Neuer
Antisemitismus - Leserbrief an die Süddeutsche von Abraham Melzer
In Ihren Ausgaben vom 28.04 und 29.04 haben Sie sich in mehreren Beiträgen
mit dem Problem des „neuen Antisemitismus“ beschäftigt.
Ich bin Jude und lebe seit mehr als 45 Jahren in Deutschland.
Sie stellen in Ihrem Beitrag vom 28.04. gleich zu Anfang fest, dass der
„Antisemitismus des nationalsozialistischen Deutschland (und wohl auch der
frühere, traditionelle A.) überwunden ist, auch wenn er wohl niemals
erlöschen wird.“ Gleichzeitig behaupten Sie aber, dass „dieser neue A.
über die Hintertür des Antizionismus kommt.“ Muss man denn Antisemit sein,
um die brutale und dumme Politik Israels zu kritisieren? Und muss man denn
bei der Kritik der israelischen Politik das „gewaltige Entwicklungsdefizit
der arabischen Gesellschaft“ berücksichtigen und deshalb womöglich gegen
das gewaltige Unrecht, das Israel tagtäglich produziert, blind und taub zu
sein? Unser aller Präsident Rau würde es auch begrüßen, wenn wir stumm
wären. Und was hat das „feudalistisch-marode Saudi-Arabien“ mit dem
israelisch-palästinensischen Konflikt zu tun? Natürlich gar nichts, denn
die aussichtslose Situation in Gaza und dem Westjordanland sind in der Tat
allein von Israel zu verantworten, weil Israel die einzige „Demokratie“ in
dieser Region ist und die alleinige absolute Macht. Wenn sich aber der
Machtfaktor Israel wie eine Mafiaorganisation verhält und Monate- und
Jahre nur noch eine Politik der Vergeltung, des Terrors gegen Zivilisten
und der Unterdrückung eines ganzen Volkes verfolgt, dann darf sich keiner
wundern über das Ergebnis.
Ich frage mich und ich frage Sie wo nun dieser neue A. ist? Lebe ich
womöglich „auf dem Mond“, dass er mir in diesen 45 Jahren nirgends und
niemals begegnet ist, wenn man von 2-3 banale Zwischenfälle vor 45 Jahren
absieht? Oder ist man schon Antisemit, wenn man Israels Politik kritisiert
und Bilder orthodoxer Juden zeigt oder sich gegen die aggressive und
perfide Kritik eines Michel Friedmans wehrt?
Ich fühle mich jedenfalls in meiner Freiheit und Sicherheit als Jude in
Deutschland nicht gefährdet oder gar eingeschränkt und ich habe nicht das
Gefühl Synagogen und Gemeindezentren seien wie „mittelalterliche
Festungen“ verbarrikadiert, auch wenn vor meinem Gemeindezentrum in
Frankfurt immer ein Polizeiauto mit zwei Beamten Wache schiebt. Das aber
sehen Sie heutzutage in Deutschland auch vor anderen öffentlichen Gebäuden
und gefährdeten Objekten, ob es das Bundeskanzleramt ist oder nur die
Bundesbank. Auch die Tatsache, dass prominente Juden wie Spiegel oder
Friedman Personenschutz haben, hat mit Antisemitismus nichts zu tun.
Schließlich haben fast alle Politiker in Deutschland Personenschutz.
Wenn Sie zum Vergleich tatsächlich wissen wollen wie eine
Verbarrikadierung wie eine „mittelalterliche Festung“ aussieht, dann
sollten Sie nach Israel reisen und von Tel Aviv nach Jerusalem fahren.
Leider sind Ihre Autoren dem gleichen peinlichen, falschen und perfiden
Ton haften geblieben, den ich als Jude inzwischen restlos satt habe.
Dieser weinerliche, philosemitische, antiarabische Ton, der uns Juden am
liebsten in Watte einpacken und unter Denkmalschutz im Museum ausstellen
würde. Man hat manchmal den Eindruck Deutschland kommt nicht klar mit
seinen lebenden Juden; am liebsten würde es sich nur noch mit den toten
Juden beschäftigen.
Israel befindet sich schon lange nicht mehr im „Existenzkampf“, genau
gesagt seit dem siegreichen Ausgang des Unabhängigkeitskrieges 1948. Alle
Kämpfe danach gingen nicht mehr um „Existenz“, sondern um Erweiterung des
Staatsgebietes, auch wenn die israelische Propaganda das Gegenteil
behauptet. Seriöse und ehrliche Historiker in Israel haben das schon
längst veröffentlicht.
Die Kritik israelischer Politik, wenn zB Israel gerade „Kinder und Frauen
in die Luft sprengt“, ist nicht nur zulässig sondern geradezu erwünscht.
Insofern ist auch die Forderung des israelischen Präsidenten Katzav nach
einem „weltweiten Kampf gegen A. verlogen und heuchlerisch, Katzav wollte
und will sagen, dass man weltweit die Kritik an Israel und seinem
Vernichtungskrieg gegen das palästinensische Volk unterlassen und im Keime
ersticken soll, da diese Kritik von vornherein antisemitisch sei.
Zur Seite sprang ihm unser bibelfester Präsident Johannes Rau, der
inzwischen, was Israel betrifft, auf mich den Eindruck eines Autisten
macht, und meinte, dass man zwar Israels Politik diskutieren und
kritisieren dürfe, aber…das muss man nicht unbedingt öffentlich tun!
Wo den sonst, als in der Öffentlichkeit? Etwa im Gästesalon der Rau´s? Und
was ist das für ein Demokratieverständnis? Etwa aus der Zeit von Preußens
Glanz + Gloria, als die Herrschenden in den Salons der Paläste über alles
diskutierten und jeden lästerten, solange sie unter sich waren. Das
gemeine Volk aber musste gehorchen und parieren.
In seiner Arroganz, Hybris und Selbstgerechtigkeit meint Katzav, dass „ein
Wiederaufleben des A. die ganze Welt angeht.“ Das hätte er gern. Was für
ein Größenwahn? Als ob sich die Völker Afrikas und Asiens um den A.
kümmern würden? Und die Völker Europas und Amerikas haben zZt auch ganz
andere Probleme, als sich in erster Linie um den A. zu kümmern. Nicht die
Bekämpfung des A. ist ein Problem in Osteuropa, sondern der Aufbau einer
demokratischen Struktur. Was uns in Deutschland und Westeuropa schützt,
uns allen, Juden wie Nichtjuden, ist das funktionierende demokratische
System, nicht mehr aber auch nicht weniger.
Wird da nicht durch eine im Großen und Ganzen überflüssige Konferenz, die
dazu noch eine überproportional große Medienverbreitung findet, ein
Schreckensgespenst an die Wand projiziert und virtuell immer größer
gemacht, gegen denn eigentlich schon, wie es Jens Bisky richtig in seinem
Kommentar schreibt, „verlässliche Gelassenheit, aufgeklärte Köpfe und eine
gute Polizei“ reichen würden.
Müssen wir täglich mit bombastischen Maßnahmen, unzählige Zeitungsartikel,
Bücher, Konferenzen, Talkshows, Ausstellungen traktiert werden und last
not least diese überflüssige OSZE-Konferenz, die nichts anderes macht als
sich selbst zu feiern. Da macht Man aus einem deutschen Politiker einen
„Heiligen“, in der Hoffnung, er würde sich revanchieren, und sei es mit
einem dicken Scheck.
Wie gesagt: Ich lebe nunmehr seit 45 Jahren als Jude in Deutschland. Ich
habe keine Angst vor Antisemiten und Antisemitismus Ich bin auch nicht
ständig und überall auf der Suche nach Antisemiten und Antisemitismus.
Eine gute, funktionierende Demokratie reicht mir. Und wenn Antisemiten
gegen die Gesetze dieser Demokratie handeln, dann erwarte ich, dass man
sie genauso bestraft, wie jeden anderen Verbrecher oder Kriminellen auch.
Ich glaube aber nicht, dass Schmierereien auf einem jüdischen Friedhof
oder an einer Synagoge, so widerlich das auch sei, schlimmer und
verdammungswürdiger sind, als das Verbrennen eines Hauses in dem eine
türkische Familie lebt.
Und was soll diese unselige Allianz mit dieser rechtslastigen Organisation
„Honestly Concerend“, die nichts anderes tut, als jede Kritik an Israel zu
diffamieren und zu bekämpfen? Was soll die Aufforderung der „Überwachung
antisemitischer Straftaten“, wo wir doch ein Rechtssystem haben, das
verpflichtet ist Straftaten zu überwachen und zu verfolgen.
Sind die Globalisierungsgegner von atac schon deshalb antisemitisch, weil
sie zurecht vom „raffenden Kapital“ sprechen? Müssen da immer Juden
gemeint sein? Wie wäre es mal mit Bill Gate, die Rockeffelers, die
katholische Kirche, die Brüder Albrecht etc. etc. Und sind die
Palästinenser deshalb „Antisemiten“, weil die Israelis Juden sind und sie
sich gegen die Besatzungspolitik dieser Juden wehren, die sie beraubt,
vertrieben, heimatlos gemacht und schließlich getötet hat?
Besonders befremdet und irritiert hat mich der skandalöse und dumme
Vergleich zwischen einem Rad und dem A. in dem Heft des „Zentrum für
demokratische Kultur“, das zur OSZE-Konferenz erschienen ist. Dort wird
erklärt: „Beides sind Erfindungen !“ Und die SZ meint dazu, was mich noch
am meisten ärgert: Das ist zynisch, aber richtig.
Da ist eben nicht richtig. Es ist grober Unsinn und dumm noch dazu. Der A.
ist nichts anderes als Angst von Menschen vor Fremden und Fremdheit. Diese
Angst lässt sich sehr leicht durch unverantwortliche, zynische, grausame
und kriminelle Manipulation in Hass verwandeln und kann zu Pogromen,
Verfolgungen bis hin zu Auschwitz führen. Hass brauchte man nicht zu
erfinden. Solange es Menschen gibt, gibt es Hass unter ihnen. Schon in der
Bibel, im Buch Genesis kann man lesen, dass der Mensch von Natur schlecht
sei, zum Guten muss er erzogen werden. Die so genannte
christlich-abendländische Kultur ist voll von Beispielen, die bei Kain +
Habel anfangen und bei Hitler und Stalin, Bush und Sadam Hussein aufhören.
Der Antisemitismus musste nicht erfunden werden. Er war schon immer da.
Dennoch hat das jüdische Volk ihn überlebt und gelernt mit ihm zu leben.
Menschen wie Sharon benutzen ihn sogar zynisch und offen für ihre Zwecke.
Abraham
Melzer
|