Die
3. Leseprobe aus Arn Strohmeyers neuem Buch
Antisemitismus – Philosemitismus und der
Palästina-Konflikt.
Hitlers langer verhängnisvoller Schatten
Umschlagentwurf Erhard Arendt
Gabriele Schäfer Verlag Herne - 17.80 Euro,
Die Vermischung von Holocaust und
Nahost-Problematik oder: sind die Araber Antisemiten?
Unterstützer und Propagandisten Israels unterstellen den
Kritikern der israelischen Politik grundsätzlich
antisemitische Motive. In Europa wie in Arabien bringe
der Antisemitismus strukturell gleichartige Selbst- und
Feindbilder hervor. Um ihre Behauptungen zu belegen,
müssen sie Ursachen in der Geschichte suchen. Und die
finden sie auch. So macht der deutsche Politologe Klaus
Holz die Ursache des heutigen Antisemitismus in der
Sowjetunion Stalins aus: „Tatsächlich wurde der
antizionistische Antisemitismus in den Jahren nach dem
Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion und zeitgleich in
den arabischen Ländern verbreitet.“ Dass Anfang der
50er Jahre Antisemitismus und Antizionismus zu prägenden
Komponenten Stalinscher Politik wurden, ist
unumstritten. Wobei unter die Restriktionen,
Verfolgungen und Hinrichtungen, die das System Stalins
unter der Parole Verschärfung des Klassenkampfes in
der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus
vornahm, nicht nur Juden fielen, sondern auch andere
Angehörige nationaler Minderheiten wie Wolgadeutsche,
Tschetschenen und Krimtartaren. Betroffen waren aber
auch Russen, Ukrainer und Weißrussen, darunter
Kommunisten wie auch Parteilose. Sie wurden zumeist als
„Agenten des Westens“ verdächtigt. Grund der Exzesse
gegen diese Personen war vor allem, von den Mängeln der
eigenen Wirtschafts- und Sozialpolitik abzulenken.
Furcht und Schrecken, die in dieser Zeit durch den
Zugriff des Regimes verbreitet wurden, sollten als
Mittel politischer Integration, als Kitt das Gemeinwesen
zusammenhalten.
Auf der
anderen Seite hatte Stalins Regime der Gründung eines
zionistischen Staates in der UNO-Teilungsresolution vom
November 1947 – wohl aus geostrategischen Gründen –
zugestimmt, verurteilte Antisemitismus und Zionismus
aber weiter als „Spielarten des bürgerlichen
Nationalismus“. Dem Zionismus und damit auch dem Staat
Israel sagte die Sowjetunion in der Folgezeit aus zwei
Gründen den Kampf an: Erstens hatte sich Israel in der
Bipolarität des Kalten Krieges auf der Seite des Westens
positioniert und zweitens widersprach das zionistische
Konzept von der Lösung der Judenfrage in Palästina als
Wahrnehmung des nationalen Selbstbestimmungsrechts der
ideologischen Grundüberzeugung, dass die Befreiung der
Menschheit einschließlich der Juden nicht durch solche
Alleingänge, sondern nur durch die sozialistische
Revolution anzustreben sei.
Warum
heutige Kritiker der israelischen Politik, die Holz
zufolge ein Zusammenschluss von Rechtsradikalen,
Antifaschisten, radikalen Linken und Muslimen sind, auf
Stalin zurückgreifen müssen, bleibt unerfindlich, hat
aber wohl damit zu tun, dass Leute wie Holz nie die
Ursache in Israels Politik selbst suchen dürfen. Er
schreibt: „War der Antizionismus lange Zeit die Domäne
stalinistischer, antiimperialistischer und
islamistischer Antisemiten, ist er inzwischen in
Kernelementen, befreit von stalinistischer und
islamistischer Rhetorik, in der demokratischen
Öffentlichkeit mehrheitsfähig. Die Vorzüge des
demokratischen Antizionismus können in drei Punkten
zusammengefasst werden. Erstens impliziert der
Antizionismus eine Täter-Opfer-Umkehr, lässt aber offen,
welche Variante in den Vordergrund tritt. Man kann ‚die
Zionisten‘ für den Nationalsozialismus verantwortlich
machen oder ‚den Israelis‘ vorwerfen, sie täten heute
mit den Palästinensern das, was sie selbst unter dem
Nationalsozialismus erleiden mussten. In allen diesen
Varianten geht es um die Abwehr von Schuld, die die
Identifikation mit der deutschen Nation verhindert und
als Rechtfertigungsdruck auf allem Antisemitismus nach
der Shoa lastet.“
Und
weiter: „Deshalb ist zweitens die Camouflage des
Antisemitismus als Antizionismus wesentlich. Statt von
‚Juden‘ zu sprechen, kann man die israelische Politik
angreifen, sich aber derselben Ressentiments bedienen.
Die israelische Politik in den besetzten Gebieten
liefert Scheinbelege für die Berechtigung dieser
Ressentiments, die mit rationalem Gestus als Kritik
vorgebracht werden können. Gleichwohl ist es in der
Regel leicht, antizionistischen Antisemitismus und
legitime Israel-Kritik zu unterscheiden. Sehr gute
Indikatoren hierfür sind einerseits der Vergleich
zwischen Israel und dem Nationalsozialismus,
andererseits die Generalisierung der Verantwortung für
die israelische Politik auf die Juden. Drittens
wurde nach dem Zusammenbruch der UdSSR der Konflikt
zwischen Orient und Okzident, zwischen ‚zivilisiertem
Westen‘ und ‚islamistischem Fanatismus‘ zentral. Die
seit jeher große Aufmerksamkeit für den Nahost-Konflikt
steht nun in einem globalen Zusammenhang, so dass der
antizionistische Antisemitismus über die
Täter-Opfer-Umkehr hinaus weltanschauliche Züge gewinnen
kann. Israel steht mitten in diesem Kampf zwischen Ost
und West und wird von den Antisemiten beider Seiten als
ein, wenn nicht der entscheidende Aggressor betrachtet.“
Dieser
Text enthält zahlreiche Ungereimtheiten und
Widersprüche, Holz arbeitet mit umgekehrten Stereotypen
und Unterstellungen, wie von Ran Ha Cohen oben zitiert:
Zionisten und Israel-Unterstützer bringen jede Kritik an
Israels Politik mit einer antisemitischen Verschwörung
in Verbindung: Erstens erstaunt die Begriffsvermengung
antizionistischer Antisemitismus, denn Judentum,
Zionismus und Israel (sowie entsprechend:
Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israels
Politik) sind verschiedene Dinge, die gerade ein
Wissenschaftler sauber voneinander trennen sollte. Tut
man es nicht, kommt man zu so falschen Schlüssen wie
Holz, denn zweitens ist der Staat Israel, wie Holz
ständig wiederholt nur zum Teil der Staat der
Holocaust-Überlebenden. Das zionistische Projekt begann
schon Ende des 19. Jahrhunderts, und lange vor dem
Holocaust hatten die Zionisten in Palästina schon
vorstaatliche Strukturen aufgebaut, einschließlich
eigener militärischer Verbände. Drittens fehlt jede
kritische Wahrnehmung, geschweige denn
Auseinandersetzung mit der Ideologie und der Geschichte
des Zionismus. So bestreiten sogar Israelis, dass der
Zionismus mit humanistischen Werten vereinbar sei, so
etwa der israelische Philosoph Omri Boehm. Holz
argumentiert, um Israels Geschichte und Politik nicht
kritisieren zu müssen, völlig ahistorisch – eben ganz
zionistisch.
Viertens
fehlt jede Erwähnung der massiven Völkerrechts- und
Menschenrechtsverletzungen durch Israel, die israelische
Politik liefert dafür Holz zufolge nur „Scheinbelege“.
Gibt es nicht über 100 Resolutionen der UNO, die Israel
verurteilt haben sowie Gutachten des Internationalen
Gerichtshofes in Den Haag und Berichte des
UNO-Menschenrechtsrates in Genf, die Israel schwere
Verletzungen des Internationalen Rechts vorwerfen?
Israel ist zweifellos ein Täter, auch wenn seine
Täterschaft eine andere Dimension hat als die der
Nationalsozialisten. Es gibt zwischen beiden Täter-Typen
eine Ähnlichkeit, so unterschiedlich sie sonst zu
bewerten sein müssen: Es ist der „Verlust menschlichen
Respekts für den anderen“, der das Kennzeichen der
israelischen Besatzungspolitik mit all ihren
Grausamkeiten – einschließlich Folter – ist.
Daran
schließt sich fünftens ganz automatisch die Frage an:
Haben die Palästinenser, nach allem, was sie mit und
unter den Zionisten erlebt haben – Vertreibung des
größten Teils ihres Volkes und die Zerstörung ihrer
Gesellschaft und Kultur, ein Prozess, der bis heute
andauert – keinen Grund zum Hass auf Israel? Israel ist
nicht das „Unschuldslamm“, als das seine Verteidiger und
Unterstützer es darstellen. Israel schürt mit seiner
Kriegs- und Besatzungspolitik selbst den Hass, den es
anschließend als „Antisemitismus“ und „Terrorismus“
beklagt. Selbst der renommierte britisch-jüdische
Historiker Eric Hobsbawn bestätigt das. Er nannte
Israels Gaza-Krieg 2008/09 „entsetzlich“ und stellte in
diesem Zusammenhang fest: „Israels Regierungshandlungen
rufen Scham unter den Juden und heute mehr
Antisemitismus als alles andere hervor.“ Und er fragt:
„Wie viel von dem schlechten Gewissen [nach dem
Holocaust], das praktisch 60 Jahre lang Antisemitismus
im Westen ausgeschlossen und ein goldenes Zeitalter für
die Diaspora produziert hat, ist heute davon übrig
geblieben?“ Es sei an dieser Stelle auch noch einmal
an die jüdische Historikerin Esther Benbassa erinnert,
die durch denselben Krieg Israels ihre jüdische
Identität in Frage gestellt sah.
Es fehlt
bei Leuten wie Holz sechstens auch jede Erwähnung von
und jede Auseinandersetzung mit den kritischen und zum
Frieden bereiten Juden, die es in Israel und der
Diaspora gibt. Das passt nicht ins eigene ideologische
Bild und würde die Tabus brechen, die man selbst
aufgebaut oder von den Zionisten übernommen hat. Nun mag
es in der rechten und linken deutschen Szene viel
krauses und wirres Gedankengut geben, das mit Ausfällen
gegen Israel seine Schuld für die Verbrechen der Nazis
kompensieren will, aber das allen Kritikern der
israelischen Politik vorzuwerfen, ist nichts als eine
Unterstellung. Warum sollte eine universalistisch
verstandene Schlussfolgerung des „Nie wieder!“ aus dem
Holocaust, die sich nicht nur auf Juden und Israel,
sondern auf alle Menschen bezieht, und die furchtbaren
Realitäten der israelischen Politik wahrnimmt, in diesen
Zusammenhang zu stellen sein?
Für die
meisten Israel-Verteidiger und Nachbeter der
israelischen Propaganda ist einzig der islamische
Antisemitismus für den Konflikt Israels mit den
Palästinensern verantwortlich. Die Fakten, dass eine
Staatenbildung durch zugewanderte Fremde in einem voll
bewohnten Land Gewalt automatisch herbeiführen muss
(wovor ja auch viele vorausschauende Zionisten gewarnt
haben), und es Hass auf den Zionismus im Nahen Osten
erst seit der Ankunft der ersten jüdischen Siedler in
Palästina gibt, sind sie nicht bereit einzugestehen.
Wie früh
die Unterdrückung und die Gewalt gegen die Palästinenser
begonnen hatten, macht ein Bericht des
russisch-jüdischen Philosophen Ahad Ha’am deutlich, der
Palästina besucht hatte und nach seiner Rückkehr 1891
einen Essay mit dem Titel „Wahrheit aus dem Lande
Israel“ verfasst hatte. Darin heißt es unter anderem:
„Außerhalb Palästinas glauben wir gemeinhin, dass das
Land Israel fast gänzlich öde sei, eine unkultivierte
Wüste, und dass jedermann, der das Land zu kaufen
wünscht, hingehen und erstehen könne, soviel er will.
Aber in Wahrheit ist dem nicht so. Im gesamten Land ist
es sehr schwer, geeigneten Boden zu finden, der nicht
schon kultiviert ist. (...) Außerhalb Palästinas glauben
wir gemeinhin, dass die Araber alle wilde Wüstenbewohner
seien, wie Esel, die weder sehen noch verstehen, was um
sie herum vor sich geht. Aber dies ist ein großer
Irrtum. (...) Eine Sache hätten wir ganz gewiss aus
unserer vergangenen und gegenwärtigen Geschichte lernen
können: wie behutsam wir sein müssen, um nicht durch
tadelnswertes Verhalten den Zorn anderer Leute gegen uns
zu erregen. Um wie viel mehr sollten wir dann bemüht
sein, einem fremden Volk, unter dem wir wieder leben,
mit Liebe und Achtung und natürlich mit Gerechtigkeit
und Aufrichtigkeit zu begegnen. Und was machen unsere
Brüder im Lande Israel? Ganz das Gegenteil! Sie waren
Sklaven in den Ländern des Exils, und plötzlich verfügen
sie über unbegrenzte Freiheit, die Art wilder Freiheit,
die sich nur in einem Land wie der Türkei [Palästina
gehörte damals zum Osmanischen Reich] finden lässt.
Dieser plötzliche Wandel hat in ihnen einen Drang zum
Despotismus ausgelöst, wie es stets geschieht, wenn ‚ein
Sklave König wird‘, und siehe da, sie begegnen den
Arabern mit Feindschaft und Grausamkeit, berauben sie
ihrer Rechte, schlagen sie schmählich ohne Grund,
brüsten sich dessen sogar, und niemand wirft sich
dazwischen und gebietet ihrem gefährlichen und
abscheulichen Trieb Einhalt.“
Die
Auseinandersetzung zwischen Israel und den
Palästinensern ist in den Augen der Israel-Verteidiger
auch kein kolonialer Konflikt – mit allen Folgen, die
Kolonialismus mit sich bringt: Landraub, Vertreibung,
Entrechtung, Unterdrückung, Besatzung usw. Diese
Israel-Versteher argumentieren rein zionistisch: Die
Palästinenser sind Antisemiten, sie wollen keinen
Frieden. Das Problem, das allem zu Grunde liegt, ist für
sie der Antisemitismus und in seinem Gefolge der
„Terrorismus“. Nun gibt es auch im Völkerrecht für
unterdrückte oder besetzte Völker ein Widerstandsrecht
gegen das feindliche Militär, aber das ist für sie kein
Argument. Israel ist und bleibt das Opfer und ist so
auch von jeder Verantwortung befreit.“
Die so
gut wie identische Sicht von jüdisch-zionistischen
Israelis und deutschen Israel-Verteidigern kommt
besonders darin zum Ausdruck, dass hier die jüngere
Geschichte und die Gegenwart miteinander vermengt
werden, soll heißen, dass der Konflikt Israels mit den
Palästinensern vor allem im Zusammenhang mit dem
Holocaust gedeutet wird. Das führt aber unweigerlich zur
Nicht-Wahrnehmung, ja Verleugnung wesentlich realer
Ursachen des Palästina-Konflikts und seiner
Austragungsformen. Der deutsch-jüdische Historiker Dan
Diner hat diesen Sachverhalt untersucht, und in den
folgenden Absätzen wird im Wesentlicher seiner
Argumentation gefolgt.
Um eine
nationalstaatlich-jüdische Existenz in einem von einem
anderen Volk bewohnten Land aufzubauen, mussten sich die
Zionisten kolonialer Mittel bedienen. Die arabischen
Politiker wehrten sich verständlicherweise gegen die
Verdrängung. Obwohl die Palästinenser die Reagierenden
waren, wurden sie von der Wahrnehmung (und der
zionistischen Propaganda) her sehr bald in die Rolle des
Angreifers versetzt. Entsprechend ihrer Jahrhunderte
langen Erfahrung stellten und stellen sich die in
Palästina neu zugewanderten Juden als die Hassobjekte
und Angriffsziele – also als die Opfer – dar. Diese
historische Verkehrung von Opfer und Täter bezeichnet
Diner als ein „fundamentales Grundmotiv des
Palästina-Konflikts.“ Diese Verkehrung machte es
auch möglich, dass die Israelis ihre Schuld, die
Palästinenser im Verlauf des zionistischen
Kolonisationsprozesses verdrängt und vertrieben zu
haben, leugnen konnten, was dazu führte, dass bis heute
ein erbitterter Streit um Fakten und Tatsachen geführt
wird (etwa um die Nakba) und weniger um die Deutung des
Geschehens.
Diner
schreibt: „Das Grundmuster in der Konfliktwahrnehmung
der überwiegenden Mehrheit der israelischen Juden ist im
Wesentlichen Verleugnung des Geschehens – der Mittel und
Maßnahmen des Kolonisationsprozesses, wie er gegen die
arabisch-palästinensische Bevölkerung des Landes zur
Herbeiführung eines jüdisch-nationalistischen
Staatswesens durchgesetzt wurde; schließlich einer
palästinensischen Existenz überhaupt. Ersetzt wird diese
verleugnete Wirklichkeit in Palästina durch Deutungen,
die mit den schrecklichen und wirklichen Erfahrungen der
Juden, ihrer Verfolgung bis hin zum Versuch ihrer
totalen Vernichtung in der Diaspora in Verbindung
stehen. Sie wirken sich hinsichtlich der Wahrnehmung der
Realität wie eine Plombe aus: sie dichten ab.“
Israelische Juden und Juden in der Diaspora deuten
infolge dieser Verleugnung den Konflikt mit den
Palästinensern und den arabischen Staaten ringsum im
Zusammenhang mit dem Antisemitismus und dem Holocaust.
Als Grund für diese Übertragung bietet sich der
koloniale Charakter des Konfliktes selbst an, der nicht
kompromissfähig ist. Es gibt nur ein „Wir“ oder „Sie“ –
es geht also nicht um territoriale Zugeständnisse,
sondern um die nackte kollektive Existenz israelischer
Juden und Araber im Land. Deshalb wird der Konflikt auch
mit solcher Verbissenheit geführt. In diesem totalen
Charakter des Konflikts sieht Diner das wirkliche
Einfallstor für Bilder und Metaphern der
Judenvernichtung in Europa: „So wird etwa eine
eventuelle militärische Niederlage Israels notwendig als
eine Auslöschung des Kollektivs angenommen. Eine solche
Niederlage zu verhindern, erfordert wiederum, den
Konflikt mit allen verfügbaren Mitteln zu führen – als
präventive Ausübung erwarteter arabischer Gewalt. Und
wenn im Konflikt die Vernichtung des einen durch den
anderen angelegt ist, die kolonialen Ursprünge und
Verlaufsformen dieser Gewalt aber jüdischer- und
israelischerseits hartnäckig geleugnet werden, dann
lässt sich die Wirklichkeit um und in Palästina nur als
Fortsetzung der bisherigen Geschichte außerhalb
Palästinas deuten. Die Bedeutung des wirklichen
Konflikts um Palästina wird dabei unerheblich. Er stellt
nur noch bloßes Material bereit für eine Sinngebung,
deren Koordinaten sich in der Geschichte Europas
befinden, nicht aber im Vorderen Orient, am Ort des
tatsächlichen Geschehens.“
Der
Ausgang aus diesem Konflikt kann – so Diners Prognose –
nur ein düsterer sein, denn das von der Erfahrung des
Holocaust geprägte Bewusstsein in diesem Konflikt läuft
auf ein sicheres Verhängnis hinaus. Nach dem Modell der
sich selbst erfüllenden Prophezeiung, könne das ständige
Bemühen, das Verhängnis zu verhindern, nur dazu
beitragen, es herbeizuführen. Soweit Dan Diner, der mit
diesen Aussagen bestätigt, dass der Zionismus ein
ethnozentrisches und isolationistisches politisches
System ist – ja, die Partikularität steigerte sich noch
nach der jüdischen Katastrophe in Europa in einen
kollektiven Rückzug von den Nicht-Juden.
Das hier
von Diner beschriebene Deutungsmuster – also die
Vermischung des Traumas der nationalsozialistischen
Judenvernichtung mit der kolonialen, von Gewalt
geprägten Situation, die die zionistischen Zuwanderer
mit ihrem Projekt auf palästinensischem Land geschaffen
haben – besagt anders formuliert, dass sich die
Wahrnehmung der europäischen Geschichte in den
Palästina-Konflikt hineingeschoben hat. Nicht zuletzt
dadurch ist er unlösbar geworden.
Deutsche
Verteidiger und Propagandisten Israels übernehmen dessen
rein zionistische Argumentation, weil sie den Konflikt
erstens ahistorisch sehen und ihn zweitens
entpolitisieren. Die Feindschaft zwischen Israelis bzw.
Juden und Palästinensern bzw. Arabern wird
verabsolutiert. Sie wird nicht aus dem kolonialen
historischen Prozess heraus erklärt, sondern ahistorisch
gesehen. Die Feindschaft wird als gegeben,
unveränderlich und unausweichlich verstanden und
dargestellt, sie wird sozusagen auf das „Wesen“ der
Araber zurückgeführt – eben auf deren Antisemitismus. Es
wird auch unhinterfragt der zionistische Mythos, der zum
Dogma und zur Staatsräson geworden ist, übernommen, dass
Israel das Land des jüdischen Volkes ist. Die
Palästina-Frage wird aus der Angst heraus verdrängt,
dass dieser Grundsatz der Staatsräson in Frage gestellt
werden könnte, und nur noch die Palästinenser-Frage
steht auf der Tagesordnung.
Diese
Agenda wird aber nur unter sicherheitspolitischen und
militärischen Aspekten gesehen und auf diese Weise
vollständig entpolitisiert. Der Konflikt mit den
Palästinensern bzw. den Arabern wird also so verstanden,
dass es dabei gar nicht um Land und Ressourcen geht,
sondern um die generelle Ablehnung des jüdischen
Staates, also um die grundsätzliche Feindschaft der
Nicht-Juden, also letzten Endes um die antisemitische
Einstellung der Nicht-Juden. Die deutsch-israelische
Historikerin Tamar Amar-Dahl schreibt: „Entpolitisierung
des Konflikts meint hier, den Konflikt nicht etwa in der
eigenen Politik, Kriegs-, Siedlungs- oder gar
Bevölkerungspolitik, zu verorten, sondern vielmehr in
der ‚umfassenden Feindseligkeit‘, in der ‚Mentalität der
Anderen‘. ‚Die Gewalt der anderen‘ bzw. der ‚arabische
Vernichtungswille‘ bilden im israelischen Bewusstsein
die Grundlage für den arabisch-israelischen Konflikt.“
Die deutschen Israel-Propagandisten sprechen in diesem
Zusammenhang von „eliminatorischem Antisemitismus“,
benutzen also einen Begriff aus dem Holocaust-Diskurs.
Sie geben sich damit als lupenreine Anhänger des
Zionismus zu erkennen.
Sie
leugnen also den kolonialen Anteil des Konflikts und
beschränken ihn aus ihren philosemitischen
Schuldgefühlen heraus ausschließlich auf den Aspekt des
Antisemitismus. So können sie wie die Zionisten die
Palästinenser und die Araber in die Nähe der Nazis
bringen oder sie sogar als die „neuen Nazis“ ansehen,
obwohl diese mit dem Holocaust nichts zu tun hatten. Die
Palästinenser mussten mit dem Verlust ihres Landes und
der Zerstörung ihrer Gesellschaft und Kultur den Preis
für die deutschen Verbrechen zahlen. Aber die deutschen
philosemitischen Israel-Freunde tun sich damit keinen
Gefallen, weil man sich eben mit dieser Sicht auf den
Konflikt in Palästina den Blick auf seine wahren
Ursachen und seinen Fortgang verbaut und zu politisch
falschen Schlüssen kommen muss. Dazu gilt: Man kann sich
nicht vom Antisemitismus befreien, wenn man Juden nicht
für kritisierbar hält. Und die Israelis tun sich
keinen Gefallen, wenn sie die Opfer der Kolonisation
(die Palästinenser) mit Tätern oder sogar mit NS-Tätern
gleichsetzen, sich selbst aber als die wahren Opfer
wahrnehmen. Das bezeugt nur die Unfähigkeit bzw. die
Angst, die eigene Geschichte aufzuarbeiten. So ist eine
Ende des Konflikts nicht möglich.
Dan Diner
hat den hier zitierten Artikel 1983 geschrieben, also
vor 32 Jahren. Die auch nach dieser langen Zeitspanne
unverändert starren und unversöhnlichen Fronten in
dieser völlig asymmetrischen Auseinandersetzung belegen,
dass seine Wahrnehmung des Konflikts richtig war und
ist.
*
Abraham
Burg schildert, wie es dazu kam, dass die Araber bzw.
die Palästinenser in Israel so verhasst wurden, dass man
sie zu den „neuen Nazis“ machte. Dieser Vorgang hängt –
so Burg – mit der Beziehung zu Deutschland zusammen. Mit
dem Land der Täter habe man sich viel zu früh und
überhastet versöhnt. Die Aufnahme staatlicher
Beziehungen sie zwar aus nüchternen, praktischen
Erwägungen erfolgt, hätte aber zu einer emotionalen
Akzeptanz der Deutschen geführt. Dieses zu frühe
Verzeihen habe zu einer Krise der modernen jüdischen
Identität geführt. Die Wut- und Rachegefühle, die ja da
waren, seien einfach von einem alten Feind auf einen
neuen – eben die Palästinenser – übertragen worden, weil
sie angeblich genauso seien wie die Nazis, sogar
schlimmer als die Deutschen. „Und so erlauben wir uns,
(...) die Palästinenser als Prügelknaben zu behandeln,
an denen wir unsere Aggression, Wut und Hysterie
auslassen, wovon wir mehr als genug haben.“
Burg
schildert einen Besuch in einer renommierten Oberschule
in Jerusalem. Er war einigermaßen fassungslos über die
Ansichten der Schüler: Sie setzten sich unter dem
Beifall ihrer Kameraden ganz selbstverständlich für
Deportation und Transfer der Palästinenser (also
Vertreibung) ein, Rache ist für sie eine akzeptierte
Methode und das Töten Unschuldiger ein legitimes
Abschreckungsmittel. Auf die Frage, ob sie denn den
Deutschen verziehen hätten, sagte ein Schüler: „Ja, sie
haben mir nichts getan. Sie waren nicht so schlimm wie
die Araber.“ Burg zieht aus diesem Erlebnis das Resümee:
„Die politische Manipulation, die aus den Arabern
geistige Brüder der Nazis oder Schlimmeres machte, bot
uns eine bequeme Möglichkeit weiterzuleben. Die
Wiederaufnahme der Beziehungen zu Deutschland und dem
Westen erlaubte es uns, Reparationen und
Entschädigungszahlungen von Deutschland zu bekommen.
Gleichzeitig beklagten wir weiter unser schlimmes
Schicksal, brachten unsere Wut zum Ausdruck, pflegten
die Erinnerung, vergaßen nicht und sahen die
Reinkarnation des Nazigeistes im arabischen Körper.“
Ganz
anders schildert der amerikanisch-jüdische Historiker
Peter Novick, wie man die Palästinenser zu den „neuen
Nazis“ gemacht hat. Der Antisemitismus hatte auch unter
amerikanischen Juden als ein Bindemittel gedient, um den
Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft zu sichern. Als
der Judenhass nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr
verschwand, verkümmerte auch die jüdische Identität
zunehmend. Da der Holocaust vor allem bei jungen Juden
ein großes Interesse hervorrief, förderten die jüdischen
Organisationen das Holocaust-Bewusstsein. Es entstand
eine so auf den Holocaust konzentrierte jüdische
Identität, die sich vor allem aus der Überlebensangst
speiste, aber auch aus dem schlechten Gewissen vieler
älterer Juden, während des Holocaust zu wenig für die
Rettung der Bedrängten getan zu haben. Die Entstehung so
vieler Holocaust-Museen in den USA verdankt sich dieser
Bewegung.
Der
israelische Sieg über die Araber im Juni-Krieg 1967 und
die territoriale Expansion hatten in der jüdischen Welt
eine Welle der Euphorie ausgelöst, der Krieg 1973 weckte
dagegen ganz andere Gefühle. Zwar hatte Israel auch
diesen Krieg gewonnen, aber es hatte auch
furchteinflößende Niederlagen und beträchtliche Verluste
hinnehmen müssen. Es schwand also das Gefühl, dass
Israel ein sicherer Platz für Juden sein konnte. Zudem
wuchs die Besorgnis über Israels zunehmende Isolierung
in der Welt. So wurde die Lage der europäischen Juden in
den 30er Jahren und die Angst vor einer neuen Welle des
Antisemitismus, ja, vor einem neuen Holocaust
beschworen, was auch dazu führte, das
Holocaust-Bewusstsein zu fördern. Denn die jüdischen
Organisationen führten den Verlust an Sympathie und
Freundschaft dem Judentum gegenüber auf das Vergessen
des Holocaust zurück. Die verblassende Erinnerung an die
Nazi-Verbrechen sei für Israels Isolierung
verantwortlich, hieß es.
Diese
Argumentation war auch eine Reaktion auf die Einsicht in
der internationalen Staatenwelt, dass der
Nahost-Konflikt nur gelöst werden könne, wenn auch die
Palästinenser ihr Recht auf Selbstbestimmung erhielten.
Da läuteten bei den jüdischen Gruppen in Amerika die
Alarmsignale. Es wurde deswegen eine „diffuse Beziehung
zwischen dem Holocaust und Israels Sache“ hergestellt.
Novick schreibt: „Insofern das Nahost-Gewirr in einem
Holocaust-Deutungsmuster gesehen werden konnte,
verschwanden sein komplexes und zweideutiges Recht und
Unrecht im Hintergrund. Übliche Konflikte wurden mit all
der moralischen Schwarzweißklarheit des Holocaust
ausgestattet, die für die israelische Sache ein
strategischer Trumpf wurde.“
In diesem
Zusammenhang wurde die Legende kreiert, die
Palästinenser seien die „neuen Nazis“, die Israel
zerstören wollten. Die Palästinenser wurden nun
beschuldigt, eng mit den Nazis zusammengearbeitet zu
haben, ja, sie hätten sogar eine wichtige Rolle bei der
Durchführung des Holocaust gespielt. Ins Zentrum dieser
Vorwürfe rückte der Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin
al-Husseini, ein palästinensischer nationalistischer
Anführer, der vor der britischen Mandatsmacht fliehen
musste und sich in Deutschland den Nazis andiente.
Novick entgegnet auf diesen Vorwurf: „Die Behauptung
palästinensischer Mitschuld an der Ermordung der
europäischen Juden war zu einem gewissen Ausmaß eine
Verteidigungsstrategie, eine Präventivantwort auf die
palästinensische Klage, dass, wenn Israel die
Entschädigung für den Holocaust sei, es ungerecht war,
dass palästinensische Moslems für die Verbrechen der
europäischen Christen zahlen sollten.“
Wenn die
Palästinenser die „neuen Nazis“ sind, dann muss man sie
töten, bevor sie einen selbst töten, dachten offenbar
viele Juden. Solche Ideen haben aber Folgen. Der
jüdische Arzt Baruch Goldstein, der bei einem Amoklauf
in Hebron 49 betende Moslems tötete, hatte vor seiner
Tat davor gewarnt, dass „die arabischen
Nationalsozialisten die Juden wieder angreifen würden.“
Er wurde nach seinem Mordanschlag selbst erschossen.
Goldstein wird heute von nationalreligiösen Juden wie
ein Heiliger verehrt und sein Grab ist eine
Pilgerstätte. Aber der Vorwurf an die Palästinenser, sie
seien die „neuen Nazis“, lässt sich schon früher
nachweisen. Ilan Pappe schildert, dass jüdische Soldaten
währende der ethnischen Säuberung Palästinas 1947/48 oft
Bedenken zeigten, gegen palästinensische Ortschaften
vorzugehen, weil dort alles friedlich war und keinerlei
Widerstand geleistet wurde. Es seien daraufhin
Politkommissare zu den Truppen geschickt worden, die die
Soldaten mit der drohenden Katastrophe eines neuen
Holocaust durch die Palästinenser konfrontierten. Sie
sollten so zu dem gewaltsamen Vorgehen gegen die
Palästinenser aufgehetzt werden. Pappe beruft sich bei
seinen Aussagen auf die israelische Bürgerrechtlerin
Shulamit Aloni, die damals Offizierin in der Armee war.
Pappe hat auch Einblick in die Tagebuchaufzeichnungen
Ben Gurions aus dieser Zeit genommen, da ist allerdings
nie vom Bevorstehen eines neuen Holocaust die Rede. Es
handelte sich um eine reine Propagandalüge.
Die
Diffamierungen von Arabern als Nazis gingen dann auch in
der Folgezeit weiter. Ben Gurion bezeichnete den
ägyptischen Staatschef Gamal Abdel Nasser als „neuen
Hitler“, der israelische Ministerpräsident Menachem
Begin beschimpfte den Nachfolger Nassers, Anwar al
Sadat, als „Hitler vom Nil“ , später schloss er mit
demselben Politiker einen Friedensvertrag ab. Die
Palästinensische Befreiungsorganisation PLO war für
Begin eine „Neonazi-Organisation“ Als israelische
Truppen 1982 das Hauptquartier von PLO-Chef Yasser
Arafat in Beirut belagerten, war es für Begin dieselbe
Situation wie 1945 in Berlin: Arafat war Hitler in
seinem Bunker unter der Reichskanzlei. Auch der jetzige
israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu hat
ständig solche NS-Vergleiche parat. Diesmal planen aber
nicht die Palästinenser einen neuen Holocaust, sondern
die Iraner. Netanjahu behauptet das schon seit 20
Jahren. Und bis zu seinem Abtritt von der politischen
Bühne in Teheran war der iranische Präsident
Ahmadinedschad der „neue Hitler“. Es verwundert nicht,
dass sich die Araber revanchierten und nun umgekehrt den
Zionismus mit dem Nationalsozialismus verglichen.
Wie
antisemitisch sind die Araber wirklich? Besonders für
zionistische Autoren ist der Antisemitismus der Araber
eine unabhängige Größe, sozusagen ein unabänderlicher
Wesenszug. Deutsche Israel-Propagandisten – wie etwa
Mathias Küntzel – gestehen zwar zu, dass es im
muslimischen Raum vor dem 20 Jahrhundert keinen
Antisemitismus von der in Europa vorherrschenden Art
gegeben habe, behaupten aber, dass er über muslimische
Akteure dorthin gekommen sei und sich dann wie eine
Epidemie ausgebreitet habe. Sie sprechen in diesem
Zusammenhang von „eliminatorischem Antisemitismus“ nach
NS-Vorbild, den sie mit Islamismus (Djihadismus)
gleichsetzen. Dieser „eliminatorische Antisemitismus“
soll die Ursache dafür sein, dass die Palästinenser
Gewalt gegen die Juden anwenden. Diese These ist aber
mehr als zweifelhaft. Man kann ja ganz ernsthaft die
Frage stellen, ob es einen Antisemitismus im arabischen
Raum auch geben würde, wenn der zionistische Staat in
Argentinien oder Uganda (wie auch ins Auge gefasst)
gegründet worden wäre.
Selbst
der Israeli Yehoshafat Harkabi, ein
Politikwissenschaftler, Militärhistoriker und
zeitweilige Leiter des Geheimdienstes Aman, widerspricht
solchen Behauptungen: „Man sollte unbedingt und mit
Nachdruck festhalten, dass arabischer Antisemitismus
nicht die Ursache des Konflikts ist, sondern eine seiner
Folgen; er ist nicht der Grund für eine feindselige
Einstellung von Arabern gegenüber Israel oder den Juden,
sondern ein Mittel, diese Feindseligkeit zu vertiefen,
zu rechtfertigen und zu institutionalisieren. Seine
Zunahme hängt mit den Spannungen zusammen, die durch
zionistische Aktivitäten erzeugt werden, insbesondere
durch die traumatische Erfahrung der Niederlage, die
Errichtung eines unabhängigen Israel und den Kampf
dagegen. Der Antisemitismus ist eine Waffe im Rahmen
dieses Kampfes. Er spielt eine funktionale und
politische Rolle und ist kein gesellschaftliches
Phänomen. (...) Daher stellt er die Juden auch nicht als
passive, jämmerliche Parasiten dar, sondern als
Aggressoren. Anders als der westliche christliche
Antisemitismus ist er nicht das Ergebnis einer über
Generationen andauernden Hetze, die im Bewusstsein der
Bevölkerung einen Archetypus entstehen ließ, obwohl es
auch im Islam Ansatzpunkte für Antisemitismus gibt.“
Man muss
festfalten: Erst das zionistische Projekt, einen
jüdischen Staat in Palästina und damit im arabischen
Raum gründen zu wollen und seine Durchführung haben dort
eine antiisraelische oder antizionistische Haltung
hervorgebracht, die zunächst nicht antisemitisch war,
und es auch nur dann ist, wenn sie sich als Hass oder
Feindschaft gegen Juden als Juden richtet oder Israel
als „kollektiver Jude“ gesehen wird. Der Arabist
Alexander Flores nennt drei Gründe, warum die arabische
Gegnerschaft zu den Zionisten oft auch antisemitische
Formen annahm: Die immensen Schäden und Ofer, die die
zionistische Kolonisierung den Arabern besonders aber
den Palästinensern zugefügt hat. Dazu kam der Anspruch
Israels, für alle Juden weltweit zu sprechen und zu
handeln und alle nicht- oder antizionistischen Stimmen
dabei an den Rand zu drängen. Dadurch wurde der
Unterschied zwischen Zionismus und Judentum in der
Wahrnehmung der Araber oft verwischt, was wiederum ein
Denken in der Kategorie die Juden begünstigte.
Zudem lassen die großen Mächte der Welt Israel bei
seiner grausamen und äußerst inhumanen
Kolonisierungspolitik ohne einzuschreiten gewähren, was
bei den Arabern den Verdacht einer großen Verschwörung
nährt.
Es kann
nicht verwundern, dass der durch das Wirken des
Zionismus entstehende Hass auch in Antisemitismus
umschlägt – auch wenn Zionisten das bestreiten und
behaupten, dass der palästinensische Antisemitismus
primär und der Auslöser für die Angriffe auf das
zionistische Unternehmen und Israel gewesen sei. Israel
habe sich immer nur verteidigt, wird also als
„Unschuldslamm“ dargestellt. Wenn man die Fakten kennt,
schon das Niederschlagen des Palästinenseraufstandes
1936 zusammen mit den Briten, die Nakba 1948, Israels
Kriege gegen die Araber und besonders gegen die
Palästinenser mit dem stetigen Zugewinn an Land sowie
die brutale Siedlungs- und Besatzungspolitik bis heute,
dann erscheint eine solche Sichtweise eher absurd und
weltfremd, hat aber natürlich die Funktion, Israel gegen
jede Kritik zu immunisieren und die Schuld auf die
Araber zu schieben.
Auch wenn
es also Antisemitismus bei den Arabern und
Palästinensern gibt, muss man konstatieren, dass dem
heutigen arabischen Antisemitismus ein realer
Kolonialkonflikt zu Grunde liegt. Man kann diesen
Konflikt und seine Auswirkungen nicht einfach
ausklammern. Auch wenn Araber antisemitische Stereotypen
aus Europa übernommen haben, so gibt es doch bedeutsame
Unterschiede zwischen dem europäischen und arabischen
Antisemitismus. Wenn ersterer seine Ursache in der Suche
nach Sündenböcken für gesellschaftliche
Fehlentwicklungen hat, erklärt sich der palästinensische
Antisemitismus eher aus kultureller Rückständigkeit
(Stichwort: Verlierer der Modernisierung) und der tiefen
Frustration, die die Besatzungsmacht mit ihrer
Unterdrückung, Demütigung und Erniedrigung bei diesen
Menschen hervorruft. Gilbert Achcar weist den Zionisten
die klare Verantwortung für diese spezielle Form des
Judenhasses zu: „Die Verantwortung dafür ist in der Tat
der Mehrheit ‚der Juden‘ Palästinas und später dem
‚jüdischen Staat‘ Israel zuzuschreiben, den diese
gegründet haben.“
Achcar
setzt den palästinensischen Antisemitismus in aller
Schärfe vom Antisemitismus der Nazis ab: [„Er ist nicht
gleichzusetzen mit dem Hass], den manche Araber
empfinden, die empört sind über die Besetzung und
Verwüstung arabischen Landes, über die Vertreibung und
Enteignung oder Unterjochung der auf diesem Land
lebenden Bevölkerung, über die Kriegsverbrechen, die von
den Streitkräften eines Staates begangen werden, der
sich selbst als Judenstaat bezeichnet.“
Letzten
Endes ist die Auseinandersetzung um den arabischen
Antisemitismus auch wieder eine Frage der Sichtweise von
Partikularisten und Universalisten. Wer bedingungslos
hinter dem exklusiv-ethnokratisch–zionistischen Staat
Israel steht, wird die Araber als „willige Vollstrecker“
eines arabischen Antisemitismus bezeichnen, der sich an
den Nationalsozialismus anlehnt. Wer universalistisch
denkt, wird wie Gilbert Achcar das Problem
differenzierter und weitsichtiger angehen und Israel in
seine Kritik mit einbeziehen. Deshalb sei hier noch die
Stimme des jüdischen Universalisten Brian Klug
angeführt.
Er merkt
zu dem Problem an: „Zu behaupten, dass die
Feindseligkeit gegenüber Israel und die gegenüber den
Juden ein und dasselbe sind, bedeutet, den jüdischen
Staat mit dem jüdischen Volk zu verwechseln. Tatsächlich
ist der Staat Israel eine Sache und das Judentum eine
andere. Folglich ist auch der Antizionismus eine Sache
und der Antisemitismus eine andere. Sie sind getrennt
voneinander. Das heißt nicht, dass es nie irgendeinen
Zusammenhang zwischen beiden gibt. (...) Die
vorherrschende Strömung des Zionismus hat das Judentum
zu modernisieren versucht, es politisiert,
nationalisiert und das jüdische Volk zu einer jüdischen
Nation im Sinn des 19. Jahrhunderts gemacht. Israel, ein
politisches Gebilde im Hier und Jetzt, sollte in den
Mittelpunkt der jüdischen Identität gestellt werden. Das
war ein radikaler Bruch mit der ‚alten‘ jüdischen
Vorstellung von dem, was einen Juden ausmacht. Der
Begriff vom ‚neuen Antisemitismus‘ ist, insofern er sich
auf die Ideologie der dominierenden zionistischen
Strömung gründet, nur die Kehrseite der Medaille, das
Gegenstück zu diesem neuen Begriff vom Juden, dem
nationalen Juden.“
Inhalt des Buches >>>
Buch - Leseprobe 2 - Antisemitismus – Philosemitismus und der Palästina-Konflikt
>>>
Buch - Leseprobe 1 - Antisemitismus – Philosemitismus und der Palästina-Konflikt
>>>
Buch - Antisemitismus – Philosemitismus
>>>