Bekenntnis eines Optimisten
Uri Avnery, 26. April 2012
ICH BIN ein Optimist. Punkt.
Kein Wenn und kein Aber. Kein Vielleicht.
Vielleicht ist dies vererbt. Mein Vater war ein
Optimist. Selbst dann, als er im Alter von 45 Jahren aus seiner
Heimat Deutschland in ein primitives, kleines Land im Nahen Osten
hat fliehen müssen, blieb seine Stimmung unberührt. Er war
glücklich, obwohl er sich an ein neues Land, an ein heißes Klima, an
körperlich schwere Arbeit und an erdrückende Armut gewöhnen musste.
Wenigstens hatte er seine Frau und seine vier Kinder, von denen ich
das Jüngste war, gerettet.
Heute ist (nach dem hebräischen Kalender) Israels
64. Geburtstag . Ich bin noch immer Optimist.
VOR EINIGER Zeit traf ich zufällig den Schriftsteller
Amos Oz bei einer Hochzeit und wir sprachen über diese Kuriosität,
meinen Optimismus. Er sagte, er sei Pessimist. Pessimist zu sein,
sei eine Win-Win-Situation, sagte er. Wenn sich die Dinge zum
Besseren wenden, ist man glücklich. Wenn die Dinge schlimmer werden,
ist man noch immer glücklich, weil man von Anfang an Recht gehabt
hat.
Das Problem beim Pessimismus sei, dass er nirgendwo
hinführe, sagte ich zu ihm. Pessimismus befreit einen von dem Drang,
etwas zu tun. Wenn die Dinge sowieso schlimmer werden, warum sollte
man sich damit befassen. Pessimismus sei eine bequeme Einstellung.
Er erlaubt einem sogar die Optimisten, die noch immer für eine
bessere Welt kämpfen, zu belächeln. Optimismus ist etwas für
Einfaltspinsel.
Aber genau darum geht es. Nur Optimisten können
kämpfen. Wenn man nicht an eine bessere Welt, ein besseres Land,
eine bessere Gesellschaft glaubt, kann man nicht dafür kämpfen. Dann
kann man nur im Sessel vor dem Fernseher sitzen und „aber-aber!“
mit den Lippen murmeln wegen der Dummheit der menschlichen Rasse
und besonders des eigenen Volkes und sich überlegen fühlen.
Jedes Mal, wenn ich bekenne, ich sei ein Optimist,
werde ich mit Mitleid überschüttet. Ob ich nicht sehe, was rund um
mich geschieht? War dies der Staat, den du dir am 14. Mai 1948
vorgestellt hast, als du der Rede von Ben Gurion am Radio gelauscht
hast und dich für die Schlacht in der Nacht vorbereitet hast?
Nein, ich stellte mir keinen Staat wie diesen vor.
Meine Kameraden und ich hatten uns einen ganz anderen Staat
vorgestellt. Und trotzdem bin ich ein Optimist.
WENN MAN darüber spricht, werde ich immer an einen
bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben erinnert.
Es war im Oktober 1942, und die Welt bebte.
In Russland hatten die Nazitruppen Stalingrad
erreicht, und der gigantische Kampf war mit dem Feind aufgenommen
worden. Es bestand kein Zweifel, dass die Deutschen die Stadt
einnehmen und dann weiterziehen würden.
Weiter südlich ist die unbesiegbare Wehrmacht in den
Kaukasus eingebrochen. Von dort führt eine gerade Linie durch die
Türkei und Syrien nach Palästina.
Erwin Rommels berühmtes Afrikakorps hatte die
britische Linie durchbrochen und den ägyptischen Ort El-Alamein
erreicht, nur 106 km von Alexandria entfernt. Von dort bis Palästina
war es nur noch ein Katzensprung.
Ein Jahr vorher hatten die Nazis schon Kreta erobert
– die erste Invasion der Geschichte aus der Luft mit Fallschirmen.
Für jeden, der auf die Landkarte schaute, war die
Situation klar. Vom Norden, Westen und Süden bewegte sich der
militärische Nazikoloss unaufhaltsam auf Palästina zu mit dem Ziel,
den jüdischen Beinahe-Staat dort zu vernichten. Adolf Hitlers
wahnsinniger Antisemitismus führte zu keiner anderen
Schlussfolgerung.
Unsere britischen Mandatsherren dachten
offensichtlich auch so. Sie hatten schon ihre Frauen und Kinder in
den Irak geschickt. Sie selbst würden – so wurde gemunkelt – schon
auf ihren gepackten Koffern sitzen, um bei den ersten Hinweisen
eines deutschen Durchbruchs in Ägypten zu fliehen.
Die Hagana, unsere hauptsächliche geheime
militärische Organisation war dabei, verzweifelte Vorbereitungen zu
machen, wie die Helden von Massada vor etwa 1900 Jahren, die
kollektiven Selbstmord begingen, um nicht in die Hände der Römer zu
fallen . Unsere Kämpfer wollten sich auf dem Karmel versammeln, um
dort zu kämpfen und ihr Leben teuer zu verkaufen. Ich war gerade 19
geworden und lebte in Tel Aviv, einer Stadt, die keiner zu
verteidigen dachte. Wir wussten: das war das Ende.
Nachdem der Krieg mit einem totalen Kollaps von
Nazi-Deutschland endete, erschienen viele Bücher über den Verlauf
der Dinge. Es stellte sich heraus, dass die verzweifelte Krisis vom
Oktober 1942 nur in unserer Vorstellung bestand.
Die Invasion Kretas mit Fallschirmjägern war weit
entfernt davon, ein brillanter Sieg zu sein. In Wirklichkeit war
sie eine Katastrophe. Die deutschen Verluste waren so hoch, dass
Hitler eine Wiederholung verbot. (Die Briten, die das nicht wussten,
begannen ihre eigene Luftoperation in Holland fast am Ende des
Krieges, was auch eine totale Katastrophe war).
Die deutschen Truppen, die den Kaukasus erreichten,
waren total erschöpft und konnten nicht weiter nach Süden
marschieren. Von dem weit entfernten Palästina konnten sie nicht
einmal träumen.
Und ganz besonders wichtig für uns: Rommel hatte
El-Alamein mit den letzten Tropfen Benzin erreicht. Hitler, der den
ganzen Nordafrika-Feldzug für eine unnötige Ablenkung vom Hauptziel
– Russland – hielt, weigerte sich, sein kostbares Petroleum dort zu
verschwenden. Palästina war im egal. (Selbst wenn er wollte, es gab
keinen Weg, das Petroleum übers Mittelmeer zu schaffen. Die Briten
hatten den italienischen Marine-Code geknackt und wussten über jedes
Schiff Bescheid, das einen italienischen Hafen verließ).
Die Moral der Geschichte: selbst inmitten einer total
verzweifelten Situation kennt man die Fakten nicht genau genug, um
die Hoffnung zu verlieren.
ABER ES ist nicht nötig, siebzig Jahre zurückzugehen.
Es gibt genug Beispiele aus der jüngsten Geschichte.
Hätte einer von uns in Israel vor einem Jahr
geglaubt, dass die apathische Jugend unseres Landes, der „alles
scheißegal ist“, sich plötzlich zu einem noch nie da gewesenen
sozialen Protest erheben würde? Wenn das jemand nur eine Woche
vorher gesagt hätte, er wäre ausgelacht worden.
Dasselbe würde jedem passieren, der zu Beginn des
letzten Jahres prophezeit hätte, dass die Ägypter (ausgerechnet die
Ägypter) sich erheben und ihren Diktator wegjagen würden. Ein
arabischer Frühling? Hahaha!!
Wenn ich in Deutschland einen Vortrag halte, frage
ich immer: „Wenn jemand von Ihnen einen Tag, bevor es geschah,
glaubte, die Berliner Mauer würde noch zu seinen Lebzeiten fallen,
der hebe, bitte, seine Hand!“ Ich sah nie eine erhobene Hand.
Und das größte Ereignis: der Zusammenbruch der
Sowjetunion – wer sah dies kommen? Nicht einmal die USA mit ihrem
riesigen Geheimdienstapparat. Nicht unser Mossad mit seinen vielen
Kollaborateuren unter den Sowjet-Juden.
Keiner sah die iranische Revolution voraus, die den
Schah vertrieb.
Dasselbe gilt auch für die vielen von Menschen
verursachten Katastrophen während meiner Lebenszeit, vom Holocaust
bis Hiroshima.
WAS BEWEIST dies? Nichts, außer dass mit Sicherheit
nichts vorausgesehen werden kann. Menschliche Ereignisse werden von
Menschen gestaltet, Menschen gestalten menschliche Ereignisse. Das
mag ein guter Grund für Pessimismus sein, aber auch für Optimismus.
Wir können Katastrophen verhindern. Wir können eine
bessere Zukunft gestalten. Und dazu benötigen wir Optimisten – und
zwar eine Menge - die davon überzeugt sind, dass etwas getan werden
kann.
An Israels 64. Unabhängigkeitstag sieht die Situation
trostlos aus. Frieden ist ein schmutziges Wort. Die meisten
Israelis sagen : „Frieden wäre wunderbar. Ich würde jeden Preis für
Frieden zahlen. Aber leider ist Frieden unmöglich. Die Araber werden
uns nie akzeptieren. Also wird der Krieg ewig weitergehen.“
Das ist ein sehr bequemer Pessimismus, der uns von
aller Schuld befreit und uns erlaubt, nichts zu tun.
Die „Zwei-Staaten-Lösung“, die einzige reale Lösung,
die es gibt, tritt in den Hintergrund. Das Apartheid-Regime, das
längst in den besetzten palästinensischen Gebieten errichtet wurde,
breitet sich in Israel aus. In ein paar Jahren werden wir eine
vollkommene Apartheid im ganzen Land vom Mittelmeer bis zum Jordan
haben mit einer jüdischen Minderheit, die über eine
arabisch-palästinensische Mehrheit herrscht.
In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Israel gezwungen
wäre, den Palästinensern die Bürgerrechte zu geben, würde der
jüdische Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan sehr schnell ein
arabischer Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer werden .
Mit den USA, Israels einzigem verbleibenden
Verbündeten, geht es bergab – langsam aber sicher. Die aufstrebende
Macht, China, hat keine Erinnerung an den Holocaust.
Die soziale Ungleichheit nimmt in Israel überhand,
mehr als in jedem entwickelten Land. Es ist von den Idealen des
frühen Israel weit entfernt.
Die demokratischen Grundlagen der „einzigen
Demokratie im Nahen Osten“ wanken. Der Oberste Gerichtshof steht
unter Dauerbelagerung einer Bande von Halb-Faschisten, die sich in
unserer Regierung einnisten, die Knesset ist zu einer traurigen
Karikatur eines Parlamentes geworden, die freien TV- und gedruckten
Medien werden langsam aber sicher gleichgeschaltet.
Kann diese Situation noch schlimmer werden? In meinem
langen Leben habe ich gelernt, dass es keine Situation gibt, die so
schlimm ist, dass sie nicht noch schlimmer werden kann. Und kein
Führer ist so widerwärtig, dass sein Nachfolger sogar noch
widerwärtiger sein könnte.
Aber trotzdem sind mächtige Kräfte am Werk,
ungesehene und ungehörte, die die Dinge zum Besseren verändern
können. Es ist wie das Errichten eines Dammes an einem Fluss. Hinter
dem Damm steigt das Wasser langsam, still, unbemerkt. Eines Tages
bricht der Damm ganz plötzlich, und das Wasser überschwemmt die
Landschaft.
Dies wird nicht geschehen, ohne dass wir unsere Rolle
spielen. Was wir tun – oder nicht tun – ist ein Teil des
historischen Prozesses. Hoffen und glauben ist nicht genug. Tun und
Handeln ist das Wesentliche.
Hier sind wir - die unverbesserlichen Optimisten.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert.)