Zurück an den Ort
des Verbrechens
Uri
Avnery, 16.12.06
ALS DIE israelische
Regierung innerhalb weniger Stunden entschied, den
zweiten Libanonkrieg zu beginnen, hatte sie keinen
Plan.
Als der
Generalstabschef die Regierung drängte, den Krieg zu
beginnen, legte er keinen Plan vor.
Dies wurde in
dieser Woche durch ein militärisches
Untersuchungskomitee aufgedeckt.
Das ist
schockierend.
Ein Plan ist nicht
eine Zusatzoption, etwas, auf die man ebenso auch
verzichten kann. Ein Krieg ohne Plan ist wie ein
Körper ohne Rückgrat. Wer käme auf die Idee, ein
Haus ohne Plan bauen zu wollen? Oder eine Brücke?
Autoherstellung oder Konferenzdurchführung – ohne
Plan? Im Gegensatz zu einem Haus- oder Brückenbau,
einer Autofabrikation oder der Durchführung einer
Konferenz, ist es das Ziel eines Krieges Menschen zu
töten. Sein Wesen besteht aus Töten und Zerstören.
Fast in jedem Fall
ist die Initiative zu einem Krieg ein Verbrechen.
Solch einen Krieg ohne Plan und entsprechende
Vorbereitungen zu beginnen, ist absolut
unverantwortlich - und häuft ein Verbrechen auf das
andere.
WENN EIN Staat einen
Krieg beginnt, dann sieht die Reihenfolge,
vereinfacht gesagt, folgendermaßen aus:
-
Die Regierung
hat sich ein klares politisches Ziel gesetzt.
-
Nachdem die
Regierung zu der Überzeugung gekommen ist, dass
sie dieses Ziel nicht mit anderen Mitteln
erreichen kann, überlegt sie sich, ob sie dieses
durch einen Krieg erreichen kann.
Ab diesem Zeitpunkt geht
der Schwerpunkt des Geschehens von der politischen
Führung zur militärischen Führung über. Deren
Aufgabe ist es nun:
-
einen
strategischen Plan aufzustellen, um das von der
Regierung anvisierte Ziel zu erreichen.
-
den
strategischen Plan in einen taktischen
umzuwandeln. Unter anderem gilt es zu
entscheiden, welche militärischen Kräfte nötig
sind, welche Streitkräfte eingesetzt werden
sollen, welches Ziel jede Streitkraft
innerhalb welchen Zeitraumes erreichen soll. Es
sollten auch die möglichen Schritte der anderen
Seite vorausgesehen und berücksichtigt werden.
-
die
Streitkräfte für ihre Aufgaben vorzubereiten,
sich zu vergewissern, ob sie trainiert und
entsprechend ausgerüstet worden sind.
Eine weise Regierung wird
auch über die gewünschte Nachkriegssituation
nachdenken und das Militär dahingehend instruieren,
dies während seiner Planungen ebenfalls in Betracht
zu ziehen.
Es sieht jetzt so aus,
als wäre von all dem nichts geschehen. Es gab kein
klar definiertes Kriegsziel, es gab keinen
politischen und keinen militärischen Plan, es gab
für das Militär keine klaren Ziele und es war nicht
auf diese vorbereitet. Ohne einen zentralen Plan
konnte dies auch gar nicht geschehen.
Ein Krieg ohne Plan ist
kein Krieg, sondern ein Abenteuer. Eine Regierung,
die einen Krieg ohne Plan beginnt, ist auch keine
Regierung, sondern ein Haufen Politiker. Ein
Generalstab, der ohne Plan in einen Krieg geht, ist
kein Generalstab sondern eine Gruppe von Generälen.
NACH DEN
Untersuchungskomitees haben sich die Ereignisse wie
folgt entwickelt: die Regierung entschied sich in
großer Eile innerhalb weniger Stunden zum Krieg,
ohne ein Ziel zu bestimmen.
Während der folgenden
Tage wurde mit mehreren Kriegszielen wild um sich
geworfen. Sie folgten einander in rascher Abfolge
und widersprachen einander in vielerlei Hinsicht.
Dies ist an sich schon ein Rezept für eine
Katastrophe; denn jedes Ziel verlangt seine eigenen
Methoden und Mittel, die von anderen sehr
verschieden sein können.
Unter den angekündigten
Zielen war: die Befreiung der beiden gefangenen
Soldaten, die Zerstörung der Hisbollah, die
Eliminierung des Raketenarsenals im Süd-Libanon, das
Wegdrängen der Hisbollah aus dem Grenzgebiet u.a.
Abgesehen davon, gab es einen allgemeinen Wunsch,
eine libanesische Regierung zu haben, die sich den
US-amerikanischen und israelischen Interessen
unterwirft.
Wenn kompetente
Armeeoffiziere dahingehend instruiert worden wären,
für jedes dieser Ziele einen Plan auszuarbeiten,
wären sie bald zu der Schlussfolgerung gekommen,
dass diese Ziele mit militärischen Mitteln nicht zu
erreichen waren – ganz sicher nicht unter den
gegebenen Umständen.
Der Gedanke, dass die
beiden Gefangenen durch einen Krieg befreit werden
könnten, ist einfach lächerlich. Man kann einen
Moskito nicht mit einem Vorschlaghammer jagen. Das
geeignete Mittel wäre Diplomatie gewesen. Vielleicht
hätte jemand den Vorschlag machen können, einige
Hisbollah-Kommandeure gefangen zu nehmen, um den
Austausch von Gefangenen zu erleichtern. Alles wäre
möglich gewesen – außer einem Krieg.
Die Zerstörung der
Hisbollah durch einen notwendigerweise begrenzten
Krieg war unmöglich, das hätte von Anfang an klar
sein müssen. Es handelt sich um eine
Guerillastreitkraft, die als Teil einer politischen
Bewegung fest in der libanesischen Realität
verwurzelt ist (wie in diesen Tagen auf jedem
Fernsehschirm zu sehen ist). Keine Guerillabewegung
kann von einer regulären Armee zerstört werden – und
sicher nicht in einem Streich und innerhalb von
Tagen oder Wochen.
Die Zerstörung des
Raketenarsenals? Wenn das Armeekommando sich
hingesetzt hätte, um einen militärischen Plan
auszuarbeiten, wäre ihm klar geworden, dass
Luftangriffe nur teilweise erfolgreich sein können.
Eine vollständige Zerstörung hätte eine Besetzung
des ganzen Süd-Libanon bedeutet, weit über den Fluss
Litani hinaus. Während dieser Zeit, wäre ein großer
Teil Israels den Raketen ausgesetzt gewesen, ohne
dass die Bevölkerung darauf vorbereitet gewesen
wäre. Wenn diese Schlussfolgerung der Regierung
vorgestellt worden wäre, hätte sie dann die
Entscheidung getroffen, die sie traf?
Die Hisbollah ein paar
Kilometer von der Grenze nach Norden abzudrängen,
ist kein angemessenes Kriegsziel. Zu diesem Zweck
einen Krieg zu beginnen, der zum Tod einer Unzahl
an Menschen führt und zur Zerstörung ganzer
Stadtteile und Dörfer, bedeutet puren Leichtsinn, wo
ernsthafte Abwägung angebracht gewesen wäre.
Aber die Regierung hat
sich mit solchen Überlegungen gar nicht befasst. Da
sie keine klaren Ziele bestimmte, forderte sie
keinen militärischen Plan an und empfing auch
keinen.
WENN DIE
Unverantwortlichkeit der politischen Führung
skandalös war, so war es die Unverantwortlichkeit
der militärischen Führung in einem doppeltem Sinne.
Das Armeekommando ging
ohne definiertes Ziel und ohne einen Plan in den
Krieg. Es gab zwar ein paar Pläne, die vorbereitet
und eingeübt waren, doch ohne spezifisches
politisches Ziel – bei Kriegsbeginn wurden sie dann
ignoriert und bei Seite geschoben. Wer braucht
einen Plan? Seit wann brauchen Israelis einen Plan?
Israelis improvisieren und sind stolz darauf.
Sie haben also
improvisiert. Der Generalstabschef, ein
Luftwaffengeneral, entschied, dass es genügt, aus
der Luft zu bombardieren: wenn genügend Zivilisten
getötet und genügende Häuser, Straßen und Brücken
zerstört worden sind, würde das libanesische Volk
auf die Knie gehen und tun, was die israelische
Regierung verlangt.
Als dies fehlschlug (wie
man voraussehen konnte), und die meisten Libanesen
der verschiedenen Gemeinschaften sich hinter die
Hisbollah stellten, wurde dem Generalstabschef
klar, dass man nicht ohne Bodenoperationen
auskommt. Da es keinen Plan gab, taten sie es ohne
Plan. Soldaten wurden aufs Gratewohl in den Libanon
geschickt – ohne klare Ziele, ohne Zeitplan.
Dieselben Örtlichkeiten wurden mehrere Male besetzt.
Das Endergebnis: Die Streitkräfte bissen kleine
Streifen Land vom Rand des Hisbollahgebietes ab,
ohne etwas erreicht zu haben, aber mit schweren
Verlusten.
Man kann nicht sagen, das
Kriegsziel sei nicht erreicht worden – es gab ja gar
kein Kriegsziel.
DAS SCHLIMMSTE an der
Sache war nicht einmal das Fehlen eines Planes. Das
Schlimmste war, dass die Generäle sein Fehlen gar
nicht bemerkten.
Die staatlichen
Untersuchungsbeamten enthüllten letzte Woche eine
bestürzende Tatsache von äußerster Wichtigkeit: die
meisten Mitglieder des Generalstabs haben nie die
Kurse für höhere Offiziere besucht, die das
israelische Äquivalent zu einer Militärakademie
darstellen.
Das heißt, dass sie
niemals Militärgeschichte und die Prinzipien der
Strategie gelernt haben. Sie sind nur militärische
Techniker, so wie Bautechniker und Buchhalter . Ich
vermute, dass sie im technischen Bereich ihres
Berufes sehr wohl versiert sind: wie man
Streitkräfte verlegt, wie man Waffensysteme
aktiviert u.a.m. Aber sie haben nie Bücher über
Militärtheorie und über die Kriegskunst gelesen, nie
studiert, wie während der Jahrhunderte Feldherren
ihre Kriege durchgeführt haben und sind nie mit den
Gedanken großer militärischer Denker vertraut worden
.
Ein militärischer Führer
braucht Intuition. Gewiss. Aber Intuition kommt von
Erfahrungen – von seinen eigenen, von Erfahrungen
seiner Armee und die angesammelten Erfahrungen
jahrhunderte langer Kriegsführung.
Wenn sie z.B. die Bücher
von Basil Liddell Hart gelesen hätten, vielleicht
dem maßgeblichsten Militär-Kommentator des letzten
Jahrhunderts, dann hätten sie erfahren, dass die
Schlacht zwischen David und Goliath nicht ein Kampf
zwischen einem Jungen mit einer primitiven Schleuder
und einem schwer bewaffneten, gepanzerten Riesen
war, wie es gewöhnlich dargestellt wird, sondern im
Gegenteil, eine Schlacht zwischen einem raffinierten
Kämpfer mit einer modernen Waffe, der einen
schwerfälligen Kämpfer mit veralteter Waffe aus der
Entfernung töten konnte.
Im Libanonkrieg spielte
die Hisbollah die Rolle des David, eine bewegliche
und einfallsreiche Streitkraft, während die
israelische Armee wie Goliath war, schwerfällig, an
die Routine gebunden und mit ungeeigneten Waffen.
JEDER DER diese Kolumne
regelmäßig liest, weiß, dass wir all diese Dinge
schon vor dem Krieg ausgesprochen haben. Aber unsere
Kritik war damals verdächtig, weil wir ja sowieso
gegen den Krieg waren, den wir als unmoralisch,
überflüssig und sinnlos ansahen.
Nun haben wir einige
(etwa 40) militärische Untersuchungskomitees, die
vom Generalstabschef selbst ernannt worden sind,
und einer nach dem andern bestätigte unsere Kritik
fast Wort für Wort. Ja, sie bestätigen sie nicht
nur, sondern fügten eine Menge Details hinzu, die
ein noch finsteres Bild malen.
Es ist ein Bild von
äußerster Verwirrung: improvisierte Operationen,
eine anarchistische Kommandostruktur,
Missverständnisse von Befehlen, Befehle, die
ausgegeben, dann zurückgenommen und wieder
ausgegeben wurden. Generalstabsoffiziere gaben
Befehle direkt an untergeordnete Kommandeure weiter
ohne die Befehlskette zu berücksichtigen.
Eine Armee, die einmal zu
den besten der Welt gehörte, ein Studienobjekt für
Offiziere in vielen Ländern, ist zu einer
ineffizienten und inkompetenten Körperschaft
geworden.
Die Komitees haben aber
eine grundsätzliche Frage nicht beantwortet: Wie
konnte das geschehen?
ABGESEHEN von einigen
Hinweisen hier und dort, sagten die Komitees nichts
darüber, wie wir in diese Situation geraten sind.
Was ist mit der israelischen Armee geschehen?
Auch dies haben wir viele
Male gesagt: die Armee ist das Opfer der Besatzung
geworden.
Im nächsten Juni „feiert“
die Besatzung der palästinensischen Gebiete den 40.
Jahrestag. Nie vorher gab es eine so lange
Besatzungszeit. Militärische Besatzung ist von ihrem
Wesen her eine kurzfristige Angelegenheit. Im Laufe
eines Krieges wird feindliches Gebiet erobert und
bis zum Kriegsende verwaltet. Ein Friedensabkommen
entscheidet über sein weiteres Schicksal.
Keine Armee ist über die
Rolle als Besatzungsmacht glücklich; denn diese
zerstört und korrumpiert sie von innen her,
schädigt sie physisch und psychisch, lenkt sie von
ihrer wichtigsten Funktion ab und drängt ihr
Methoden auf, die nichts mit ihrer wirklichen
Aufgabe zu tun haben - nämlich den Staat in einem
Krieg zu verteidigen.
Bei uns wurde die
Besatzung fast von Anfang an ein politisches
Instrument für die Erlangung von Zielen, die für die
Funktion einer „Verteidigungsarmee“ nicht geeignet
sind. Theoretisch ist es ein Militärregime, in
Wirklichkeit ist es koloniale Unterjochung, in der
die israelische Armee hauptsächlich die
schändliche Aufgabe einer interdrückerischen
Polizeigewalt ausübt.
In der Armee von heute
gibt es keinen Offizier im aktiven Dienst mehr, der
sich an die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF)
von vor der Besatzung erinnert, an die Armee, die
sich im „kleinen“ Israel – innerhalb der Grünen
Linien - entwickelte und fünf arabische Armeen in
sechs Tagen besiegte, mit einem brillanten
Generalstab unter Yitzhak Rabin. Alle Kommandeure
des zweiten Libanonkrieges begannen ihre Karriere
als sie schon eine Besatzungsarmee war. Der letzte
militärische Erfolg der IDF wurde in der frühen
Besatzungsperiode errungen, im Yom-Kippur-Krieg vor
einer Generation.
Eine Armee, deren Job es
ist, die Besatzung aufrecht zu erhalten „gezielte
Tötungen“ auszuführen ( in dieser Woche durch eine
schändliche Entscheidung des Obersten Gerichtshofes
legitimiert ), Wohnhäuser zu zerstören, hilflose
Zivilisten zu misshandeln, Steine werfende
Jugendliche zu jagen, Leute an unzähligen
Straßensperren zu demütigen und hundertundeins
andere tägliche Taten einer Besatzungsmacht
auszuführen, taugt nicht mehr für einen wirklichen
Krieg – nicht einmal gegen eine kleine
Guerilla-Streitkraft.
DIE KORUMPIERUNG der
israelischen Armee und die Verkommenheit, die sich
in ihr breit gemacht hat und die in aller
Hässlichkeit durch die Untersuchungen jetzt ans
Tageslicht gebracht werden, sind eine Gefahr für den
Staat Israel.
Es genügt nicht, den
Generalstabschef zu entlassen (dessen Festhalten an
seinem Posten ein weiterer Skandal in diesem Krieg
ist). Es genügt auch nicht, das gesamte Oberkommando
auszuwechseln. Es ist eine allumfassende Reform von
den höchsten bis zu den untersten Rängen nötig,
eine Veränderung der Armee in all ihren Abteilungen
und allen Dienstgraden. Doch so lange die Besatzung
andauert, ist es zwecklos, dies auch nur zu
versuchen.
Wir haben schon immer
gesagt: Besatzung korrumpiert. Nun muss mit klarer
Stimme gesagt werden: die Besatzung gefährdet die
Sicherheit Israels.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)