Die
1. Leseprobe aus Arn Strohmeyers neuem Buch
Antisemitismus – Philosemitismus und der
Palästina-Konflikt.
Hitlers langer verhängnisvoller Schatten
(Gabriele Schäfer Verlag Herne)
Kapitel aus Antisemitismus-Buch I
„Ein Israel vom Nil bis an den
Euphrat“. Der Zionismus - die partikularistische
Vorpostenideologie
„Für
viele Israelis bedeute Zionismus nichts weiter als
israelischer Patriotismus“, schreibt der Israeli Uri
Avnery und fügt hinzu: „In einem weiteren Sinn kann
Zionismus den tiefen Glauben bedeuten, dass alle Juden
auf der Welt schließlich nach Israel kommen, entweder
freiwillig oder auch durch den Antisemitismus
vertrieben.“ Diese Definition erscheint doch etwas zu
einfach, vor allem berücksichtigt sie die Geschichte
dieser Ideologie nicht, die heute immer noch den Staat
bestimmt: Sie ist die Gründungs- und Staatsräson dieses
Staates.
Die
zionistische Bewegung entstand am Ende des 19.
Jahrhunderts als Reaktion auf den in Europa
grassierenden Antisemitismus. Er nahm aber auch wichtige
Elemente des europäischen Nationalismus und
Kolonialismus auf. Das Ziel dieser Bewegung war, einen
„Judenstaat“ zu schaffen, in dem die Juden der Welt eine
sichere Zuflucht finden sollten. Als Ort dieser neuen
jüdischen Heimat lokalisierte man Palästina, dem die
Zionisten sich mythisch-religiös verbunden fühlten, weil
dort – neben anderen Völkern – auch Juden gelebt und
eine eigene religiöse Kultur geschaffen hatten. Waren
die ursprünglichen Ziele der zionistischen Bewegung
(also die Befreiung der Juden) durchaus emanzipativ und
humanistisch, so waren ihre Umsetzung in die politische
Praxis nur mit der Anwendung von Gewalt möglich, denn
Palästina war ein von Arabern voll bewohntes Land, und
diese Menschen waren verständlicherweise nicht bereit,
ihre Heimat freiwillig zu verlassen, um sie einem
anderen Volk zu übergeben oder sie mit ihm zu teilen.
Die Zionisten konnten ihren Staat dort nur schaffen,
wenn sie den Palästinensern das Lebensrecht nahmen. Dem
zionistischen Projekt haftete also von Anfang an der
Charakter eines großen Unrechts an – begangen von
Menschen, die Jahrhunderte lang zeitweise selbst großes
Unrecht erlitten hatten.
Ab etwa
1880 wanderten Juden in immer größeren Wellen in
Palästina ein, kauften Land, bauten Siedlungen und
begannen sofort, vorstaatliche politische, militärische
und wirtschaftliche Strukturen aufzubauen, die aber
exklusiv für Juden angelegt waren. Dieser Prozess setzte
sich nach dem Untergang der osmanischen Herrschaft am
Ende des Ersten Weltkrieges und danach unter dem
Völkerrechtsmandat der Briten fort, das bis 1948
ausgeübt wurde. Im selben Jahr wurde auch der Staat
Israel gegründet. Einen Ausgleich oder die Verständigung
mit den einheimischen Palästinensern haben die Zionisten
nie gesucht, obwohl es – wie oben schon erwähnt –
gemäßigte Anhänger dieser Ideologie gab, die vor einem
Negieren der Rechte der Palästinenser warnten, weil ein
Judenstaat nur in Frieden mit diesen „semitischen
Vettern“ und mit der Integration in diese rein arabische
Region eine Zukunft haben könnte. Aber direkt nach der
Staatsgründung im Mai 1948 entschied sich die Regierung
von Ministerpräsident Ben Gurion für den
entgegengesetzten Weg: eine Politik der militärischen
Stärke und Abschreckung, der politischen
Kompromisslosigkeit und der Einschüchterung der Araber.
„Sie müssen Angst vor uns haben“, pflegte der General,
Verteidigungsminister und spätere Ministerpräsident
Ariel Sharon zu sagen.
Der Kern
des Konflikts lässt sich so zusammenfassen: „Grundlinie
und Ausgangspunkt des Nahost-Konfliktes ist, dass der
Zionismus seit je aus dem arabischen Palästina ein
jüdisches Eretz-Israel [Groß-Israel] zu gestalten
versucht. Alles weitere bis heute – und in nächster
Zukunft – versteht sich von dieser zionistischen
Prämisse her: die sukzessive Entrechtung der
Palästinenser, deren Exilierung, der israelische
Expansionismus und die Kriege zwischen Israel und seinen
Nachbarstaaten von 1948 bis heute.“ Walter Hollstein
schrieb diese Zeilen Anfang der 80er Jahre – sie gelten
heute noch so wie damals! Israel hat kein Interesse, an
diesem Zustand irgendetwas zu ändern, es kann mit dem
Status quo sehr gut leben.
Die
Gewalt gegen die Araber war also von Anfang an eine
Grundkonstante des zionistischen Unternehmens. Schon der
Begründer des Zionismus Theodor Herzl hatte dies als
unabdingbare Voraussetzung der Gründung des Judenstaates
gesehen: „Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt
über die Grenzen zu schaffen, indem wir ihr in den
Durchgangsländern Arbeit verschaffen, aber im eigenen
Land jede Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung
wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk
[Vertreibung] muss mit Zartheit und Behutsamkeit
erfolgen. Die [palästinensischen] Immobilienbesitzer
sollen glauben, uns zu prellen, uns über den Wert zu
verkaufen, aber zurück verkauft wird ihnen nichts.“
Herzl hatte sich auch schon Gedanken über die
Ausdehnung des Judenstaates gemacht: Er sollte vom „Bach
Ägyptens bis an den Euphrat reichen.“ Und: „Wir
verlangen, was wir brauchen – je mehr Einwohner desto
mehr Land.“
Die
Palästinenser bzw. die Bewohner der umliegenden
arabischen Staaten spielten also in den Kalkulationen
der Zionisten keine Rolle. Die israelische
Ministerpräsidentin Golda Meir verstieg sich sogar zu
der Behauptung, dass Palästinenser gar nicht
existierten: „So etwas wie Palästinenser hat es nie
gegeben. Es war nicht so, als wäre in Palästina ein
palästinensisches Volk vorhanden gewesen, das sich als
solches betrachtet hätte, und wir sind gekommen, hätten
sie hinausgeworfen und ihnen ihr Land weggenommen. Sie
existieren nicht.“ Sehr viel ehrlicher war da David
Ben Gurion. Er leugnete weder die Existenz der
Palästinenser noch die Tatsache, dass man ihnen das Land
geraubt hatte: „Warum sollten die Araber Frieden
schließen? Wäre ich ein arabischer Führer, würde ich
niemals mit Israel verhandeln. Das ist ganz natürlich:
Wir haben deren Land genommen. Sicher, Gott hat es uns
versprochen, aber was geht die das an? Unser Gott ist
nicht deren Gott. Wir stammen aus Israel, aber das ist
2000 Jahre her und was interessiert die das? Es gab
Antisemitismus, die Nazis, Auschwitz, aber war das deren
Schuld? Das einzige, was sie sehen, ist: Wir kamen her
und stahlen ihr Land. Warum sollten sie das
akzeptieren?“
Landnahme
und Vertreibung waren also selbstverständliche Mittel
und Methoden des zionistischen Projekts. Israel
vergrößerte sein Territorium , das ihm die Vereinten
Nationen 1947 bei der Teilung zugewiesen hatten, auf
Kosten der Araber in den Kriegen 1947/48, 1956, 1967,
1973 und 1982. Im Krieg von 1947/48, der zugleich eine
„ethnische Säuberung“ war, zerstörten die Zionisten elf
palästinensische Stadtviertel, 531 Dörfer und vertrieben
750 000 Menschen, die Hälfte der palästinensischen
Bevölkerung. Es kam zu Massakern, Plünderungen und
Vergewaltigungen. Der israelische Historiker Ilan
Pappe nennt dieses Vorgehen gegen die Palästinenser ein
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und kann nicht
verstehen, dass die Welt zu diesem Unrecht geschwiegen
hat.
Er
begründet das so: „Aber jenseits der Zahlen ist die
tiefe Kluft zwischen Realität und Darstellung das
wirklich Bestürzende am Fall Palästina. Es ist
tatsächlich schwer zu verstehen und somit auch kaum zu
erklären, wieso ein Verbrechen, das in unserer Zeit und
an einem kritischen Punkt der Geschichte begangen wurde,
der die Anwesenheit ausländischer Reporter und
UN-Beobachter verlangt hätte, so vollständig ignoriert
wurde. Und doch lässt sich nicht leugnen, dass die
ethnische Säuberung von 1948 nahezu vollständig aus dem
kollektiven globalen Gedächtnis gelöscht und aus dem
Bewusstsein der Welt getilgt wurde. Man stelle sich
einmal vor, dass in irgendeinem Land, das man kennt, die
Hälfte der gesamten Bevölkerung innerhalb eines Jahres
zwangsweise vertrieben, die Hälfte der Dörfer und Städte
ausradiert und dem Erdboden gleichgemacht würde. Man
stelle sich einmal vor, diese Taten würden niemals
Eingang in die Geschichtsbücher finden und sämtliche
diplomatischen Bemühungen um eine Lösung der Konflikte,
die in diesem Land ausbrächen, würden diese
katastrophalen Ereignisse völlig außer Acht lassen, wenn
nicht gar ignorieren.“
Ilan
Pappe hat auch beschrieben, wie die Zionisten 1948 nach
dem Plan D (Dalet) vorgingen: „Am 10. März 1948 saßen
elf Männer zusammen – altgediente zionistische Führer
und junge jüdische Offiziere – und legten letzte Hand an
einen Plan für die ethnische Säuberung Palästinas. Noch
am selben Abend ergingen militärische Befehle an die
Einheiten vor Ort, die systematische Vertreibung der
Palästinenser aus weiten Teilen des Landes
vorzubereiten. Die Befehle gaben detailliert die
Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor: groß angelegte
Einschüchterungen; Belagerung und Beschuss von Dörfern
und Wohngebieten; Niederbrennen der Häuser mit allem Hab
und Gut; Vertreibung; Abriss und schließlich Verminung
der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner
zu verhindern. Jede Einheit erhielt eine Liste mit
Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen des Masterplans.
Er trug den Codenamen Plan D (Dalet in Hebräisch)
und war die vierte und endgültige Version
vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die
Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung
vorsahen. Die ersten drei Pläne hatten nur vage
umrissen, wie die zionistische Führung mit der
Anwesenheit so vieler Palästinenser in dem Land, das die
jüdische Nationalbewegung für sich haben wollte,
umzugehen gedachte. Diese vierte und letzte Blaupause
sprach es klar und deutlich aus: Die Palästinenser
mussten raus. (...) Ziel des Plans war tatsächlich die
Zerstörung ländlicher und städtischer Gebiete
Palästinas.“
Im Krieg
von 1967 eroberten die Israelis das Westjordanland, den
Gazastreifen und die Golanhöhen und vertrieben noch
einmal 300 000 Palästinenser. Und die Vertreibung und
die Landnahme gehen – wenn auch mit diffizileren Mitteln
– bis heute weiter. Die „Judaisierung“ des Landes
schreitet voran. Aus Ost-Jerusalem, Hebron, dem Negev
und dem Jordantal werden Menschen vertrieben. Das
Westjordanland und der Gazastreifen sind riesige
Gefängnisse, in denen die Menschen hinter Mauern und
Zäunen auf engstem Raum weggesperrt werden. Israel führt
für diese Maßnahmen Sicherheitsgründe an, in
Wirklichkeit werden diese „überflüssigen“ Menschen in
Großgefängnissen eingesperrt und „eingelagert“ –
„warehousing“ nennen der israelische Anthropologe Jeff
Halper und die jüdisch-kanadische Ökonomin Naomi Klein
dieses Verfahren. Sie schreibt: „Was Israel aufgebaut
hat, ist ein System (...), ein Netzwerk/Verbund von
Freiluftgehegen für Millionen Menschen, die man als
überflüssig eingestuft hat. Die Palästinenser sind nicht
die einzigen auf der Welt, die so kategorisiert worden
sind. (...) Das Ausrangieren von 25 bis 60 Prozent der
Bevölkerung ist das Markenzeichen des Kreuzzuges der
Chicagoer Schule [der Wirtschaftswissenschaften]. (...)
In Südafrika, Russland und in New Orleans umgeben sich
die Reichen mit Schutzmauern. Israel hat diesen
Absonderungsprozess noch einen Schritt weiter getrieben.
Es hat Mauern um die gefährlichen Armen errichtet.“
Das
geschieht alles, um Raum für jüdische Siedler zu
schaffen. Im Westjordanland ist der Siedlungsbau so weit
fortgeschritten, dass die Schaffung eines
palästinensischen Staates nicht mehr möglich ist. Wobei
„Siedlungen“ sehr euphemistisch klingt, es handelt sich
um Städte bis zu 30 000 Einwohnern, 500 000 jüdische
Israelis leben inzwischen dort – mit allem Komfort, sie
verfügen über eine eigene Infrastruktur, sogar ein
eigenes Straßensystem, das aber nur für Juden bestimmt
ist. Israel ist also auch fast 60 Jahre nach seiner
Gründung immer noch ein zionistischer Siedlerstaat.
Als Staat
mit zwei Rechtssystemen – einem liberalen für Juden in
Israel selbst, wobei die dort lebenden Palästinenser
einer starken Diskriminierung unterliegen, und einem
Militärrecht im Westjordanland – ist Israel längst ein
Apartheidstaat geworden. Ist es noch eine Demokratie?
Der israelisch-zionistische Staat steht seit seiner
Gründung im Spannungsfeld, seinem Anspruch nach ein
exklusiv „jüdischer Staat“ sein zu wollen und sich
gleichzeitig am westlichen Demokratie-Modell zu
orientieren. Israel hat bis heute keine Verfassung – aus
guten Gründen, denn dann müsste es definieren, wer
israelischer Staatsbürger ist und wo die Grenzen des
Staates verlaufen. Im Gründungsdokument Israels, der
Unabhängigkeitserklärung, vom 14. Mai 1948 sind sowohl
zionistisch-partikularistische wie auch
universalistische Elemente enthalten.
Es heißt
dort: „Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung
und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird
sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner
Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und
Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels
gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne
Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale
und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird
Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache,
Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten
unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der
Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.“
Schöne
Worte, von denen für die Nicht-Juden im Land wenig oder
nichts in die Tat umgesetzt wurde. In der politischen
Praxis setzte sich die zionistisch-partikuaristische
Richtung durch, da die „Judaisierung“ des Landes mit den
Zielen Landeroberung, Bau von Siedlungen, Einwanderung
und Vorrang der Sicherheit weiter betrieben wurde und
der Zionismus ausschließlich Juden als Mitglieder des
Staatsvolkes ansieht. Die Bewohner der besetzten Gebiete
werden als „nicht eingebürgerte Bevölkerung“
bezeichnet. Die Zweifel, ob Israel eine im westlichen
Sinne zu definierende Demokratie ist, sind denn auch
mehr als berechtigt. Zumal zu einer Demokratie ein fest
umrissenes Staatsgebiet gehört, in dem die Gesetze
dieser Demokratie Gültigkeit haben.
In der
politischen Wissenschaft werden denn für diesen Staat
auch Begriffe wie eine „Mischform aus Demokratie und
militärischer Besatzung“, „Ethnokratie“,
„Herrenvolk-Demokratie“ oder „Apartheidsstaat“
verwendet. Da Israel den Palästinensern gegenüber zu
Kompromissen nicht bereit ist, als Konsequenz aus der
Geschichte der Juden von der Unauflösbarkeit des
feindseligen Verhältnisses zwischen Juden und
Nicht-Juden ausgeht, sich deshalb im „permanenten
Kriegszustand“ befindet und die Sicherheit
ausschließlich in militärischer Überlegenheit sieht,
spricht die israelische Historikerin Amar Tamar-Dahl von
diesem Staat als „zivil-militarisierter Demokratie“ oder
einer „Demokratie in Waffen“.
Sie
folgert: „ Nicht die politische Lösung wird angestrebt,
sondern die militärische Kontrolle.“ Und: „Für das
politische Israel bleibt der Konflikt mit den
Palästinensern ein notgedrungener Preis für den als
unverzichtbar begriffenen jüdischen Nationalstaat im
Lande Israel. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das
zionistische Israel immer weniger Demokratie im
herkömmlichen Sinne verkraften wird – ja, es wird sich
diese irgendwann nicht mehr leisten können.“ Die
partikularistisch-zionistische Richtung gibt also den
Ton an und will auch die Zukunft gestalten – auf Kosten
aller universalistischen Werte. Der Westen bzw. die
sogenannte internationale Staatengemeinschaft haben nie
gegen die unchristlichen sowie völkerrechts- und
menschenrechtswidrigen Praktiken Israels Protest erhoben
geschweige denn Sanktionen verhängt, ein Mittel, das sie
bei anderen Staaten – siehe Iran und Russland – sehr
schnell bereit sind anzuwenden. Vermutlich meint der
Westen, sich auf diese Weise von seiner Schuld, nichts
oder zu wenig zur Verhinderung des Holocaust unternommen
zu haben, freikaufen zu können. Dass die Opfer der
russischen Pogrome und des Genozids der Nazis inzwischen
selbst zu Tätern und Unterdrückern geworden sind, ist so
etwas wie „das jüdische Paradox der Moderne.“
Es
versteht sich von selbst, dass der zionistische Staat
Probleme mit der Darstellung der eigenen Geschichte und
Politik hat. Die eigene Gewalt – die Gewalt eines
anerkannten Staates – wird als „legitim“ bezeichnet, die
der Palästinenser, die keinen Staat haben, als
„Terrorismus“ diffamiert. Das Unrecht, das man diesem
Volk angetan hat und weiter antut, wird verdrängt,
mythisiert oder heroisiert. Die eigene feindselige
Einstellung gegenüber den Palästinensern wird nicht
eingestanden, Israel befindet sich immer im Stande der
Unschuld. Die Nakba – die palästinensische Katastrophe
von 1948 – ist aus dem zionistischen Gedächtnis
gestrichen und zum Tabu erklärt worden. Im Jahr 2011
beschloss die Knesset ein Gesetz, dass das öffentliche
Gedenken der Palästinenser an diese ethnische Säuberung
unter hohe Strafe stellt.
Bezeichnend ist deshalb die ahistorische
Betrachtungsweise der eigenen Geschichte, also die
Abstraktion von der konkreten Entstehungsgeschichte
Israels und des Konflikts mit den Palästinensern. Diese
Sichtweise bestimmt auch die israelische Politik von
heute: den Status quo in der Region bedingungslos
anerkennen, ohne nach der Vorgeschichte zu fragen, wie
das zionistische Israel jene „vollendeten Tatsachen“
geschaffen hat, die es dem palästinensischen Volk
aufoktroyiert hat. Walter Hollstein konstatierte deshalb
schon vor dreißig Jahren: „Der Konflikt zwischen Arabern
und Israelis kann indessen nicht gelöst werden, indem
Tatsachen von heute ohne Berücksichtigung der Tatsachen
von ‚gestern‘ anerkannt werden, weil der gegenwärtige
Konflikt eben nicht mit dem Krieg von 1973 beginnt,
sondern 80 Jahre früher mit dem zionistischen
Machtanspruch in einem arabischen Palästina.“ Dem
schließt sich auch der israelische Historiker Ilan Pappe
an, der die Aufarbeitung der zionistischen Vergangenheit
nicht nur als professionelle Aufgabe des Historikers
ansieht, sondern auch als eine „moralische Entscheidung,
der allererste Schritt, den wir tun müssen, wenn wir
wollen, dass Versöhnung jemals eine Chance haben und der
Frieden in den zerrissenen Ländern Palästina und Israel
Fuß fassen soll.“
Das
Benennen der historischen Fakten in diesem Sinn und die
daraus resultierende Kritik an der zionistischen Politik
ist aber für das offizielle Israel und seine Verteidiger
„antisemitisch“. Es wird versucht, jede Kritik an der
israelischen Politik unter diesen Generalverdacht zu
stellen, auch wenn diese Kritik den Staat Israel und
seine Existenz gar nicht in Frage stellt, sondern nur
die Auswirkungen und Folgen des Zionismus aufzeigen und
eine Änderung der Politik verlangt – etwa im Sinne des
Völkerrechts. Das Ziel [der Zionisten] dabei ist klar,
jeder Auseinandersetzung mit der Geschichte und der
Struktur Israels rassistische Motive zu unterschieben
und sie damit von vornherein als unlauter ausgeben.“
Immer wieder soll mit Hinweis auf die eigene
Leidensgeschichte die eigene Politik als rechtens
legitimiert werden.
Theorie
und Praxis des Zionismus zeigen die partikularistische
Seite des Judentums in extremer Form auf. Die
zionistische Politik ist ausschließlich ethnisch oder
stammesbetont ausgerichtet, es fehlt ihr jeder
universalistisch-ethische Anspruch. Es verwundert nicht,
dass Vertreter der humanistisch orientierten Richtung –
ob Juden oder nicht – von den Zionisten und ihren
Anhängern als „Antisemiten“ diffamiert werden. Aber der
aus rein vordergründigen politischen Interessen
verwendete Antisemitismus-Vorwurf ist nur das
Spiegelbild einer inhumanen Politik, die er schützen und
vor Kritik bewahren soll. Zu groß ist die Angst vor
einer offenen Auseinandersetzung über diese Politik, bei
der Israel nicht bestehen könnte. Diese Art
Antisemitismus-Vorwurf hat in den meisten Fällen mit
wirklichem Antisemitismus nichts zu tun, dieser Vorwurf
fällt auf seine Urheber zurück. Der Psychoanalytiker
Erich Fromm hat diesen Sachverhalt einmal so formuliert:
Wenn Peter etwas über Paul aussagt, dann sagt das viel
mehr über Peter selbst aus als über Paul.
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