Friedensbedrohung
Ran HaCohen, 19.1.05
Nach Arafat
Oscar
Wilde sagte einmal, es gibt im Leben nur zwei Tragödien: die eine, dass
man nicht bekommt, was man sich wünscht – und die andere, dass man dies
bekommt. Israel erlebt gerade die 2. Tragödie. Jahrelang wussten wir, was
wir uns wünschten: einen toten Arafat. Nicht dass wir nur dasaßen und
darauf warteten: wir wendeten unaufhörliche Hetze an, um die Weltmeinung
für seine Eliminierung vorzubereiten; wir unterstützten sogar eine
Regierungsentscheidung, sich seiner zu entledigen, und wir hielten den
alten Mann in seinem zerstörten Regierungssitz wie einen Gefangenen
unter Bedingungen, die eher früher als später den gesündesten Senioren
umgebracht hätte. ( Die Palästinenser versäumten eine Gelegenheit, als sie
die Legende verbreiteten, Arafat sei vergiftet worden, als ob seine
Einkerkerung durch Israel nicht ausreichte, um ihn vom Leben zum Tode zu
bringen.) Also, Arafat ist nun tot – wir bekamen, was wir wollten - und
wir sind nicht glücklich darüber.
Im
Gegenteil. Zusammen mit Arafat hat Israel auch seine beste Entschuldigung
für die andauernde Besatzung begraben. Wie lange können wir den Toten
wegen Terrorismus anklagen? Wie lange kann man sich weigern, mit dem
Toten zu verhandeln, ihm gegenüber zu treten? Nicht sehr lang . Nach mehr
als zwei Monaten nach Arafats Tod versteht sogar das anämische/ kraftlose
Europa: „Die „Arafat-Entschuldigung“ gibt es nicht mehr“. ( Jean
Asselborn, Präsident des EU-Ministerrat, Haaretz, 18.1.05) Und was noch
schlimmer ist: Die Palästinenser haben einen neuen Führer bekommen, der
demokratisch gewählt wurde (also: Goodbye dem „skrupellosen Diktator“!)
und noch dazu einen Führer, der ständig und dazu - offen auf englisch
und arabisch redend - auf den bewaffneten Kampf gegen die Besatzung
verzichtet. Auf der anderen Seite verlangt Abu Mazen noch immer kompletten
israelischen Rückzug aus allen palästinensischen Gebieten und einen
unabhängigen palästinensischen Staat. Dies ist natürlich in voller
Übereinstimmung mit dem internationalen Gesetz, mit den
UN-Sicherheitsresolutionen, und sogar mit Präsident Bush’ Road Map --
kurz, es ist total unakzeptabel für Israel.
Marionette oder Schreckgespenst
Israel
kann nur mit zwei Arten palästinensischer Führer leben. Es kann mit einer
Marionette leben, die Israels Herrschaft über die palästinensischen Gebiet
akzeptiert (Dafür geben wir ihm ein bisschen Autonomie), die bereit ist,
60% der Westbank für die Siedlungen und die Apartheidmauer aufzugeben (
wir werden dafür ein oder zwei Checkpoints entfernen); die bereit ist, die
Flüchtlinge zu vergessen ( wir verzichten auf seine Konversion zum
Judentum).
Israel
hat mehrere Versuche gemacht, einen solchen palästinensischen Pudel zu
zähmen oder zu finden, doch dies misslang bis jetzt.
Oder
Israel kann mit einem fanatischen palästinensischen Schreckgespenst, mit
einem mörderischen, kompromisslosen Hardliner leben. Die Siedler sagen es
oft laut: wir wollen lieber den islamischen Jihad, der uns alle ins Meer
werfen will. Mit solch einem Führer kann man gut umgehen, national und
international.
Mit wem
wir nicht umgehen können, ist ein moderater, vernünftiger
palästinensischer Führer, der für Frieden das Land, die Rechte und die
Freiheit seines Volkes will. Ein Führer, der gut englisch spricht, und der
sich nicht wie ein Bin Laden kleidet, der uns nicht ins Meer werfen will,
sondern darauf besteht, dass Jerusalem auch eine palästinensische Stadt
ist.
Solch ein
Führer entlarvt Israels Verweigerungshaltung, und da liegt die große
Gefahr von Abu Mazen. Wir können die Welt nicht davon überzeugen, dass wir
die friedliebenden Opfer aller Zeiten sind, wenn – wie die Wahlen zeigten
- eine Mehrheit (54%) der in den besetzten Gebieten lebenden Palästinenser
eine Zwei-Staaten-Lösung auf der Basis der 1967-Grenze mit
Grenzkorrekturen und keiner großen Flüchtlingsrückkehr unterstützt
(Haaretz, 18.1.05).
Wenn dies
der Fall ist, wird deutlich, dass das einzige Hindernis zum Frieden
Israels Verweigerungshaltung ist, die Weigerung, entlang der international
anerkannten Grenzlinien Frieden zu machen.
Abu
Mazen dämonisieren
Was kann
Israel gegen diese Bedrohung machen? Gegen die Gefahr, dass ihm die Schuld
angelastet wird, für die ihm Schuld angelastet werden sollte, nämlich den
Frieden viel weniger zu wünschen als das besetzte palästinensische Land
und Wasser?
Da gibt
es Mittel und Wege. Es ist naheliegend, dass Abu Mazen in eine der beiden
Optionen für einen palästinensischen Führer geschoben werden sollte. Wenn
er nicht in einen Subunternehmer Israels verwandelt werden kann, dann
sollte er als Terrorist dargestellt werden. Man versucht es bereits. Die
israelischen Medien waren entsetzt, als Abu Mazen auf seiner
Wahlkampagnentour Israel den „zionistischen Feind“ nannte. Tatsächlich
entsetzt; denn nur den Israelis ist es erlaubt, die Palästinenser „Feinde“
zu nennen – von den Palästinensern erwartet man, dass sie uns ihren
geliebten großen Bruder nennen – und Israel als zionistisch zu
etikettieren, ist eine noch größere Beleidigung.
Der
Kontext von Abu Mazens ärgerlichen Worten wurde dabei nicht
berücksichtigt. Abu Mazen benützte diese Worte, nachdem er die Nachricht
hörte, dass in Beth Lahia (Gazastreifen) ein israelischer Panzer gerade
6 Kinder und Jugendliche getötet hatte . Mahmoud Raban ,12, sein Bruder
Bissam,17, ihren Cousin Rajah,10, Jabir, 16, Mohammed, 22, und Hani,17,
und ihren Freund Jibril Kassih,16, und Mohammed Raban,17, am
Sauerstoffgerät hängend mit nur einem Bein und einem Arm, Issa Relia,13,
mit über den Knien amputierten beiden Beinen, und die beiden Cousins
Imad,16, und Ibrahim,14, al-Kaseeh, alle beide mit amputierten beiden
Beinen (Gideon Leviy, Haaretz, 14.1.05). Die israelische Armee beschrieb
sie schamlos als „Hamasaktivisten“. Das ist nicht entsetzlich: es ist
vielleicht „ eine Ausnahme“, obgleich sich die Armee niemals damit abgibt,
ihr Bedauern auszudrücken, ganz zu schweigen, dass sie sich entschuldigt.
Aber Israel nach solch einem Blutbad „den zionistischen Feind“ zu nennen –
das ist entsetzlich.
Trennen
wir uns von Gaza!
Abu Mazen
als Terroristen bezeichnen zu können, wird noch einige Zeit dauern.
Israel ist ungeduldig. Es will jetzt handeln. Mit der drohenden Gefahr
eines Friedens kann man am besten mit der Armee fertig werden. Israel hat
dies schon einige Male getan, indem es mit der Armee eine Szene gerade
dann in Brand steckte, wenn eine Waffenpause kurz bevor stand. Besonders
denkwürdig ist, als die Westbank bei der Operation „Verteidigungsschild“
( 2002) wieder besetzt wurde. Es war die größte Militäraktion seit 1967,
gerade einen Tag, nachdem die Arabische Liga die Friedensinitiative der
Saudis angenommen hatten: das israelische Recht, in Frieden zu leben, wenn
es die Besatzung beendet.
Wir
befinden uns jetzt in einer ähnlichen Situation. Eine große
Militäroperation kann die Aufmerksamkeit von der „neuen Ära“ ablenken, von
dem Druck einer Waffenruhe; es könnte die Massen hinter unseren tapferen
Soldaten einigen und vor allem, Sharon helfen, endlich seine wagen
Versprechen, die Siedlungen im Gazastreifen aufzulösen, zu widerrufen –
ein „Plan“, der wie Tanya Reinhardt überzeugend behauptet, er nur wenig
Absicht habe, ihn überhaupt auszuführen. Also sollte man bald eine
großangelegte Operation in Gaza erwarten. Die eigentliche Entschuldigung
– ein Raketenangriff auf Israel – ist dann wirklich unwichtig. Abu Mazen
wird nach den vorgebrachten Argumenten die Raketen nicht stoppen können;
also sind wir gezwungen, die Armee zu schicken, um sie zu stoppen.
Gleichzeitig gibt die Armee zu, dass sie keine Mittel hat, die Raketen zu
stoppen. Also schicken wir die Armee, dass sie tut, was sie nicht tun kann
– denn Abu Mazen kann es auch nicht. Der Okkupation geht es also nicht um
Logik – es geht ums Brechen von Knochen.
Ein Liberaler fordert Kriegsverbrechen
Da gibt
es keinen besseren Seismographen für Israels Absichten als der liberale
Kolumnist Yoel Markus von der anspruchsvollen Tageszeitung Haaretz:
„Unsere
Geduld ist am Ende ...da gibt es eine Grenze und einen Zeitpunkt, an dem
die Regierung ihre Handschuhe ausziehen und der anderen Seite ein
Ultimatum stellen muss: für jedes willkürliche Schießen auf ein ziviles
Ziel, werden wir Rache üben an der am engsten bebauten und am dichtesten
bevölkerten palästinensischen Stadt. Wir werden es ihnen geben. Auge um
Auge.“ („Auge um Auge“ 18.1.05)
Wenn
Marcus auf den Stil von Propagandisten der dunkelsten Diktaturen des 20.
Jahrhundert zurückgreift, wenn er offen die Regierung dahin drängt, Rache
an unschuldigen palästinensischen Zivilisten zu nehmen, und so den Leser
auf Kriegsverbrechen großen Ausmaßes vorbereitet, dann kann man sicher
sein, dass die Armee nur um die Ecke ist.
(Man findet den Artikel
auf Englisch:
www.antiwar.com/hacohen/?articleid=4463)
(dt. Ellen Rohlfs)