahm ein Drittel der Knessetfraktion mit – und nach den
Meinungsumfragen die meisten seiner Wähler. Der alte Bulldozer ist
dabei, die israelische politische Karte neu zu gestalten: Das
augenblickliche Parlament leidet – wie so oft - an zu frühem Tod;
Sharon schuf seine neue private Partei, Kadima, und da die israelischen
Mainstreampolitiker gewöhnlich ihre Ansichten ihrer Parteizugehörigkeit
angleichen – statt umgekehrt – werden nun viele verwirrte Politiker –
aber auch einige Akademiker, Journalisten und andere Neulinge eine neue
Partei und Weltsicht wählen, die ihnen hoffentlich nach der Wahl im März
2006 die Vergünstigungen der Macht zusichert.
Die Opfer des Neo-Liberalismus
Soweit Israels
Sozialpolitik auf dem Spiel steht, könnte dies bedeutende Entwicklungen
mit sich bringen. Solange sich die Weltmedien auf den Konflikt
konzentrieren, sind die Veränderungen in Israels Wirtschaft außerhalb
des Landes weniger bekannt. Nach zwei Jahrzehnten einer rücksichtslosen
neo-liberalen Wirtschaftspolitik, die von Likud und Labor unterstützt
wurde, erlebte Israel scharfe Einschnitte in der Wohlfahrt, boomende
Staatsunterstützung der Reichen (einschließlich des unersättlichen
militärischen Sektors), einen erfolgreichen Krieg gegen organisierte
Arbeit, uneingeschränkte Privatisierung und genau in diesen Tagen einen
Ausverkauf von Israels größten Finanzinstituten an ausländische
Investoren, die als seine größten Wohltäter porträtiert werden, um
Israels Wirtschaft zu schröpfen.
Diese Politik ließ
Israel – einst ein moderater Wohlfahrtsstaat – mit der höchsten
Einkommensbuße in der westlichen Welt, dazu mit wachsender
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, mit einer rapide schrumpfenden
Mittel klasse, mit erschreckenden Armutsraten unter den Älteren, den
Kindern und Erwachsenen - und einer blühenden Wohlfahrtsindustrie; kurz
einer Gesellschaft, die sich rapide Dritte-Welt-Bedingungen angleicht,
mit einer Handvoll Reicher, die die verarmten Massen versklavt. Mit
einem starken Staat und einer schwachen zivilen Gesellschaft gab es in
Israel wenig Widerstand gegen den Neo-Liberalismus. Eines der letzten
Bollwerke organisierter Arbeit, Israels Handelsunionsverband oder
Histadrut wurde in den frühen 90er Jahren von Chaim Ramon, einem
trojanischen Pferd der Labor-Partei zerstört, das die historische
Institution übernahm, um sie von innen zu zerstören. Bezeichnenderweise
verließ er erst jetzt Labor, um seine rechte Heimat in Sharons neuer
Partei zu finden.
Amir Peretz wurde
Ramons Nachfolger in der Histadruth-Führung: er baute wieder auf, was
übrig geblieben war, wenn auch mehr um der wenigen überlebenden
stärkeren Handelsunionen willen als für die ständig wachsenden Massen
der unorganisierten Arbeiter. Sein moderater sozial-demokratischer
Diskurs mit gelegentlichen vagen Hinweisen auf Clinton, Blair und/oder
Schröder verbunden mit seinen hoch entwickelten politischen Fähigkeiten
.. ließ ihn jetzt die Labor-Partei gewinnen. Das macht sie zum ersten
Mal seit Dekaden wieder irgendwie weltweit vergleichbar mit ihren
Schwesterparteien. Peretz will die Wahlkampagne auf soziale und
wirtschaftliche Probleme konzentrieren, womit er sich an die Massen der
wirtschaftlich Bedrohten wenden kann, einschließlich der Östlichen
Juden, die sich traditionell in der Laborpartei fremd fühlten. Egal wie
ernst es Peretz mit der Veränderung der Wirtschaftspolitik auch meint (
Erwartet keinen Hugo Chavez !), die Veränderung im politischen Diskurs
ist nicht unbedeutend: nicht weil der Neo-Liberalismus bedeutsamer oder
gefährlicher ist als der Kolonialismus, sondern weil die Opposition zum
ersteren ein guter Hebel ist, um auch gegen den letzteren zu opponieren
- da die beiden zunehmend mit einander verknüpft sind.
Auf die Tagesordnung setzen
Vorausgesetzt
natürlich die Veränderung der Agenda findet tatsächlich statt. Man kann
die Regierungsmacht nicht überschätzen, die die Tagesordnung festlegt.
Und Sharon hat ein sicher begründetes Recht, sich auf Israels
„Sicherheitsprobleme“ zu konzentrieren. Die Armee und das ganze
Militärsystem und die Rüstungsindustrie sind auf seiner Seite. Der
zunehmende Druck hinsichtlich des iranischen Nuklearprojektes – eine
tägliche Obsession der letzten zwei Wochen – hat klar seine Wirkung.
Spannung an der libanesischen Grenze ist immer für eine Eskalation
bereit – Behauptungen über Hisbollahs (!) „politische Bedürfnisse“ sind
immer zur Hand. Aber die beste Weise palästinensische Racheakte zu
provozieren, ist die Politik der außergerichtlichen Tötungen. Der
Zeitraum zwischen einer israelischen Ermordung und der palästinensischen
Reaktion lässt das Propagandasystem die Israelis leicht das
Vorausgegangene vergessen, wenn das andere passiert – ein idealer
Agenda-Veränderer.
Deshalb wird eine
Eskalation erwartet – und zwar so sehr, dass in einer typischen
post-kritischen Spitzfindigkeit, Aluf Ben (Haaretz) jetzt schon zugibt,
dass „Wahlzeit in Israel traditionell eine Zeit militärischer Eskalation
ist“, dass „die Kandidaten zu besonderen militaristischen Positionen
neigen, da dies als Rezept für Wahlerfolg angesehen wird, dass es „schon
in dieser Kampagne solche Anzeichen mit der öffentlichen Drohung
gegenüber dem Iran gibt“ – aber trotz all dem beschließt Ben, dass „die
Entscheidungen hinsichtlich Israels Antwort auf den gestrigen
Terroristenangriff in Netanya nichts mit einem Bedarf, eine Eskalation
zu schaffen, zu tun hat.“ (6.12. 05) Oh nein, natürlich nicht.
Wenn man diesen
Regierungsentscheidungen folgt, fiel Peretz in die Falle: in seinem
Labor-Kabinet habe er gesagt, dass er sogar noch härtere Maßnahmen gegen
die Palästinenser ergreifen werde. Das ist das klassische falsche
Bewusstsein des linken Flügels: da die Wähler angeblich Hardliner
lieben, sollten wir katholischer als der Papst sein – und dann hinter
verschlossenen Türen weinen, warum keine Alternative des linken Flügels
angehört wurde und warum die Wähler immer weiter nach rechts rücken.
Hochsaison des
Kolonialismus
Sogar ohne die
voraussagbare Eskalation, wird die Wahlzeit immer eine Hochzeit für
Israels Kolonialismus. Bis eine neue Regierung gebildet ist, haben wir
mindestens acht Monate Zeit. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentriert
sich auf die Meinungsumfragen und die Parteispiele. Die Interimregierung
ist ohne Kritik und Druck. Sie kann keine „kontroversen“ Schritte
unternehmen, wie das Auflösen illegaler Außenposten und sie ist
unvermeidlich dazu verurteilt, weiter „ nicht kontrovers“
palästinensisches Land zu rauben, indem es Siedlungen erweitert und
sogar noch mehr Wohneinheiten für Israelis auf besetztem Land baut.
Sharons Verpflichtung gegenüber Bush, die Hundert oder mehr nicht
authorisierten Siedlungen abzubauen, ist wieder aufgeschoben worden –
dieses Mal für nach der Wahl. Gleichzeitig können die Siedler frei
Hunderte von palästinensischen Olivenbäumen verbrennen und ausreißen
und die Palästinenser so viel wie möglich terrorisieren: keiner wird
ihnen während der Wahlzeit entgegentreten.
In Anbetracht der
Fortsetzung israelischer kolonialistischer Politik vor und nach jeder
Wahl und dem Auftrieb, den jede Wahlperiode dieser Politik gibt, kann
man fragen, ob der Kolonialismus eine bewusste Wahl des israelischen
demokratischen Spiels ist – es besteht jedoch wenig Zweifel darüber,
dass das demokratische Spiel eine bewusste Wahl des israelischen
Kolonialismus’ ist.
(dt. Ellen Rohlfs)
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