Salaam oder
Salami
Uri Avnery. 8.10.05
Er ist ein
bekannter Held in der Literatur: der zwanghafte Spieler, der großes
Glück hat. Mit jeder Rouletterunde wird der Jetonhaufen vor ihm
größer. Er könnte den Spieltisch verlassen, die Jetons in Geld
umtauschen und danach glücklich damit leben.
Aber er kann nicht
aufhören. Er muss weitermachen. Langsam ändert sich sein Glück. Der
Haufen vor ihm wird immer kleiner. Er könnte auch jetzt noch gehen
und damit eine Katastrophe abwenden. Aber er ist ein zwanghafter
Spieler. Er muss weitermachen, bis der letzte Jeton vom Croupier
abgenommen wird, zusammen mit all seinem irdischen Besitz.
In der Novelle
steht der Mann auf und schwankt hinaus. Im Casinogarten nimmt er
eine Pistole und schießt sich das Gehirn aus dem Kopf.
Vor Jahren schon
verwendete ich diese Metapher in einem Artikel, als ich die Gefahr
beschrieb, die in der Siedlungspolitik steckt. Vor kurzem erinnerte
mich wieder daran, als ich den Kommentar eines Mannes vom rechten
Flügel las, von einem, der gegen den Abzug aus dem Gazastreifen war.
Er prophezeite, dass nach diesem einen weitere Rückzüge stattfinden
würden: wir werden uns zurückziehen und zurückziehen – und wenn wir
die Grüne Linie erreichen, werden wir nicht in der Lage sein, damit
aufzuhören; die reine Existenz des Staates wird in Gefahr sein.
Das hat sich in der
Geschichte dieses Landes schon einmal zugetragen. Viele Jahre bevor
Osama bin Laden den Slogan „Die Kreuzfahrer und Zionisten“ prägte,
schrieb ich eine Artikelserie mit diesem Titel. Ich wies auf die
vielen Ähnlichkeiten zwischen den Kreuzfahrern und dem zionistischen
Unternehmen hin. Ich wollte nicht sagen, dass – Gott bewahre – unser
Schicksal so sein würde wie das der Kreuzfahrer, aber ich wollte vor
einer Wiederholung ihrer Fehler warnen.
Nachdem die
Kreuzfahrer 1099 Jerusalem erobert hatten, fuhren sie fort, ihren
Herrschaftsbereich zu erweitern. Auf der Höhe ihrer Macht
erstreckten sich ihre Königreiche von Rafah im Süden und im Norden
bis zur heutigen Grenze der Türkei. Sie ließen sich auch östlich des
Jordans nieder. Nach etwa 50 Jahren gelang es ihnen sogar, den
Gazastreifen von den Muslimen zu erobern, einschließlich Ashkalon .
Und dann drehte
sich das Rad ganz langsam anderes herum. Statt sich immer weiter
auszudehnen, wurde das Königreich Jerusalem der Kreuzfahrer immer
kleiner. Eine Kreuzfahrerburg nach der anderen fiel in die Hände der
Muslime, bis der legendäre kurdische Feldherr Salah ad-Din (Saladin)
die Kreuzfahrer bei den Hörnern von Hittin (in der Nähe von
Tiberias) entscheidend schlug. Das ganze Land fiel in seine Hände,
außer Akko, das die Kreuzfahrer noch halten und von dem sie den
größten Teil des Land wiedergewinnen konnten. Aber 1291 fiel auch
Akko, und der letzte Kreuzfahrer wurde – buchstäblich – ins Meer
geworfen.
Natürlich gibt es
einen riesigen Unterschied zwischen der Periode damals und unserer
Zeit. Aber jedes arabische Kind lernt diese Geschichte und
vergleicht uns mit ihnen. Es war die Meinung eines der größten
Experten der Geschichte der Kreuzfahrer, des verstorbenen Steven
Runciman, dass die Kreuzfahrer die Gelegenheit versäumt hätten, sich
mit der muslimischen Welt zu versöhnen und Frieden mit ihr zu
machen, als sie auf dem Höhepunkt ihrer Macht waren. Und so
verurteilten sie sich selbst zum Untergang, als sich das Rad
wendete.
In der vergangenen
Woche hatte ich die Gelegenheit, mit einem der Siedlerführer vor 16
und 17 jährigen Gymnasialschülern zu debattieren. Das war eine sehr
seltene Gelegenheit, weil das nationalistische Bildungsministerium
gewöhnlich seine Macht nutzt, um Leute wie mich daran zu hindern,
zu Schuldebatten eingeladen zu werden. Nach einer Dusche
demagogischer Siedlerphrasen: „jüdisches Blut“, „alle Araber sind
Tiere“, „Mahmoud Abbas ist ein Bastard wie Arafat“, „die Araber
verstehen nur die Sprache der Gewalt“, brachte ich nur die einfache
Botschaft rüber: „Lasst uns Frieden machen, solange wir stark sind.“
Stattdessen machen
wir das Gegenteil. Der Rückzug aus dem Gazastreifen, der ein
größerer Schritt in Richtung Frieden hätte sein können, wurde
durchgeführt, ohne ein Wort mit den Palästinensern auszutauschen,
ohne ein Abkommen, fast wie ein Kriegsakt. Ariel Sharon hat die
„Einseitigkeit“ zum Prinzip, ja, fast zu einer Ideologie, erhoben.
Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten: nur zwei Wochen nach
dem Rückzug begann eine neue Gewaltspirale – Verhaftungen, Granaten,
gezielte Tötungen, Kassam-Raketen, Luftwaffen- und jetzt auch
Artilleriebombardements.
Da gibt es
überhaupt keinen Zweifel, dass sich Israel weiter zurückziehen wird,
egal, welche Partei oder welcher Führer an der Macht sein wird. Die
historischen Umstände, die uns gezwungen haben, uns aus dem
Gazastreifen zurückzuziehen, gelten auch für die Westbank. Die
demographischen Erwägungen zwingen ein zionistisches Israel, aus den
dicht bevölkerten palästinensischen Gebieten hinauszugehen. Die
amerikanischen Interessen verlangen die Förderung einer
palästinensischen Demokratie im Rahmen von „Zwei Staaten für zwei
Völker“. Die Internationale Gemeinschaft ist dieses endlosen
Konfliktes überdrüssig und verlangt eine Lösung. Und last not least:
das israelische Volk selbst ist kriegsmüde und sehnt sich nach einem
normalen Leben in Frieden. Die Siedler sind unbeliebt, und ihr
Einfluss in der Öffentlichkeit wird schwächer. Das wurde in Gush
Kativ genau so bewiesen wie im Likudzentralkomitee.
Sharon weiß darum,
und er ist bereit, die Siedlungen zu räumen, die verstreut mitten in
den
palästinensischen
Gebieten liegen, und hofft, die großen Siedlungsblöcke halten zu
können. Aber er hat unter allen Umständen vor, Verhandlungen mit der
palästinensischen Führung zu vermeiden. Er weiß, er werde in solch
einem Dialog gezwungen sein, die meisten oder alle Siedlungsblöcke
aufzugeben. Deshalb besteht er auf „einseitigen“ Schritten.
Dies ist eine sehr
gefährliche Politik für Israel. Der palästinensische
Freudenausbruch, der sich nach dem Gazarückzug ereignete,
reflektiert die Überzeugung, dies sei ein Sieg des
palästinensischen Widerstandes gewesen. Die Palästinenser sind davon
überzeugt, Israel sei vor den palästinensischen Helden geflohen, die
sich für ihr Volk als Selbstmordattentäter geopfert haben und vor
denen, die die Granaten und Kassamraketen abgeschossen haben – genau
wie sie vor fünf Jahren vor den schiitischen Guerillas im Süden des
Libanon geflohen sind. „Israel versteht nur die Sprache der Gewalt.“
Jeder weitere
„einseitige“ Rückzug Israels wird sie in diesem Glauben bestärken.
Auf diese Weise werden wir nicht die Grüne Linie im Rahmen von „Land
gegen Frieden“ erreichen, sondern in einer Kriegssituation. Israel
selbst wird die dunkle Prophezeiung erfüllen, die seit Jahren wie
ein Schatten über uns hängt: die Palästinenser werden an einer
„Strategie der Phasen“ festhalten. Das heißt, jeder Rückzug ist nur
eine Phase, die zur nächsten führt. Israel wird einer Salamiwurst
ähneln, von der ein Stück nach dem anderen abgeschnitten wird.
Salami an Stelle von Salaam. ( Salaam = Frieden auf Arabisch).
Der “einseitige”
Prozess ist ein Marsch der Torheit. Wir werden den vollen Preis
zahlen, ohne den Frieden zu erreichen. Da gäbe es allerdings eine
einfache Alternative: in Verhandlungen mit der palästinensischen
Führung zu treten, um die endgültigen Grenzen zwischen Israel und
Palästina festzulegen, Frieden zu machen und es beiden Völkern zu
ermöglichen, sich seiner Früchte gleich zu erfreuen, damit sie
daran interessiert sind, ihn zu halten. Dies ist möglich, und alle
Experten im Land und überall in der Welt wissen dies sehr wohl.
Die Zeit arbeitet
nicht zu unsern Gunsten. Bei der Debatte im Gymnasium erzählte ich
den Schülerinnen und Schülern, dass wir jetzt auf der Höhe unserer
Macht seien. Wir haben eine große technische, wirtschaftliche und
militärische Überlegenheit. Die einzige Supermacht der Welt ist
unser enger Verbündeter. Die arabische Welt ist zersplittert, ihre
Länder werden von korrupten und ineffizienten Regimen regiert,
denen die Palästinenser völlig egal sind. Der größte Teil der
Palästinenser wünscht Frieden, genau wie die meisten Israelis. Nach
120 Jahren Konflikt ist Versöhnung endlich möglich.
Ich fügte dem noch
folgendes hinzu: Macht dauert nicht ewig. Die arabischen Völker
werden sich weiter entwickeln. Das Machtgleichgewicht beginnt sich
zu verändern. Die Atombombe wird in unserer Region allgemeiner
Besitz werden. Die USA werden aufhören, die einzige Supermacht zu
sein, China und Indien stehen schon im Wettkampf darum. In der
arabischen Welt kann sich eine fundamentalistische Revolution
entwickeln, die die korrupten Regime eliminiert und die Region um
uns herum einigt. Das palästinensische Volk kann auch ein
fundamentalistisch islamisches Regime adoptieren. Wird es dann
einfacher sein, Frieden zu erreichen?
„Ich möchte euch
nicht Angst machen. Angst ist kein guter Ratgeber. Aber ich bitte
euch, über die Bedeutung dieses Augenblickes nachzudenken: wir sind
stark, wir können mit Selbstvertrauen und nüchterner Kalkulation
handeln. Wir haben dieser Region etwas zu bieten. Das
palästinensische Volk ist zum Frieden bereit. Bis jetzt hatten wir
unglaubliches Glück. Hören wir endlich mit dem Glücksspiel der
Zukunft unseres Staates auf.!
Der Gazarückzug hat
uns gezeigt, wie gefährlich „einseitige“ Maßnahmen sind. Wir haben
Land evakuiert, Siedlungen aufgelöst – und sind dem Frieden nicht
einen Schritt näher gekommen.
Selbst der
hervorragendste Genius hat noch keinen einseitigen Frieden erfunden.
Frieden ist wie
Tango – es sind zwei dafür nötig. Zwei, die einander achten.
Genau darum handelt
es sich!
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert) |