Gedanken aus Rafah
von Starhawk
Während Bomben auf Bagdad fallen, Ungezählte dabei getötet
werden und meine Freunde rund um die Welt aus Protest
demonstrieren, Blockaden errichten, Verwaltungen still
legen, Straßen und Städte füllen, befinde ich mich in Rafah
an der südlichen Grenze des Gazastreifens und beschäftige
mich sehr mit dem Tod einer Frau. Vor einer Woche wurde
Rachel Corrie von einem Bulldozer zermalmt, als sie
versuchte, ihn am Zerstören noch eines palästinensischen
Hauses zu hindern. Ich kam hierher, um ihre Freunde und die
Aktivisten von der Internationalen Solidaritätsbewegung
(ISM), die mit ihr waren, zu unterstützen – und um den
Mörder zu sehen. Die Berichte der Freunde ließen keinen
Zweifel daran, dass der Soldat, der den Bulldozer fuhr, sie
gesehen hat und sich entschieden hat, sie zu töten. So ist
Rachel eine Märtyrerin geworden, eine palästinensische
Märtyrerin. Sie ist tatsächlich eine von über 1000 Märtyrern
dieser Intifada. Ihre Poster schmücken die Wände in ganz
Palästina. Sie sind die Kämpfer, die in der Schlacht getötet
wurden und die Kinder, die auf ihrem Schulweg erschossen
wurden.
Es sind die „Bomben auf Beinen“ und die Jungen, die mit
herausfordernder Geste Steine gegen Panzer werfen und die
als „Kollateralschäden“ Umgekommenen, wenn die Israelis
einen politischen Führer in einem von vielen Familien
bewohnten Haus mit Raketen in die Luft jagen. Und nun ist
auch Rachel unter diesen in ihrer typisch amerikanisch
blonden Schönheit. Auf einem Poster sieht sie ernst und
freundlich aus wie eine Studentin, die gerade ihre
Hochschul-Prüfung bestanden hat. Auf einem andern hält sie
gerade eine Rede, die Haare hinten zusammengebunden, der
Mund offen, mit leidenschaftlichem Gesichtsausdruck.
Ich höre ihren Freunden zu, wie sie ihren Tod beschreiben.
Sie halten sich an den Händen und weinen und denken daran,
wie all dieser Schmerz, die Trauer und die Sorgen sich nun
gerade jetzt in Bagdad vielfach wiederholt bei Menschen, die
namen- und gesichtslos sind und über die keine unserer
Medien berichten wird. Rachels Tod hätte sich auch unbemerkt
vollzogen, wenn sie eine Palästinenserin gewesen wäre. Ich
denke mir, dass man nichts von Ahmeds Tod gehört hat, einem
50jährigen Straßenkehrer aus Rafah. Er hatte von Rahels Tod
gehört, ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen und
wurde auf seiner Türschwelle abgeschossen – aus völlig
unerklärlichen Gründen. Er hat auch sein Märtyrerposter. Es
hängt neben Rachels Poster und wir trauern um beide.
Die Palästinenser haben ihre besondere Tradition mit
Märtyrern. Der Leichnam des Märtyrers kommt nicht mit Wasser
in Berührung. Das Blut an seinem Körper ist heilig. Also
wird er mit dem Blut ins Grab gelegt.
Diese Traditionen trösten die Palästinenser, sind aber
schwierig für ihre Freunde, die ihr Gesicht überall in der
Stadt sehen und mit ihrem Verlust in dieser Stadt nicht
fertig werden, und die dagegen ankämpfen, sie nicht als
Heilige in Erinnerung zu behalten, sondern als die Frau, die
sie war, manchmal stark, manchmal schwach, manchmal
liebenswürdig, manchmal gereizt, lustig, langweilig,
ärgerlich – aber nun nicht mehr da ist, so wie all die
andern, die während ihrer Semesterferien oder mitten aus
ihrem Leben hierher kamen, um sich einem Panzer in den Weg
zu stellen, Kinder zur Schule zu begleiten und jede Nacht in
einem anderen bedrohten Haus zu schlafen. Dies sind alles
bemerkenswerte, mutige Punkte in ihrem Leben, bei dem sie
entscheiden, dass die Angst sie nicht daran hindert, etwas
zu tun, von dem sie hoffen, dass es einen positiven Einfluss
auf eine unerträgliche Situation hat. Was ungewöhnlich an
ihnen ist, ist, dass sie gar nicht ungewöhnlich sind, gar
nicht viel anders als andere. Ein im Augenblick
Arbeitsloser, ein Fußballer, ein Website-Designer, ein
Student, ein freundlicher junger Mann, der sonst mit Pferden
und einer Kutsche durch den Park fährt. Einige sind seit
Jahren politisch sehr mit Aktionen engagiert. Einige hatten
das Gefühl, hierher kommen zu müssen.
Ich trinke mit Mohamed und Chris Kaffee. Sie war Rachels
Freundin und hatte Rachel ermutigt, nach Gaza zu kommen. Und
Mohamed hatte sein ganzes Leben nur in Gaza verbracht und
arbeitet mit einer Menschenrechtsorganisation. Er erzählt
uns, wie er sich auf seiner Reise nach Japan gefühlt hat,
als er einen Zug von Tokio nach Osaka nahm. „Ich war niemals
vorher solch eine weite Strecke ohne einen Kontrollpunkt
gefahren, ohne dass ich meinen Ausweis zeigen musste, ohne
einen Soldaten zu sehen,“ sagte er. „ Da erlebte ich, was es
heißt, frei zu sein.“
Wir sprachen über Traurigkeit und den Tod, und was wir
glauben. Mit mehreren Freunden bin ich im Gespräch über
Mitleid, und ich gebe zu, dass ich mit dem Fahrer des
Bulldozer ein Problem habe. Ich versuche, ihn zu verstehen –
aber es bleibt beim reinen Unverständnis. Chris meint, dass
Rachel gestorben sei, weil der Soldat sie nicht sah. Nicht,
dass er sie physisch nicht wahrgenommen hätte – denn er muss
sie gesehen haben. In einem weiteren Sinn sah er sie nicht
als menschliches Wesen, als kostbaren Teil des Lebens von
besonderem Wert.
Dieses Nicht-sehen ist die Wurzel der Beziehungen meines
eigenen Volkes zu den Palästinensern. Ich war niemals
gelehrt worden, sie zu hassen. Als mir in der Hebräischen
Schule die Geschichte der Gründung Israels nahe gebracht
wurde, waren die Palästinenser bei Seite gedrängt worden.
Sie wurden nicht erwähnt. Sie waren einfach nicht vorhanden.
Ich kann verstehen, dass für meine Großmutter, die in
größter Armut in einem russischen Schtedl aufgewachsen ist
und in Duluth in etwas weniger großen Armut lebte, die
Palästinenser nicht vorhanden waren und sie nie jemanden von
ihnen traf. Ich kann begreifen, dass Juden, die vor den KZs
und dem Nazi-Europa flohen und sich nach einem eigenen Staat
sehnten, genau so wenig die Palästinenser ins Bewusstsein
bekamen wie die aus Hitlers Deutschland voller Angst
Geflohenen, die nur einen Zufluchtsort suchten.
Aber diejenigen, die tatsächlich dort im Land waren und die
neuen Tatsachen ihrer Zeit schufen, müssten die
(Einheimischen) bemerkt, aber sich absichtlich entschieden
haben, das andere Volk, das ihnen im Weg stand, nicht zu
sehen – auch wenn dieses sich darum bemühte, nicht mit
Bulldozern in die Vergessenheit befördert zu werden. So wie
Sharon, Bush &Co und alle die, die schweigend daneben stehen
und rechtfertigen, die augenblicklichen Morde nicht zu
sehen. So wie uns jetzt die Opfer der Bomben auf Bagdad
nicht gezeigt werden.
Es gibt eine biblische Geschichte, die mich verfolgt und die
anscheinend mit all diesem hier etwas zu tun hat. Es ist
eine Geschichte, die in der Hebräischen Schule nie behandelt
wurde: Der Levit und die Konkubine.: ein Levit reiste mit
seiner Konkubine. In der Stadt Gideon, im Stamme Benjamin,
gab ihnen ein alter Mann für die Nacht Unterkunft. Nachts
kam eine Bande von Männern und wollte mit ihm Sex haben.
Stattdessen schickten der Gastgeber und der Levit die
Konkubine nach draußen, die von allen vergewaltigt und
schließlich tot auf der Türschwelle liegen gelassen wurde.
Als der Reisende nach Hause kam, teilte er die Leiche in 12
Stücke und sandte jedem Stamm ein Stück, um sie zum Krieg
aufzufordern. Der Krieg war blutig und brachte mehrere
Runden von Vernichtung und Kampf mit sich, tötete 16 000
hier und 20 000 dort in einem wahnsinnigen, genau so
sinnlosen Krieg wie der jetzige Angriff auf den Irak, bis
Benjamin besiegt war und alle anderen Stämme schwörten, dass
sie ihre Töchter nicht den Benjamitern geben würden. Danach
erst wurde ihnen klar, dass sie einen Völkermord begangen,
ja, einen ihrer eigenen Stämme ausgelöscht haben.... Ich
habe darüber viel nachgedacht, während ich zu ergründen
versuche, was sich im Kopf des Fahrers des Bulldozers
abgespielt haben mochte, das ihn dazu befähigte, absichtlich
eine schöne junge Frau mit seiner Maschine zu zermalmen.....
Ich kam zu dem Schluss, dass der Soldat nur das tat, was bei
Kolonisierung unvermeidbar ist. Als Kolonialherren können
wir es uns nicht leisten, die Kolonisierten als vollwertige
Menschen zu betrachten.
Wenn man dir also weis macht, den „Palästinensern wird das
Hassen beigebracht; Barak habe ihnen alles angeboten, aber
sie wollten keinen Frieden; sie lieben ihre Kinder nicht“...
dann sage: Genau das ist Kolonisation: du musst glauben, was
sie sagt.
Es beschädigt dein Ansehen, so wie der Fahrer jenes
Bulldozers durch diese Tat in seinem Ansehen viel, viel mehr
beschädigt wurde, als Rachels Körper durch das Zermalmen je
beschädigt werden kann.
Wenn ich könnte, würde ich euch jetzt einen Knochen
zusenden. Nicht um euch zu einem Krieg aufzufordern – weit
entfernt davon! Sondern, damit ihr konkret etwas sehen und
fühlen müsst. Etwas, das das Blut an euren Händen sichtbar
und sehr deutlich werden lässt. Ein Körperteil, eine
Schulter, ein dickes Stück Fleisch, von dem wirkliches Blut
tropft, etwas von dem Schutt unter dem Bulldozer, von der
Türschwelle, von dem Kind, das totgeschossen oder unter dem
Haus begraben wurde, etwas von den Schutzkellern von Bagdad
oder den blutigen Bussen in Tel Aviv. Ein Knochen, rot von
Blut, der darauf hindeutet: Dies ist es, was Kolonisation
verlangt: blutgetränkten Sand, heilige Erde, befleckt vom
Tod und menschlichem Opfer.
Starhawk (USA) 059-713923