„Nicht du! Du!!!“
Uri Avnery,
5.4.08
„He !
Nimm deine Hände weg !
Nicht du! Du!!!“
- so hört man die Stimme einer jungen
Frau im dunklen Kinosaal in einem alten Witz.
„He du! Nimm die
Hände weg von Tibet!“ schreit der internationale Chor. „Aber nicht
von Tschetschenien! Nicht vom Baskenland! Und sicher nicht von
Palästina!“ Und das ist kein Witz.
WIE JEDERMANN
unterstütze ich die Rechte des tibetanischen Volkes auf
Unabhängigkeit oder wenigstens auf eine Autonomie. Wie jedermann
verurteile ich die Aktionen der chinesischen Regierung dort. Aber
ich bin nicht - wie jedermann - bereit, mich an den Demonstrationen
zu beteiligen.
Warum? Weil ich ein
ungutes Gefühl habe, dass ich mich damit einer Gehirnwäsche
unterziehe, dass das, was da vor sich geht, eine Übung in Heuchelei
ist.
Ich denke dabei
nicht an die Manipulation. Schließlich ist es kein Zufall, dass die
Unruhen in Tibet am Vorabend der Olympischen Spiele stattfinden.
Das ist in Ordnung. Ein für seine Freiheit kämpfendes Volk hat das
Recht, jede Gelegenheit zu nutzen, die sich ergibt, um seinen Kampf
zu fördern.
Ich unterstütze die
Tibeter, obwohl mir bewusst ist, dass die Amerikaner diesen Kampf
für ihre eigenen Zwecke ausnützen. Klar, die CIA hat den Aufstand
geplant und organisiert, und die amerikanischen Medien führen die
weltweite Kampagne. Sie ist ein Teil des verborgenen Kampfes
zwischen den USA, der herrschenden Supermacht, und China, der
aufstrebenden Supermacht – eine neue Version des „Großen Spiels“,
das im 19. Jahrhundert in Zentralasien zwischen Großbritannien und
Russland gespielt wurde. Tibet ist nur eine Karte in diesem Spiel.
Ich bin sogar
bereit, die Tatsache zu ignorieren, dass die sanften Tibeter ein
mörderisches Pogrom gegen unschuldige Chinesen ausführten, Frauen
und Männer töteten und Häuser und Läden anzündeten. Solche
abscheulichen Exzesse geschehen während eines Befreiungskampfes.
Nein, was mich
wirklich stört, ist die Heuchelei der Weltmedien. Sie stürmen und
brausen über Tibet. In Tausenden von Kommentaren und Talkshows
häufen sie Verfluchungen und Beschimpfungen über das bösartige
China. Es sieht so aus, als seien die Tibeter das einzige Volk auf
Erden, dem das Recht auf Unabhängigkeit mit brutaler Gewalt
verweigert wird – wenn nur Peking seine schmutzigen Hände von den
safrangelben Gewändern der Mönche wegnähme, dann wäre in dieser
Welt alles in Ordnung.
ZWEIFELLOS hat dann
das tibetische Volk das Recht, sein eigenes Land zu regieren, seine
eigene Kultur zu pflegen, seine religiösen Institutionen zu fördern
und fremde Siedler daran hindern, in seinem Lande aufzutauchen.
Aber haben die
Kurden in der Türkei, im Irak und in Syrien nicht dasselbe Recht?
Die Bewohner der West-Sahara, deren Gebiet von Marokko besetzt ist?
Die Basken in Spanien? Die Korsen vor der Küste Frankreichs? Und
die Liste könnte so noch lange fortgesetzt werden.
Warum bringen die
Medien der Welt nur den einen Unabhängigkeitskampf, aber ignorieren
oft zynisch einen anderen Unabhängigkeitskampf ? Was macht das Blut
eines Tibeters röter als das Blut von tausend Afrikanern im
Ost-Kongo?
Immer wieder
versuche ich, auf dieses Rätsel eine ausreichende Antwort zu
finden. Vergeblich.
Immanuel Kant
fordert uns auf: „Handle so, dass der Beweggrund deines Willens
jederzeit zugleich als Grundgesetz einer allgemeinen Gesetzgebung
gelten könne.“ Entspricht diese Haltung gegenüber dem tibetanischen
Problem dieser Regel? Reflektiert unsere Haltung gegenüber diesem
Kampf nach Unabhängigkeit dem aller unterdrückten Völker?
Ganz und gar nicht.
WENN DEM so ist,
was bringt die internationalen Medien dazu, zwischen den
verschiedenen Befreiungskämpfen, die zur Zeit auf der Welt geführt
werden, einen Unterschied zu machen?
Hier sind ein paar
relevante Betrachtungsweisen:
- Hat das
nach Unabhängigkeit strebende Volk eine besonders exotische Kultur?
-
Ist es
ein attraktives Volk, d.h. ist es vom Standpunkt der Medien
„sexy“ ?
-
Wird
der Kampf von einer besonders charismatischen Person angeführt,
die von den Medien geliebt wird?
-
Wird
die unterdrückende Regierung von den Medien gehasst?
-
Gehört
die unterdrückende Regierung zum pro-amerikanischen Lager? Das ist
ein bedeutsamer Faktor, da die USA einen großen Teil der
internationalen Medien beherrschen und ihre Nachrichtenagenturen und
Fernseh-Netzwerke die Agenda und die Terminologie der Nachrichten
bestimmen.
-
Sind
wirtschaftliche Interessen mit dem Konflikt verbunden?
-
Hat das
unterdrückte Volk begabte Sprecher, die die Aufmerksamkeit auf sich
ziehen und die Medien manipulieren können?
NACH DIESEN
Gesichtspunkten ist kein Volk wie die Tibeter. Sie erfreuen sich
idealer Bedingungen.
Im Anblick des
Himalaja leben sie in einer der schönsten Landschaften der Erde.
Jahrhunderte lang war es ein Abenteuer, überhaupt dorthin zu
gelangen. Ihre einzigartige Religion weckt Neugierde und Sympathie.
Ihre Gewaltfreiheit ist attraktiv und elastisch genug, um sogar die
schlimmsten Gräueltaten zu überdecken, wie das Pogrom, das vor
kurzem stattfand. Der im Exil lebende Dalai Lama ist eine
romantische Persönlichkeit, ein Medienstar. Das chinesische Regime
dagegen wird von vielen gehasst – von den Kapitalisten, weil es
eine kommunistische Diktatur ist, von Kommunisten, weil es
kapitalistisch geworden ist. Sie fördern einen krassen und
hässlichen Materialismus, das ganze Gegenteil dessen, was die
spirituellen buddhistischen Mönche leben, die ihre Zeit mit Gebet
und Meditation verbringen.
Wenn China eine
über tausend Kilometer lange Eisenbahn durch ungastliche Gegenden
in die tibetische Hauptstadt baut, dann bewundert der Westen nicht
die Leistung der Ingenieure, sondern sieht (ganz zu Recht) das
eiserne Monster, das hunderttausend Han-Chinesische Siedler in das
besetzte Land bringt.
Und China ist
natürlich eine wachsende Macht, deren wirtschaftlicher Erfolg
Amerikas Hegemonie in der Welt gefährdet. Ein großer Teil der
kränkelnden amerikanischen Wirtschaft gehört schon direkt und
indirekt China. Das große amerikanische Empire versinkt in
hoffnungslose Schulden, und China mag bald der größte
Geldverleiher sein. Die amerikanische Industrie zieht nach China und
nimmt Millionen von Arbeitsplätzen mit sich.
Verglichen mit
diesem, was haben dann z.B. die Basken zu bieten? Wie die Tibeter
leben sie in einem zusammenhängenden Gebiet, das zum größten Teil zu
Spanien gehört, ein kleiner Teil in Frankreich. Auch sie sind ein
altes Volk mit einer eigenen Sprache und Kultur. Aber diese sind
nicht besonders exotisch und ziehen keine Aufmerksamkeit an. Keine
Gebetsmühlen, keine Mönche in Roben.
Die Basken haben
auch keinen romantischen Führer wie Nelson Mandela oder den Dalai
Lama. Der spanische Staat, der sich auf den Trümmern von Francos
verachteter Diktatur erhob, erfreut sich in aller Welt großer
Beliebtheit. Spanien gehört zur Europäischen Union, die
grundsätzlich mit den USA verbunden ist.
Der bewaffnete
Kampf der Basken im Untergrund wird von vielen verabscheut und als
„Terrorismus“ betrachtet, besonders, nachdem Spanien den Basken eine
weitreichende Autonomie zugesprochen hat. Unter diesen Umständen
haben die Basken überhaupt keine Chance, für ihre Unabhängigkeit
die Unterstützung der Welt zu bekommen.
Die Tschetschenen
sollten in einer besseren Situation sein. Auch sie sind eine
besonderes Volk, das seit langem von den Zaren des russischen
Reichs, einschließlich Stalin und Putin unterdrückt worden ist. Aber
leider sind sie Muslime – und in der westlichen Welt hat sich nun
anstelle des Jahrhunderte währenden Antisemitismus die Islamophobie
gesetzt. Islam ist zum Synonym für Terrorismus geworden, er wird als
eine Religion von Gewalt angesehen. Bald wird man enthüllen, dass
Muslime christliche Kinder schlachten, um deren Blut zum Backen von
Pitabrot zu verwenden . (In Wirklichkeit ist es natürlich die
Religion von Dutzenden vollkommen verschiedener Völker, von
Indonesien bis Marokko und von Kosovo bis Sansibar).
Die USA fürchten
nicht Moskau, aber Peking. Russland sieht im Gegensatz zu China
nicht danach aus, als könnte es das 21. Jahrhundert beherrschen. Der
Westen hat kein Interesse, den kalten Krieg wieder aufleben zu
lassen, wie es anscheinend an einer Wiederholung der Kreuzzüge gegen
den Islam Interesse hat. Die armen Tschetschenen, die keinen
charismatischen Führer oder außerordentlichen Redner haben, sind aus
den Schlagzeilen verbannt worden. Was die Welt betrifft kann Putin
sie schlagen so viel er will, Tausende umbringen und ganze Städte
auslöschen .
Das hindert Putin
nicht, die Forderungen Abchasiens und Südossetiens zu unterstützen,
die sich von Georgien trennen, ein Land das Russland ärgert.
WENN IMANUEL KANT
wüsste, was sich im Kosovo abspielt, dann würde er sich am Kopfe
kratzen.
Die Provinz
verlangte seine Unabhängigkeit von Serbien und ich habe dies auch
mit ganzem Herzen unterstützt. Es ist ein Volk für sich mit einer
anderen Kultur (albanisch) und seiner eigenen Religion (Islam).
Nachdem der populäre Führer Slovodan Milosevitch versuchte, es aus
seinem Land zu vertreiben, erhob sich die Welt und gab moralische
und materielle Unterstützung für seine Unabhängigkeit.
Die albanischen
Kosovaren sind 90% Bürger des neuen Staates, der eine Bevölkerung
von zwei Millionen hat. Die anderen 10 % sind Serben, die kein Teil
des neuen Kosovo sein wollen. Sie wollen, dass ihr Stück Land an
Serbien angeschlossen wird. Haben sie nach Kants Maxime das Recht
dazu?
Ich würde ein
pragmatisches moralisches Prinzip vorschlagen. Jede Bevölkerung, die
in einem bestimmten Gebiet wohnt und einen klaren nationalen
Charakter hat, hat ein Recht auf Unabhängigkeit. Ein Staat, der
solch eine Bevölkerung innerhalb seiner Grenzen behalten will,
sollte darauf achten, dass sie sich dort wohl fühlt, dass sie ihre
vollen Rechte erhält, also die Gleichheit vor dem Gesetz und eine
Autonomie, die ihre Bestrebungen befriedigt. Kurz: dass sie nicht
den Wunsch nach Trennung hat.
Das trifft auf die
Franzosen in Kanada zu, auf die Schotten in Großbritannien, die
Kurden in der Türkei und anderswo die ethnischen Gruppen in
Afrika, die Indigenen in Latein-Amerika, die Tamilen in Sri Lanka
und viele andere. Jede hat ein Recht auf volle Gleichheit, Autonomie
und Unabhängigkeit.
DIES BRINGT uns
natürlich zum palästinensischen Problem.
In der Konkurrenz
um Sympathie mit den Weltmedien haben die Palästinenser einen
unglücklichen Stand. Nach allen objektiven Standards haben sie ein
Recht auf volle Unabhängigkeit, genau wie die Tibeter. Sie bewohnen
ein bestimmtes Land, sie sind eine besondere Nation, eine klare
Grenze besteht zwischen ihnen und Israel. Man müsste wirklich
ziemlich hirnverbrannt sein, um diese Fakten zu leugnen.
Doch die
Palästinenser leiden unter mehreren Schicksalsschlägen: das Volk,
das sie unterdrückt, behauptet von sich selbst, dass es das Opfer
par excellence sei. Die ganze Welt sympathisiere mit den Israelis,
weil die Juden die Opfer des schrecklichsten Verbrechens der
westlichen Welt waren. Dies schafft eine schwierige Situation: der
Unterdrücker ist beliebter als das Opfer. Jeder, der mit den
Palästinensern sympathisiert, wird automatisch des Antisemitismus
verdächtigt und als Holocaustleugner betrachtet.
Dazu kommt, dass
die Mehrheit der Palästinenser Muslime sind (Kaum einer beachtet die
palästinensischen Christen). Da der Islam im Westen Furcht und
Abscheu hervorruft, wurde der palästinensische Kampf automatisch ein
Teil der formlosen Bedrohung, des sog. „internationalen
Terrorismus“. Und seit dem Mord an Yasser Arafat und Sheik Achmed
Yassin haben die Palästinenser keinen besonders beeindruckenden
Führer mehr – weder bei der Fatah noch bei der Hamas.
Die Weltmedien weinen wohl
Tränen um das tibetische Volk, dessen Land von den chinesischen
Siedlern weggenommen wurde. Aber wer kümmert sich schon um die
Palästinenser, deren Land von unsern Siedlern weggenommen wird?
Im weltweiten Tumult um
Tibet vergleichen sich die israelischen Sprecher - so seltsam das
klingt – mit den armen Tibetern, nicht mit den bösen Chinesen. Viele
denken, dies sei logisch.
Wenn Kant aus seinem Grab
steigen würde und nach den Palästinensern gefragt würde, dann würde
er wahrscheinlich geantwortet haben: „Gebt ihnen, was ihr glaubt,
das jedem gegeben werden sollte, und weckt mich nicht auf, um
wieder blöde Fragen zu stellen.“
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Gush Shalom Inserat in
Haaretz am 4.4.08
(dt. ER)
In dieser Woche vor 75
Jahren
Gaben die Nazis ein Verbot heraus:
„Kauft nicht beim Juden!“
Die Knesset entschied
Den Israelis zu verbieten
Ihre Autos nicht in palästinensischen Werkstätten
In den besetzten Gebieten
Reparieren zu lassen.
Wohin wird uns dies
führen?
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