Das hüpfende Parlament
Uri Avnery, 27. Januar 2018
VOR JAHREN,
als ich ein Mitglied der Knesset war, entschied ich mich, im Plenum
eine Demonstration zu machen.
Ich zog ein T-Shirt mit einem Friedens-Slogan an – "Frieden ist
grösser als Gross-Eretz-Ísrael" - und in der Mitte der Debatte zog
ich meine Jacke aus und zeigte so den Slogan.
Nach wenigen Minuten kam ein Amtsdiener auf mich zu und sagte
höflich:„Der Knesset-Vorsitzende würde Sie gerne in seinem Büro
sehen.“
Der Vorsitzende war Yitzhak Shamir, ein früherer Kommandeur der
terrroristischen Untergrundgruppe Lehi. Er empfing mich mit einem
breiten Lächeln, bat mich Platz zu nehmen und sagte: „Uri, Du hast
deine Demo gemacht. Jetzt bitte ich dich, das T-Shirt auszuziehen
und an deinen Platz zurückzukehren." Natürlich tat ich das.
Ich erinnerte mich in dieser Woche an diesen kleinen Vorfall, als
etwas viel Ernsteres in der Knesset geschah.
DER AMERIKANISCHE
Vize-Präsident ehrte Israel mit einem Besuch und wurde wie ein König
empfangen.
Warum? Ich weiß es nicht. Meiner Meinung nach ist er ein gut
aussehender und gut gekleideter Tor. Wo immer er hielt, hielt er
Reden, die selbst begeisterte Zionisten erröten ließen. Er lobte
Israel in Ausdrücken kindischer Lobhudelei, häufte schamloses Geschmeichel
über falsche Geschichte an.
Das offizielle Israel war ekstatisch. Keiner erinnerte die
Öffentlichkeit, dass die extreme christliche Evangelisation, wie
sie von Pence vertreten wird, kein glückliches Ende für Juden hat.
Es sagt, dass wenn sich schließlich alle Juden im Heiligen Land
versammelt haben, Christus auf die Erde zurückkehren wird und alle
Juden zu seiner Religion konvertieren werden. diejenigen, die es
nicht tun, werden verderben.
Der Höhepunkt des Besuches war Pence’s Rede im Knesset-Plenum.
Allein dies war seltsam. Solche Ehren werden für ausländische
Staatshäupter reserviert. Pence , nur ein Vize, hatte nicht solch
ein Recht. Aber die israelische Regierung war darauf aus, dem Mann
zu schmeicheln, der vielleicht eines Tages selbst Präsident wird.
(Tatsächlich kann ich mir einen einzigen Grund vorstellen, Donald
Trump nicht abzusetzen - die erschreckende Idee, dass Pence
Präsident werden würde.)
Als früheres Knesset-Mitglied wurde ich eingeladen bei dieser
Gelegenheit im Plenum zu sitzen. Natürlich habe ich die Ehre
abgelehnt. Was folgt, war beschämend.
Als der Vize-Präsident anfing, seine Kette von Schmeicheleien zu
äußern, sprangen die Knesset Mitglieder in die Höhe und gaben ihm
ein wildes standing Ovation. Das wiederholten sie immer wieder, auf
und ab, auf und ab, und sah lächerlich und abscheulich aus.
Im Gegensatz zum US-Kongress erlaubt die Knesset keinen Applaus. In
den 10 Jahren meiner Mitgliedschaft, während der ich an jeder
einzelnen Plenum-Sitzung teilnahm, erinnere ich mich nicht, je
Händeklatschen gesehen zu haben, geschweige denn vielfach stehende
Ovationen.
Nach der Rede des Gastes haben Vertreter der Parteien das Recht auf
Erwiderungen. Alle jüdischen Parteien lobten den amerikanischen
Politiker aus ganzem Herzen. Es gab keinen Unterschied zwischen
Koalition und Opposition.
ABER DIE
beinahe schändliche Szene kam direkt zum Beginn. Als Pence zu reden
begann, standen die Mitglieder der Arabisch Vereinten Liste auf
und schwenkten Plakate, die gegen Trumps kürzliche Anerkennung
von Jerusalem als die Hauptstadt Israels protestierten.
Die Knesset-Wache schien schon vorher gewarnt worden zu sein: im
Split einer Sekunde vertrieb sie die 13 Mitglieder der Liste
gewaltsam. Es war ein hässlicher Anblick, der durch den stürmischen
Applaus von Seiten der jüdischen Mitglieder noch hässlicher gemacht
wurde.
Die vereinigte Liste ist eine Kombination dreier arabischer Parteien
mit weit auseinander gehenden Ansichten – Kommunisten, Nationalisten
und Islamisten. Sie wurden gezwungen, sich zu vereinen, als die
jüdische Mehrheit ein Gesetz mit einer hohen Minimum-Klausel
verabschiedete mit der offensichtlichen Absicht, die arabischen
Parteien los zu werden, von denen keine eine Chance hatte, die neue
Minimum Klausel allein zu überwinden. So stellten sie eine
gemeinsame Liste auf und wurden die drittgrößte Knesset-Fraktion.
Die ganze hässliche Szene war völlig überflüssig. Eine Minute später
hätte der Parlamentsvorsitzende genau so handeln können wie Shamir
mir gegenüber - die arabischen Mitglieder zu bitten sich wieder zu
setzen, nachdem sie ihre Ansicht klargemacht hatten. Aber der
gegenwärtige Vorsitzende ist kein Shamir. Er war ein zionistischer
Aktivist im sowjetischen Russland mit einer völlig anderen
Mentalität.
FÜR DIE
zwei Millionen arabischen Mitbürger Israels und die Millionen
Araber in den benachbarten Ländern vermittelte die Szene eine klare
Botschaft: die Araber gehören nicht wirklich zum Staat Israel.
Der visuelle Einschlag war unmissverständlich: alle Juden in der
Knesset applaudierten der Vertreibung aller Araber. Es war eine
klare nationale Teilung, die zeigte, dass die Araber im „Jüdischen
Staat“ Fremde sind – obwohl sie die ursprüngliche Bevölkerung des
Landes sind – egal wie viele Jahrhunderte sie hier gewesen waren.
Die Teilung ist nicht absolut sauber: die Arabische Liste enthält
einen jüdischen Kommunisten, während die meisten jüdischen
Fraktionen ein arabisches Mitglied hatten. Der Volksmund nennt sie
„Haustier-Araber“.
Das war noch nicht das Ende. Am nächsten Tag verkündigte die
Polizei, dass sie im Begriff sei, vorzuschlagen, dass die drei
nationalistischen Mitglieder der Vereinten Liste vor Gericht
gebracht werden, da sie das Parteien-Finanzgesetz gebrochen hätten.
Da die in der Knesset vertretenden Parteien vom Staat Subventionen
erhalten, beschreibt das Gesetz, welch andre Gelder ihnen zu
empfangen erlaubt sei. Israelischen Bürgern ist es erlaubt, bis zu
einer Höchstsumme zu geben. Spenden aus dem Ausland sind verboten.
Jetzt verkündet die Polizei, dass die arabische National Partei
Balad eine große Summe Geldes aus dem Ausland empfangen hat, sie
aber mit falschen Dokumenten verborgen hält. Die Untersuchung war
enthüllt worden – das benötigte zwei Jahre mit 140 verhörten
Personen.
Falls es sich so verhält, warum wurde die Offenlegung genau einen
Tag nach dem Knesset-Vorfall gemacht? Die arabischen Bürger und
andere waren gezwungen, zu glauben, dass die Offenlegung eine
Strafe für das Beleidigen des US-Vize-Präsidenten ist.
Wie boshaft! Wie dumm!
ABER ARABER
sind nicht die schlimmsten Opfer dieser Regierung. Diese Rolle ist
für die Afrikaner reserviert.
Schwarze Leute, die aus dem Sudan und Eriträa fliehen, haben uns
seit Jahren erreicht, nachdem sie einen langen und schmerzvollen
Treck hinter sich brachten und die Grenze zwischen dem Sinai und
Israel überquerten. Am Ende baute Israel eine Mauer und stoppte
den Flüchtlingsstrom. Aber bevor sich das ereignete, erreichten 36
000 Schwarzafrikaner Tel Aviv, wo sie sich im ärmsten Stadtviertel
niederließen und bald mit der einheimischen Bevölkerung in Streit
gerieten.
Jetzt hat die israelische Regierung ein geheimes Abkommen mit den
Regierungen Burundi und Uganda gemacht - für eine Zahlung pro Kopf
nehmen diese Länder die Flüchtlinge auf. Die Opfer selbst werden ein
paar Dollar erhalten, wenn sie freiwillig das Land verlassen.
Andrerseits werden sie ewig in Israel ins Gefängnis gesperrt.
Die Entscheidung weckte einen Sturm. Es wird gewöhnlich vermutet,
dass in diesen afrikanischen Ländern das Leben der Flüchtlinge in
Gefahr sein würde, dass sie ausgeraubt, vergewaltigt und getötet
werden , dass andere versuchen würden, die europäische Küste zu
erreichen und auf dem Weg getötet werden.
Der rassistische Aspekt wurde schmerzlich offensichtlich. Israel
ist voller Fremdarbeiter, von Ukrainer bis Chinesen. Die Afrikaner
könnten sie leicht ersetzen und ihre Arbeit tun. Aber sie sind
schwarz und sie könnten - Gott verbiete – koschere jüdische
Mädchen heiraten.
Und plötzlich geschah etwas völlig Unerwartetes: ein moralischer
Aufstand. Nach einer wachsenden Flut von Protesten und Artikeln
sprechen die Leute mit einer neuen Stimme.
Hunderte von Piloten und andere Crew-Mitglieder riefen alle
Luftlinien auf, sich zu weigern, die Flüchtlinge von Israel nach
Afrika zu bringen. Viele verkünden, dass sie selbst sich weigern
würden, sie zu fliegen. Sie schwören, nicht so zu sein wie die
deutschen Lokomotivführer, die die Juden in die Todeslager fuhren.
Eine ältere Frau, ein Flüchtling von solch einem Lager verkündete
am TV, dass sie jeden Flüchtling verstecken würde, der ihre Hilfe
sucht. Sie rief alle israelischen Frauen auf, dasselbe zu tun und
Flüchtlinge auf ihrem Dachboden zu verstecken. Das wäre eine klare
Anlehnung an Anne Frank, die mit ihrer Familie in einem
Dachboden in Amsterdam während des Holocaust versteckt wurde.
Dies geht jetzt voran - eine wachsende Tide, eine israelische
Stimme, die seit langer Zeit nicht zu hören war. Eine Stimme, die
so viele Jahre verstummt war, die Stimme meines Israel, die Stimme
des gestrigen Israel und hoffentlich des Israels von morgen.
Es gab einmal eine Zeit, als ich stolz sein konnte, Israeli zu sein.
Vielleicht kommt diese Zeit wieder.
(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)