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Was
gesagt werden muss
Abraham Melzer
Mit Befremden und
Entsetzen verfolge ich
die Debatte um das
Gedicht von Günter
Grass, das in der SZ
veröffentlicht worden
ist. Es fällt mir schwer
darin antisemitische
Tendenzen zu entdecken
und ein Vergleich mit
den früheren
Ritualmordanklagen, wie
es vom israelischen
Gesandten gemacht worden
ist, wäre mir niemals in
den Sinn gekommen.
Allein schon dafür
möchte ich mich bei Ihm
entschuldigen, auch wenn
ich nicht der Urheber
dieser absurden und
zynischen Diffamierung
bin. Ich finde es
unerträglich und absurd
wie führende jüdische
Persönlichkeiten auf
diese harmlose Kritik
reagieren, wie zum
Beispiel auch Elie
Wiesel, der sich
öffentlich fragt, ob
„der Deutsche wieder
sein Haupt erhebt.“ Eine
Nummer kleiner ging es
offensichtlich nicht.
Wiesel und seine
Kollegen tun so, als ob
die Kritik von Grass aus
seiner angeblichen
Nazivergangenheit stammt
und nichts zu tun hat
mit der wahnsinnigen
Politik Israels. Da
argumentiert man lieber
demagogisch und
veröffentlicht
Beleidigungen zur
Person, statt sich mit
der Sache
auseinanderzusetzen. Das
ist aber typisch für
diese
Auseinandersetzung, in
der das übergeordnete
Motto wohl ist: Warum
sachlich, wenn es auch
persönlich geht. Was in
dieser Geschichte so
schrecklich ist, das ist
dieser so billige und
unverantwortliche Umgang
mit dem Begriff
„Antisemit“. Heute ist
jeder, der Israels
Politik auch noch so
harmlos kritisiert, ein
Antisemit. Aber
irgendwann, wenn wir uns
mit dem real
existierenden
Antisemitismus und mit
echten Antisemiten
werden auseinandersetzen
müssen, wird uns kein
Mensch mehr glauben.
Das Gedicht mag
einseitig sein, wie vor
wenigen Wochen die
spontane Reaktion von
Siegmar Gabriel
angesichts der
offensichtlichen Lage in
Hebron. Mag sein, dass
Grass Ursache und
Wirkung verwechselt hat,
obwohl eine Umfrage vor
wenigen Jahren ergeben
hat, dass in Europa eine
Mehrheit Israel als
Gefahr für den Frieden
sieht. An keiner Stelle
werden aber im Gedicht
Juden als Rasse
diffamiert und an keiner
Stelle wird die Existenz
des Staates Israel in
Frage gestellt.
Einseitigkeit ist kein
Grund jemanden so zu
verteufeln. Es hätte
gereicht ihm mit der
anderen Seite zu
antworten. Er hat
lediglich eine Politik
in Frage gestellt, die
auch uns Europäer
gefährdet und bedroht.
Wer es nicht sieht, will
es nicht sehen, und aus
dieser, in meinen Augen
berechtigten, aber recht
harmlos ausgefallenen
Kritik, eine solche
weltbewegende Affäre zu
machen, ist der Gipfel
der Heuchelei und der
Verlogenheit. Leute wie
Wiesel, Giordano,
Graumann und wie sie
alle heißen, verteidigen
nur ihre Privilegien
betreffend der
Deutungshoheit der Shoah.
Man kann nicht mehr
ignorieren, dass die
Shoah und der Vorwurf
des Antisemitismus zum
Hauptargument der
israelischen Politik und
der Blockwarte dieser
Politik geworden sind.
Wenn die USA sich gegen
den widerrechtlichen Bau
in Ostjerusalem stellt,
schickt Israels
Außenminister Avigdor
Liebermann an Hillary
Clinton ein Bild vom
Mufti Hag Amin al
Husseini zusammen mit
Hitler. Wenn sich die
Europäer gegen einen
Angriff auf den Iran
äußern, wedelt Netanjahu
mit Briefen aus
Auschwitz und wenn
Günter Grass vor einem
Atomschlag warnt, dann
ist er „ein gebildeter
Antisemit“. So wird eine
solche Einstellung
früher oder später zu
einer selbsterfüllenden
Prophezeiung, da sie
diejenigen in die Hände
spielt, die die
Vernichtung Israels
wollen. Leider drängt
eine solche maßlose und
unberechtigte
Diffamierung der
Kritiker der
israelischen Politik
auch diejenigen, die für
einen Kompromiss
zwischen Palästinensern
und Israelis kämpfen,
in die falsche Richtung.
Wie pawlowsche Hunde
sind wieder all
diejenigen
aufgeschreckt, die
angeblich nur das Gute
wollen aber leider immer
wieder das Böse schaffen
oder zumindest
verteidigen. Es ist
wieder der Schatten von
Auschwitz, der über
dieses Land schwebt und
jede sachliche
Diskussion über Israels
Politik verhindert. Bei
keinem anderen
politischen Konflikt
sind die Emotionen so
hoch und unkontrolliert
und bei keinem anderen
Konflikt beteiligen sich
so viele Unbeteiligte,
die besser wissen
wollen, wer Recht hat
und wer im Unrecht ist.
Immer mehr Menschen und
darunter
erfreulicherweise auch
immer mehr Prominente
wagen es Israels Politik
zu kritisieren. Die
pawlowschen Hunde
bleiben dieselben und
sie reagieren deshalb so
schnell und so
einseitig, manchmal wie
ein Schall vor dem
Blitz, weil sie immer
dieselben Argumente
vorbringen, nämlich
überhaupt keine
Argumente, sondern immer
dieselben Beleidigungen.
Sie machen es sich
leicht und versuchen gar
nicht sich mit der
jeweiligen Kritik
auseinanderzusetzen.
Warum auch? Wer Israel
kritisiert, ist ein
Antisemit, der alle
Juden vernichten will.
Ich schäme mich diese
Art von Kritik zu
wiederholen.
Die ganze zionistische
Meute hat Grass
angegriffen, weil er,
wie erst vor wenigen
Tagen der SPD Politiker
Sigmar Gabriel, eine
Kritik ausgesprochen
hat, die absolut
berechtigt ist. Es ist
deshalb absolut unsinnig
und dumm zu behaupten,
Grass hätte deshalb
„ein Problem mit Juden“.
Wenn das so ist, das
jeder, der Israels
Politik kritisiert, ein
Problem mit Juden hat,
bzw. ein Antisemit sei,
dann sind auch viele
Juden und Israelis
Antisemiten, denn viele
Juden und Israelis
kritisieren Israels
Politik viel heftiger
als Grass oder Gabriel
es je wagen würden.
Dabei ist sein Text
weder eine Dämonisierung
Israels noch ein
„Anschlag auf Israels
Existenz“. Es gilt
schließlich die Freiheit
der Kunst und die
Freiheit auf eine eigene
kritische Meinung und
insofern muss man die
Reaktionen seiner
Kritiker als einen
Angriff auf das
Grundgesetzt sehen und
als einen Angriff auf
uns allen. Die Kritik
von Graumann, Broder und
Giordano sagt mehr über
diese verblendeten
Zionisten aus, als über
Günter Grass. Sie werden
nicht müde zu behaupten,
dass Kritik an Israel
erlaubt und nicht
verboten sei. Wenn aber
jemand aus diesem Recht
Gebrauch macht und
Israel tatsächlich
kritisiert, dann wird er
in allen Medien und mit
allen Methoden fertig
gemacht. Man darf sich
deshalb nicht wundern,
wenn bei vielen Menschen
die Zensur, die rein
rechtlich nicht
vorhanden ist, dennoch
im Kopf besteht, in Form
von Angst vor einer
Existenz vernichtenden
Diffamierung.
Es ist ein Hohn und ein
Skandal, dass man Ihm
vorwirft gegenüber dem
Iran blind zu sein,
während am gleichen Tag
Israels
Verteidigungsminister
Ehud Barack in einer
Pressekonferenz deutlich
gesagt hat: „Es ist eine
Pflicht zu handeln. Ein
Iran mit einer Atombombe
kann nicht geduldet
werden.“ Zu dieser Hetze
und Drohung schweigen
die vielen Kritiker.
Israel will
offensichtlich nicht nur
die einzige Demokratie
im Nahen Osten bleiben,
sondern auch die einzige
Atommacht. Wobei Israel
als „jüdischer Staat“
alles andere als eine
lupenreine Demokratie
ist. Ein Viertel der
Bevölkerung Israels lebt
in keinen demokratischen
Verhältnissen, sondern
in einem Apartheidstaat,
weil sie nicht jüdisch
ist. Das darf man aber
nicht sagen, weil man
dann als ein Antisemit
gilt. Was aber den im
Iran Herrschenden
betrifft, der wünscht,
dass das „zionistische
Regime“ verschwinden
möge, so hat es seine
genaue Entsprechung im
Wunsch der USA und
Israels, dass das
„islamitische
Mullah-Regime“
verschwinden möge.
Unsere Medien und
Politiker verteufeln das
eine als
„Vernichtungsdrohung
gegen die Bevölkerung“
und spielen das andere
als „berechtigte
Forderung“ herunter. So
wird auch immer wieder
von der „Radikal-Islamischen-Hamas“
geredet und von der
nicht minder radikalen
israelischen Regierung
geschwiegen.
Es kann und darf
natürlich nicht sein,
dass man jeden, der
diese israelische
Kriegshetze verurteilt,
von der Lage in den von
Israel besetzten
Gebieten wollen wir gar
nicht erst anfangen, als
einen Antisemiten
diffamiert. Wir alle
müssen uns endlich von
dieser traurigen
Illusion befreien, dass
jede Kritik an Israel
Antisemitismus sei. Wir
können es nicht mehr
ertragen und halten
diese Kritik an den
Kritikern der
israelischen Politik als
kontraproduktiv für die
Israelis, für die Juden
und für unsere
Demokratie.
Insofern freue ich mich,
dass Grass den Mut
gehabt hat sich so zu
äußern, wie er es getan
hat, obwohl er gewusst
haben muss, dass man
versuchen wird ihn in
der Luft zu zerreißen.
Da empfinde ich Abscheu
und Unverständnis, wenn
Alan Posener in der WELT
scheinheilig fragt:
Weshalb Mut dazu gehören
soll, ein kleines Volk
unter Druck zu setzen?
Wer sich mit dem
Nahostkonflikt
beschäftigt weiß
inzwischen sehr gut, wie
„klein“ dieses Volk ist
und dass die Gleichung
„David gegen Goliath“
schon 1948 nicht
gestimmt hat. In noch
größerer
Scheinheiligkeit fragt
Alan Posener: „Welchen
„palästinensischen
Boden“ außer den nach
dem arabischen
Angriffskrieg von 1967
besetzten Gebieten soll
Israel noch räumen?“ Auf
diesem abscheulich
verlogenen Niveau findet
leider die gesamte
Debatte um den
Nahostkonflikt statt.
Nicht nur, dass hier
unterstellt wird, die
arabischen Staaten
hätten 1967 einen
Angriffskrieg begonnen,
vielmehr wird hier auch
noch behauptet, dass
Israel offensichtlich
die eroberten Gebiete
von 1967 zurückgegeben
hätte und man fragt
entrüstet und
selbstgerecht, welche
Gebiete soll Israel
„noch“ zurückgeben? Auf
diesem Niveau wollen und
können wir keine Debatte
führen und wir halten es
für richtig, dass Grass
sich nicht mehr äußern
will, denn es ist
vergeblich ihnen zu
erwidern, sie werden
immer wieder sagen:
Antisemit.
Grass
sagte dagegen bereits
2001 in einem "Spiegel
Online"-Interview:
"Israel muss nicht nur
besetzte Gebiete räumen.
Auch die Besitznahme
palästinensischen Bodens
und seine israelische
Besiedlung ist eine
kriminelle Handlung. Das
muss nicht nur aufhören,
sondern rückgängig
gemacht werden. Sonst
kehrt dort kein Frieden
ein." Das Zitat notiert
Henryk M. Broder dieser
Tage in der Tageszeitung
"Die Welt" und fährt
seinerseits fort: "Das
war nicht mehr und nicht
weniger als eine
Aufforderung an Israel,
nicht nur Nablus und
Hebron, sondern auch Tel
Aviv und Haifa
aufzugeben." Dass aber
die Palästinenser auf
Tel Aviv und Haifa
schon längst verzichten
haben, will Broder nicht
zur Kenntnis nehmen. Er
traut den Palästinensern
nicht, ähnlich wie die
rechtsradikalen
israelischen Siedler,
die immer wieder
behaupten: „Das Meer ist
dasselbe Meer und die
Araber sind dieselben
Araber.“ Dass die
Israelis, die Broder
immerhin als Täter
bezeichnet hat,
dieselben Israelis sind,
will Broder nicht
wahrnehmen. Jetzt sind
sie dran auf Nablus und
Hebron zu verzichten.
Ein Antisemit war einst
ein gefährlicher Feind
der Juden. Heute ist
aber jeder schon ein
Antisemit, der Israels
Politik kritisiert. Da
es aber auch sehr viele
Juden gibt, die diese
Politik nicht gut
finden, gibt es immer
mehr „Antisemiten“ unter
den Juden selbst.
Die Aufregung um die
berechtigte Kritik von
Günter Grass und die
Aufregung um die
berechtigte spontane
Kritik von Sigmar
Gabriel, ist ein Symptom
dafür, dass in unserer
Gesellschaft immer noch
zwischen Leid und Leid
unterschieden wird. Das
Leid der Juden, deren
Shoah immerhin vor mehr
als sechzig Jahren
beendet wurde, ist für
viele Deutsche
wichtiger, als das Leid
der Palästinenser,
obwohl man beide
Katastrophen gar nicht
vergleichen kann und
darf. Leid ist immer
individuell und
subjektiv und kann nicht
verglichen werden. Es
liegt ja auf der Hand,
dass für die
Palästinenser ihr Leid,
ihre Nakba, wichtiger,
bedeutender und
nachhaltiger ist, als
das Leid der Juden, die
ihrerseits nichts für
das Leid der
Palästinenser übrig
haben. Weil aber die
Deutschen immer nur das
sehen, was sie den Juden
angetan haben, und darin
liegt auch nichts
negatives, sind sie
blind für das, was die
Israelis den
Palästinensern angetan
haben und immer noch
täglich antun. Man ist
deshalb sehr schnell
dabei Kritiker der
israelischen Politik zu
verurteilen und sie
sogar als Antisemiten zu
diffamieren, obwohl in
den meisten Fällen, wie
zum Beispiel in den
letzten zwei Fällen von
Gabriel und Grass,
lediglich Israels
Politik kritisiert
wurde, nicht alle
Israelis und schon gar
nicht alle Juden.
Dabei sind aber die
Deutschen für das Leid
beider Völker mittelbar
und unmittelbar
verantwortlich und sie
können sich nicht ihrer
Verantwortung gegenüber
den Palästinensern
entledigen, indem sie
jeden, der für sie
Partei nimmt als einen
Antisemiten mundtot
machen.
Als Jude, der für einen
gerechten Frieden im
Nahen Osten kämpft,
verteidige ich das Recht
eines jeden Menschen zu
diesem Konflikt seine
Meinung zu sagen und
wünschen lieber eine
sachliche und ehrliche
Debatte, als ein sich
immer wieder
wiederholendes Gejammer
über vermeintlichen
Antisemitismus. Denn in
einer solchen Welt, wo
die Vereinbarungen von
Oslo mit den Vertrag von
München verglichen
werden können, war es
auch leicht Plakate von
Itzchak Rabin in einer
SS-Uniform auf
Demonstrationen zu
zeigen. Verantwortlich
dafür war damals
Benjamin Netanjahu, der
heute aus Ahmadinegad
einen neuen Hitler
macht. Das Judentum und
die Juden sind etwas
anderes, als der Staat
Israel. Wenn sich
Menschen kritisch zum
Staat Israel äußern, ist
das kein Angriff gegen
das Judentum. Warum
schweigen all diese
selbsternannten Wächter
des Zionismus zu der
massiven Kritik an
Israels Armee, die von
israelischen Soldaten
geäußert wird, die sich
in der Organisation „Breaking
the Silence“ versammelt
haben. Es sind
inzwischen tausende. Sie
berichten von
Kriegsverbrechen, Morde
und fortwährende
Verbrechen gegen das
Völkerrecht. Der Staat
Israel und die
israelische Armee
zerstören Tag für Tag
das Ansehen der
jüdischen Religion und
der jüdischen Moral bei
sehr vielen Menschen.
Ich bin deshalb dankbar,
dass sich jemand wie
Günter Grass getraut
hat, das öffentlich zu
sagen. Der Angriff auf
ihn ist unredlich und
verlogen. Jeder
„gebildete Mensch“
müsste ein Problem mit
Israel haben, nicht aber
mit Juden. Der Versuch
Israel immer wieder mit
den Juden gleichzusetzen
wird früher oder später
wie ein Kartenhaus in
sich zusammenfallen.
Israel ist ein
nationaler, wenn nicht
gar ein
nationalistischer Staat,
der beinahe ein Viertel
seiner Bevölkerung
gesellschaftlich
unterdrückt. Das kann
man und muss man nicht
verschweigen, auch wenn
Israel sich Kritik in
jeder Form verbietet und
immer wieder treue
Vasalen findet, die es
dabei unterstützen. Die
Bevölkerung in
Deutschland hat es Leid
dass jeder, der hier
etwas auf den Punkt
bringt, sofort als
Antisemit hingestellt
wird. Man muss kein
Antisemit sein, um
Israel zu kritisieren,
man muss auch kein
Nahostexperte sein, man
muss nur einen gesunden
Menschenverstand haben,
ein Gewissen und ein
wenig Mut.
Günter Grass hat Israel
nicht denunziert und
nicht dämonisiert, wie
es Dieter Graumann
behauptet hat. Er hat
nur das gesagt, was
gesagt werden musste.
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