Die eiserne Mauer
Uri Avnery, 2.1.2010
ETWAS MERKWÜRDIGES, fast Bizarres geschieht in diesen Tagen in
Ägypten.
Etwa 1400 Aktivisten aus aller Welt versammelten sich hier auf ihrem
Weg in den Gazastreifen. Am Jahrestag der „Cast Lead“-Offensive
wollten sie an einer gewaltfreien Demonstration gegen die
andauernde Blockade teilnehmen, die das Leben von 1,5 Millionen
Bewohnern des Gazastreifens unerträglich macht.
Zur selben Zeit fanden in vielen Ländern Protest-Demonstrationen
statt. Auch in Tel Aviv war eine große Protestdemo geplant. Das „Monitoring-Comitee“
der arabischen Bürger Israels beabsichtigte eine Demo an der
Gazagrenze zu organisieren.
Als die internationalen Aktivisten in Ägypten ankamen, wartete eine
Überraschung auf sie. Die ägyptische Regierung verbot ihnen die
Fahrt nach Gaza. Ihre Busse wurden in den Außenbezirken Kairos
festgehalten und zum Umdrehen gezwungen. Einzelne, denen es gelungen
war, den Sinai in regulären Bussen zu erreichen, wurden
herausgeholt. Die ägyptischen Sicherheitskräfte führten eine
regelrechte Jagd nach den Aktivisten durch.
Die zornigen Aktivisten belagerten ihre Botschaften in Kairo. Vor
der französischen Botschaft bildete sich ein Zeltlager, das bald von
ägyptischer Polizei umgeben war. Amerikanische Demonstranten
versammelten sich vor ihrer Botschaft und verlangten den Botschafter
zu sehen. Mehrere Demonstranten, die über 70 waren, auch die
jüdische Hedi Epstein mit 85, begannen mit einem Hungerstreik.
Überall wurden die Demonstranten von ägyptischen Eliteeinheiten in
voller Schutzausrüstung aufgehalten, während rote Wasserwerfer im
Hintergrund warteten. Protest-Demonstranten, die versuchten, sich
auf Kairos Hauptplatz Tahrir (Befreiung) zu versammeln, wurden
körperlich angegriffen.
Am
Ende wurde nach einem Treffen mit der Frau des Präsidenten eine
typisch ägyptische Lösung gefunden: einhundert Aktivisten wurde es
erlaubt, den Gazastreifen zu erreichen. Der Rest blieb in Kairo,
perplex und frustriert.
WÄHREND DIE Demonstranten in der ägyptischen Hauptstadt warteten
und versuchten , ihrem Ärger Luft zu machen, wurde Binyamin
Netanyahu im Präsidentenpalast im Herzen der Stadt empfangen. Sein
Gastgeber pries und lobte lang und breit seinen Beitrag zum
Frieden, besonders das „Einfrieren“ des Siedlungsbaus in der
Westbank, eine vorgetäuschte Geste – besonders da Ost-Jerusalem
nicht mit eingeschlossen ist.
Hosni Mubarak und Netanyahu haben sich in der Vergangenheit
getroffen – aber nie in Kairo. Der ägyptische Präsident bestand
immer darauf, dass die Treffen in Sharm-al-Sheikh stattfanden - von
ägyptischen Bevölkerungszentren möglichst weit entfernt. Die
Einladung nach Kairo war deshalb ein bedeutendes Zeichen dafür, dass
die Beziehungen zunehmend enger geworden sind.
Als besonderes Geschenk für Netanyahu stimmte Mubarak zu, Hunderte
Israelis nach Ägypten zu lassen, um am Grab des Rabbi Yaakov Abu
Hatzeira zu beten, der vor 130 Jahren in der ägyptischen Stadt
Damanhur auf dem Weg von Marokko ins Heilige Land gestorben war.
Das hat natürlich etwas geradezu Symbolisches an sich: zum einen
die Blockierung der pro-palästinensischen Demonstranten auf dem Weg
nach Gaza und zum anderen zum selben Zeitpunkt die Einladung der
Israelis nach Damanhur.
MAN MAG sich wohl über die ägyptische Beteiligung an der Blockade
des Gazastreifens wundern.
Die Blockade begann lange vor dem Gazakrieg und hat den Gazastreifen
in das, was man als „das größte Gefängnis der Erde“ bezeichnet,
verwandelt. Die Blockade betrifft alles, außer den wichtigsten
Medikamenten und die Grundnahrungsmittel. US-Senator John Kerry,
früherer Kandidat für die US-Präsidentschaft, war schockiert, zu
hören, dass die Blockade auch Nudeln einschloss – die israelische
Armee hatte in ihrer Weisheit entschieden, dass Nudeln Luxus seien.
Die Blockade gilt allem: vom Baumaterial bis zu Schulheften.
Abgesehen von extremsten humanitären Fällen, kann keiner aus dem
Gazastreifen nach Israel und in die Westbank kommen oder umgekehrt.
Aber Israel kontrolliert nur drei Seiten des Gazastreifens. Die
nördliche und östliche Grenze wird von der israelischen Armee
blockiert, die westliche Grenze durch die israelische Flotte. Die
vierte, die südliche Grenze wird von Ägypten kontrolliert. Deshalb
wäre die ganze Blockade ohne ägyptische Beteiligung wirkungslos.
Eigentlich macht dies keinen Sinn. Ägypten betrachtet sich selbst
als Führer der arabischen Welt. Es ist das arabische Land mit der
größten Bevölkerungszahl und liegt mitten in der arabischen Welt.
Vor fünfzig Jahren war der Präsident Ägyptens Gamal Abd-al-Nasser
das Idol aller Araber, besonders der Palästinenser. Wie kann Ägypten
mit dem „zionistischen Feind“ kollaborieren (wie Ägypten Israel
damals nannte,) und 1,5 Millionen arabische Brüder in die Knie
zwingen?
Bis vor kurzem fand die ägyptische Regierung ein Lösung, die der
6000 Jahre alten ägyptischen Weisheit entspricht. Es beteiligte sich
an der Blockade, schloss aber seine Augen vor den Hunderten von
Tunneln, die unter der ägyptischen Grenze nach Gaza gegraben waren,
durch welche die täglichen Versorgungsmittel der Bevölkerung kamen
(zu unglaublichen Preisen und mit viel Gewinn für die ägyptischen
Händler) zusammen mit einer Menge von Waffen. Selbst Menschen
passierten die Tunnel – von Hamas-Aktivisten bis zu Bräuten.
Das ändert sich jetzt. Ägypten beginnt mit dem Bauen einer –
buchstäblich - eisernen Mauer entlang der ganzen Länge der
südlichen Gazagrenze. Sie besteht aus stählernen Pfeilern, die tief
in die Erde gestoßen werden, um die Tunnel zu blockieren. Das wird
den Bewohnern den Rest geben.
Als der extremste Zionist Vladimir Ze’ev Jabotinsky vor etwa 80
Jahren von einer „eisernen“ Mauer gegen die Palästinenser schrieb,
hat er nicht davon geträumt, dass dieser Bau einst ausgerechnet
durch Araber verwirklicht würde.
WARUM TUN sie dies?
Es
gibt mehrere Erklärungen. Zyniker weisen daraufhin, dass die
ägyptische Regierung jedes Jahr einen riesigen amerikanischen
finanziellen Zuschuss erhält – fast zwei Milliarden Dollar -
freundlicherweise mit israelischer Zustimmung. Es begann als
Belohnung für den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag. Die
Pro-Israel-Lobby im US-Kongress kann dies jederzeit stoppen.
Andere glauben, dass Mubarak sich vor der Hamas fürchtet. Die
Organisation begann als palästinensischer Zweig der
Muslim-Bruderschaft, die noch immer die Hauptopposition seines
autokratischen Regimes ist. Die Kairo-Riadh-Amman-Ramallah-Achse
steht gegen die Damaskus-Gaza-Achse, die mit der
Teheran-Hisbollah-Achse verbunden ist. Viele Leute glauben, Mahmoud
Abbas sei daran interessiert, die Gazablockade noch enger zu
ziehen, um die Hamas zu schädigen.
Mubarak ist ärgerlich über die Hamas, die sich weigert, nach seiner
Flöte zu tanzen. Wie seine Vorgänger, erwartet er, dass die
Palästinenser seinen Befehlen gehorchen. Präsident Abd-al-Nasser
war über die PLO verärgert (eine Organisation, die von ihm
geschaffen worden war, damit die Ägypter die Kontrolle über die
Palästinenser hätten, die sich ihm aber entzogen, als Arafat sie
übernahm). Präsident Anwar Sadat war über die PLO verärgert, weil
sie das Camp-David-Abkommen zurückwies, das den Palästinensern nur
„Autonomie“ versprach. Wie können es die Palästinenser – ein
kleines, unterdrücktes Volk - wagen, den „Rat“ des „großen
Bruders“ auszuschlagen?
All diese Erklärungen sind verständlich, doch die ägyptische Haltung
ist doch erstaunlich. Die ägyptische Blockade des Gazastreifens
zerstört das Leben von 1,5 Millionen Menschen, Männern und Frauen,
alten Leuten und Kindern, von denen die meisten keine
Hamas-Aktivisten sind. Es geschieht öffentlich vor den Augen der
Hundert Millionen Araber, vor 1,25 Milliarden Muslimen. In Ägypten
selbst schämen sich Millionen Menschen, dass sich ihr Land am
Aushungern der arabischen Brüder beteiligt.
Es
ist eine sehr gefährliche Politik. Warum folgt ihr Mubarak ?
DIE WIRKLICHE Antwort ist wahrscheinlich: er hat keine andere Wahl.
Ägypten ist ein sehr stolzes Land. Jeder, der einmal in Ägypten war,
weiß, sogar die ärmsten Ägypter sind voller Nationalstolz und sind
leicht beleidigt, wenn ihre nationale Würde verletzt wird. Das wurde
vor ein paar Wochen deutlich, als Ägypten ein Fußballspiel gegen
Algerien verlor und sich benahm, als hätte es einen Krieg verloren.
„Denk daran, dass von der Spitze der Pyramiden 40 Jahrhunderte auf
euch herunterschauen,“ soll Napoleon seinen Soldaten am Vorabend der
Schlacht von Kairo gesagt haben. Jeder Ägypter fühlt, dass 6000 –
einige sagen 8000 – Jahre Geschichte ständig auf ihn herabschauen.
Dieses tiefe Gefühl stößt in einer Zeit mit der Realität zusammen,
in der Ägyptens Situation immer miserabler wird. Saudi Arabien hat
mehr Einfluss; das winzige Dubai wird ein internationales
Finanzzentrum; der Iran wird eine weit bedeutendere Regionalmacht.
Im Gegensatz zum Iran, wo die Ayatollahs die Familien aufgerufen
haben, sich mit zwei Kindern zu begnügen, verschlingt die ägyptische
Geburtenrate alles und verurteilt das Land zu permanenter Armut.
In
der Vergangenheit gelang es Ägypten, seine interne Schwäche mit
externen Erfolgen auszugleichen. Die Welt betrachtete Ägypten als
den Führer der arabischen Welt und behandelte es entsprechend. Nun
nicht mehr.
Ägypten ist in einer schlimmen Lage. Deshalb hat Mubarak keine
andere Wahl, als den Diktaten der USA zu folgen – die praktisch
wiederum israelische Diktate sind. Das ist die wirkliche Erklärung
seiner Beteiligung an der Blockade.
Als ich heute bei der Demonstration in Tel Aviv redete, nachdem wir
durch die Straßen marschiert waren, um gegen die Blockade zu
protestieren, habe ich mich zurückgehalten, den ägyptischen Teil
daran zu erwähnen.
Ich bekenne, dass ich die Menschen dort, denen ich während meiner
Besuche in Ägypten begegnete, sehr mochte. Der „Mann auf der Straße“
ist sehr zuvorkommend. Das Verhalten zu einander geschieht in Ruhe
und Gelassenheit, keine Aggressionen, dazu kommt ein besonderer
ägyptischer Humor. Selbst der Ärmste hält seine Würde aufrecht, auch
unter miserablen, übervölkerten und oft elenden Bedingungen. Ich
habe sie nicht murren gehört. In all den Tausenden von Jahren ihrer
Geschichte haben die Ägypter nur drei oder viermal revoltiert.
Diese legendäre Geduld hat auch ihre negativen Seiten. Wenn die
Leute sich mit ihrem Los abfinden, verhindert dies
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Fortschritt.
Es
scheint, dass das ägyptische Volk bereit ist, alles zu akzeptieren.
Von den Pharaonen der alten Zeiten bis zum „Pharao“ der Gegenwart –
ihre Herrscher hatten es leicht. Aber eines Tages wird der
nationale Stolz sogar die Geduld überwinden.
Als Israeli protestiere ich gegen die israelische Blockade. Wenn ich
ein Ägypter wäre, würde ich gegen die ägyptische Blockade
protestieren. Als Bewohner des Planeten protestiere ich gegen
beides.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, von Verfasser
autorisiert).
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