Palästina – eine verletzte
Gesellschaft
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Seit die Gewaltwelle
Anfang Oktober begann, wurden
hunderte junge Menschen und
Jugendliche in den Unruhen, die das
Westjordanland erschüttern, durch
israelische Waffen verletzt, manche
von ihnen werden für den Rest ihres
Lebens an den Folgen leiden. Das
Rote Kreuz beziffert die Zahl der
verletzten Palästinenser im
Westjordanland, in Ost-Jerusalem und
Gaza mit mehr als 7.000; 410 durch
scharfe Munition, 1.485 durch
Gummigeschosse, 4.221 durch
Tränengas und der Rest durch Schläge
und Stürze bei der Teilnahme an
Protesten gegen die israelische
Armee, oder weil sie sich am
falschen Ort befunden hatten.
"Der Großteil der
Verletzungen heilt und hinterlässt
eine Narbe, aber andere verursachen
Paraplegien, Tetraplegien
(Querschnittslähmungen), Koma,
Knochenbrüche, Organverletzungen,
lange Rehabilitationsprozesse
usw...", erklärt Dr. Samir Saliba,
Direktor der Notaufnahme des
Krankenhauses in Ramallah gegenüber
EFE. Saliba
zeigt neue Bilder von Patienten,
eines von einem jungen Patienten mit
einem 10 mm-Gummigeschoss genau im
Zentrum des Gehirns, der sich zur
Zeit von einem Koma erholt.
Ein anderes
Gummigeschoss liegt 1 cm neben dem
Wirbelkanal der 26-j. Dalia Nasser,
es hat einen Teil der Lunge
durchschnitten und das Herz
gestreift. Bis sie wieder operiert
wird, um das Geschoss zu entfernen,
kann sie nur schwer atmen und bewegt
sich langsam, sie erzählt mit
monotoner Stimme, wie sie während
eines Protests gegen die jüdische
Siedlung Beit El von einem
israelischen Schützen in die Brust
getroffen wurde, obwohl sie, wie sie
betont, keinen Stein geworfen hat.
Laut dieser jungen
Frau, die ein Staatsexamen in
internationalen Beziehungen hat,
überwinden die jungen Menschen, die
an Demonstrationen teilnehmen, ihre
Angst verletzt zu werden und bleiben
"unbewaffnet vor einer der
mächtigsten Armeen der Welt" stehen,
weil die Realität ihres Lebens "mit
der israelischen Besatzung, die
jedes kleinstes Detail
konditioniert", verknüpft ist. "Du
beginnst, die Angst zu verlieren,
weil sie dir deine Würde genommen
haben und du keine andere Option
hast. Wir haben eine Besatzung, die
dir das Leben nimmt, deine Freunde
tötet und dir alles nimmst, wofür du
leben würdest. Zumindest haben wir
uns für unsere Würde entschieden",
sagt sie gegenüber EFE.
Mit den Protesten
"erinnern wir daran, dass wir unter
Besatzung leben, dass wir kämpfen
müssen, bis wir uns von ihr befreien
und das macht, dass wir mit Hass und
Wut leben. Wir hassen sie auch, weil
sie machen, dass wir mit solchen
Gefühlen leben, die sich sogar gegen
uns selbst richten. Zu protestieren
hilft uns, das zu kanalisieren und
macht, dass die Angst geringer
wird."
Der Psychologe Naser
Abu Matar leitet eine Organisation
in Ramallah, die Kindern und
Jugendlichen psychosoziale Therapie
anbietet; er zeigt die Härte des
Konflikts, der Kinder zu Erwachsenen
macht und ihnen einen Teil ihrer
Gegenwart und ihrer Zukunft raubt,
durch den Verlust eines Auges, eines
Gliedes, der Fähigkeit sich zu
bewegen oder auch ihrer Unschuld.
"Wenn jemand verletzt wird, fühlt er
sich wütend. Sie sind voller Ärger,
nervös und gleichzeitig fühlen sie
sich selbst wie Führer und geehrt,
weil sie glauben, dass sie mit ihren
Schmerzen an der Befreiung
Palästinas mithelfen. Sie würden
auch einen Teil ihres Körpers
opfern", erklärt er.
Abu Matar versucht
die Gewalt abzubauen, die nach jeder
Verletzung in ihnen größer wird,
versucht zu verhindern, dass sie
frustriert sind, wenn sie nicht mehr
die soziale Aufmerksamkeit erhalten
oder sich die Traurigkeit ihrer
bemächtigt und sie in manchen Fällen
von ihrer Familie, von Freunden, der
Schule oder von sich selbst
entfernt. "Viele ändern ihr
Verhalten. Wenn sie z.B. vorher
nicht gebetet haben, bekehren sie
sich zu Frommen. Oder umgekehrt.
Andere zeigen Anfänge einer
Depression und einige gefährden sich
selbst. Sie verstümmeln sich oder
spielen mit der Idee sich
umzubringen."
Milad (Name geändert)
hat eine Zehe und seine Arbeit
verloren, nachdem ihm bei einer
Demonstration in einen Fuß
geschossen wurde; mit einem Arm kann
er nicht schwer tragen, er fühlt
sich gehemmt und "nicht komplett".
Neben ihm sitzt der 17-j. Tamer
Yabarin mit einer Glasprothese in
seinem linken Auge; durch ein
Gummigeschoss hat an den Toren der
Al-Aqsa-Moschee, als er gerade
fliehen wollte, sein Auge zerstört.
Milad versichert, er werde (die
Teilnahme an den) Protesten nicht
aufgeben, er habe keine Angst, dass
sie ihn noch einmal verletzen. "Ich
gehe wegen denen hin, die sich für
unsere Freiheit geopfert haben",
versichert er.
Nadia hat
Sensibiltätsstörungen in einem Teil
ihres Armes, nachdem ein Projektil
Sehnen gestreift hat; ein anderes
Projektil hat sie während ihrer
Arbeit als Fotografin für eine
Organisation am Hals getroffen, der
durch eine kugelsichere Weste
geschützt war.
"Wir haben eine
invalide Gesellschaft, voller
Menschen mit posttraumatischem
Syndrom, Stress, psychischen
Problemen, vorübergehender oder
dauernder Invalidität in einer
Umgebung, in der solche Probleme
noch ein Stigma und eine Last für
die Familien sind", klagt er.
Quelle:
www.palestinalibre.org/articulo.php?a=58581
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Übersetzung: K. Nebauer
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