Eine Stinkbombe
Uri Avnery, 13.2.10.
DIE NETANYAHU Regierung hat in dieser Woche unter Mahmoud Abbas’
Stuhl eine Stinkbombe losgelassen.
Seit Monaten hat Abbas den Ministerpräsidenten geärgert. Er weigerte
sich, mit ihm „Friedensverhandlungen“ zu beginnen, während sich die
Siedlungen in der Westbank und in Ostjerusalem kontinuierlich
ausdehnen.
Jeder weiß, dass die vorgeschlagenen Verhandlungen keine Bedeutung
haben und nirgendwo hinführen. Binyamin Netanyahu benötigt sie, um
den amerikanischen Druck abzulenken. Barack Obama braucht sie, um
irgend einen Erfolg vorzuweisen, sei er auch noch so gering. Aber
Abbas weiß, seine Einwilligung werde Hamas helfen, ihn als
Kollaborateur hinzustellen.
Nun hat sich Netanyahu entschlossen, Abbas eine Lektion zu erteilen.
Seit drei Tagen strahlt Tag für Tag Kanal 10 (Israels zweitgrößte
Fernsehstation) in einem Programm nach dem anderen schockierende
„Enthüllungen“ aus über finanzielle und sexuelle Skandale von der
Spitze der palästinensischen Behörde.
Eine Person, die als eine der „ranghohen Kommandeure“ des
palästinensischen Sicherheitsdienstes vorgestellt wurde - im Rang
eines Generals - erschien im israelischen Fernsehen und klagte die
Führer der Palästinensischen Behörde und der Fatahbewegung an, sie
würde Hunderte Millionen Dollars stehlen und ekelhafte sexuelle
Straftaten begehen.
Die „Enthüllungen“ können die Existenz der Behörde und der Fatah
gefährden.
So etwas wäre nicht ausgestrahlt worden, wenn der israelische
Sicherheitsdienst (Shin Bet oder Shabak) dagegen gewesen wäre. Man
muss annehmen, dass er tief mit darin steckt.
DER GLÜCKLICHE Vater des Knüllers war Tzvi Yehezkeli, der
„Korrespondent für arabische Angelegenheiten“ im Kanal 10.
Ich habe seit Jahren Yehezkelis Sendungen verfolgt, und es fällt mir
schwer, mich an ein einziges Wort von ihm zu erinnern, das Muslime
allgemein und besonders Araber nicht lächerlich macht. Seine
Berichte und das, was er für die Show auswählt, liegen gewöhnlich
irgendwo zwischen himmelhoch anmaßend oder bodenlos verachtend.
Damit ist er in unsern Medien keine Ausnahme. Die meisten
„Korrespondenten für arabische Angelegenheiten“ sind ehemalige
Offiziere des Armeenachrichtendienstes. Sie betrachten sich als
aktive Mitglieder des großen Propagandaunternehmens gegen die
Araber.
Viele erfreuen sich großzügiger Beihilfe gewisser Institutionen, die
von amerikanischen Milliardären finanziert werden, deren einzige
Funktion es ist, die Quellen des Friedens und der Verständigung zu
vergiften. Israelische Juden, von denen die meisten kein arabisch
verstehen, sind sich der Tatsche nicht bewusst, dass sie unter dem
Deckmantel objektiver Information mit Dingen gefüttert werden, die
zur gut geübten, antiarabischen psychologischen Kriegsführung
gehören. Diese Institutionen beschäftigen Mengen von Leuten, die
jedes Wort und jedes Bild prüfen, das in den Medien der ganzen
arabischen Welt erscheint. Wenn man die Millionen Wörter und
Tausenden von Sendungen aus 22 arabischen Ländern durchgeht
(einschließlich der Palästinensischen Behörde) und der anderen Teile
der muslimischen Welt, kann man leicht jeden Tag eine verrückte
Äußerung und eine lächerliche Sache finden. Das wird dann der
israelischen Öffentlichkeit vorgestellt. (Wie würden wir selbst
aussehen, wenn wir einer solchen Musterung unterworfen wären?)
SO VIEL über den Vater des Knüllers. Wer ist der Enthüller ? Fahmi
Shabaneh, ein früherer Chef des palästinensischen
Sicherheitsdienstes in Hebron, wird von Yehezkeli als Held
dargestellt, der jeden Moment für die Sache der moralischen Reinheit
zu sterben bereit ist. Er hat sogar schon für sich ein Grab auf dem
Ölberg vorbereitet.
Offen gesagt, ich würde keinen gebrauchten Wagen von ihm kaufen.
Sein Erscheinen im israelischen Fernsehen ist an sich schon
merkwürdig – um wenigstens dies zu sagen. Warum sollte dieser
palästinensische Patriot ausgerechnet im israelischen Fernsehen
erscheinen? Warum bietet er seine Waren nicht einer arabischen
Fernsehstation oder Zeitung an oder wenigstens einem der neutralen
Medien? Das Argument, dass dies noch keiner veröffentlicht habe,
macht keinen Sinn. Würde Hamas es zurückgewiesen haben? Gibt es in
Europa und den USA einen Mangel an Medien, die keine Gelegenheit
verpassen, um Dreck auf die Muslime zu werfen?
Das Material dient natürlich der israelischen Besatzung. Es bedient
all jene mit Munition, die zeigen wollen, „wir haben keinen Partner
für Frieden“. Es hilft den Siedlern und den Kriegstreibern.
Aus diesem Grund müssen wir uns damit befassen, so widerlich es auch
ist. Diese Stinkbombe ist ein Sprengkörper.
DIE QUALITÄT der Enthüllung hängt jedoch nicht notwendigerweise von
Tzvi Yahezkelis und Fahmi Shabanehs Charakter ab. Diskriminierende
Information kommt oft aus unsauberen Quellen. Sie muss nach ihren
eigenen Maßstäben beurteilt werden.
Bis jetzt habe ich fünf Sendungen über diese Affäre gesehen. Sie
waren voller Anklagen, aber ohne Beweise. Shabaneh sprach von
Kartons voller Beweismaterial. Er wedelte mit Akten und Dokumenten.
Aber er zeigte nicht ein Dokument in der Weise, dass eine Prüfung
möglich gewesen wäre..
Ein Beweis bedeutet z.B. die Vorstellung eines Bankdokumentes in der
Weise, dass man richtig lesen, die Details studieren und Schlüsse
ziehen kann. Die Dokumente, die auf dem TV-Schirm kurz aufblitzten,
erlaubten dies nicht.
Noch verdächtiger ist das pornographische Video, das – wie behauptet
wurde – in der Wohnung einer Palästinenserin aufgenommen wurde, die
als Köder für Rafiq al-Husseini diente, Abbas Bürostabschef. Ich
traf und sprach mit dem Mann nur kurz (während Demonstrationen in
Bilin). Er gehört einer der größten und renomiertesten Familien
Jerusalems an, zu deren Mitgliedern Hajj Amin, der frühere Großmufti
von Jerusalem gehörte, der Führer des palästinensischen Aufstandes
von 1936, sowie Abd-al-Qader, der legendäre Kommandeur der
arabischen Kämpfer Jerusalems 1948, und der verehrte und geliebte
Faisal, der verstorbene Führer der arabischen Bevölkerung der Stadt.
Nach Shabaneh kamen al-Husseini und seine Sekretärin (und Geliebte)
in die Wohnung der Frau, die einen Job in Abbas’ Mitarbeiterstab
haben wollte. Husseini verlangte eine sexuelle Bestechung, und sie
half Shabaneh, ihm eine Falle zu stellen. Die Kamera zeigt ihn, wie
er sich nackt auszieht und ins Bett geht, wo ihn der tugendhafte
Shabaneh überrascht.
Bis zu diesem Punkt scheint das Szenario möglich, wenn auch
unwahrscheinlich. Aber in Laufe der Handlung ereignet sich etwas,
das offensichtlich unglaublich ist. Als die versteckte Kamera
Husseini in der Gesellschaft der Sekretärin und der Frau, die einen
Job sucht, zeigt, sagt er ihr, dass „Arafat ein Dieb gewesen sei,
dass Abbas ein Dieb sei, dass sie alle Diebe seien.“
Ist es plausibel, dass die Nummer Zwei im Amtssitz des
palästinensischen Präsidenten in der Weise zu einer Fremden spricht,
die nur eine Arbeitsstelle sucht? In ihrer Wohnung? In Gegenwart
einer Zeugin? Warum, ist er ein Kind? Die Kamera filmt diese Szene
aus einer Entfernung, die es unmöglich macht, von den Lippen des
Sprechers zu lesen.
Alles in allem: pikante und haarsträubende Anklagen, sehr wenig
überzeugende Beweise.
Nach 40 Jahren im Job als „Vater des israelischen investigativen
Journalismus’“ (Wie ich beschrieben wurde, als ich den
Sokoloff-Preis erhielt, die höchste Auszeichnung der israelischen
Journalistenvereinigung), wage ich zu sagen, dass ich einen Spürsinn
für solche Enthüllungen habe – für echte und unechte.
In diesem Stadium, nachdem ich die Filme sah, ist mein Eindruck,
dass hier etwas faul ist.
ZWEIFELLOS gibt es da eine Menge Korruption an der Spitze der
palästinensischen Behörde.
Es begann schon während der Zeit von Yasser Arafat. Er selbst war
sauber, aber er zögerte nicht, Korruption als eines der Mittel zu
benützen, um Leute zu manipulieren.
Keiner, der Arafat persönlich kannte, konnte ihn verdächtigen,
korrupt zu sein. Ich hörte auch nie Anklagen oder Geschwätz dieser
Art von Palästinensern. Er war dem palästinensischen Kampf und ihn
zu führen) völlig ergeben. Materieller Besitz und ein gutes Leben
interessierten ihn nicht. In dieser Hinsicht war er wie David
Ben-Gurion und Menachem Begin – allerdings unter sehr viel härteren
Umständen. Während die Leute rund um ihn sich prächtige Häuser
bauten, hatte er kein eigenes Haus. Einmal in Tunis rühmte er sich
mir gegenüber, er lebe in Flugzeugen . Das half ihm, Mordversuche zu
vereiteln (während Jahrzehnten schwebte er jeden Augenblick in
Lebensgefahr) und sparte auch Zeit. Seine „privaten“ Bankkonten
halfen ihm, die Kontrolle des Geldes persönlich zu übernehmen, von
dem ein großer Teil geheimen Zwecken diente, wie Waffenkauf, die
Bewaffnung der Palästinenser in den libanesischen Flüchtlingslagern
und ihre Verteidigung gegen die mörderischen Phalangisten, die
vorhatten, sie zu vernichten, auch die politischen Vertretungen in
aller Welt, den Kampf auf der diplomatischen Ebene austragen etc.
Aber Arafat kämpfte nicht gegen die Korruption seiner Mitarbeiter.
Vielleicht hat er sie sogar manchmal dabei unterstützt . Ich denke,
er sah dies als eines der Kontrollinstrumente über die Leute und die
Fraktionen an, die ihm halfen, das Wunder zu vollbringen, die
palästinensische Einheit unter unmöglichen Umständen intakt zu
halten – in der Diaspora und unter Besatzung.
Meiner Meinung nach war das ein Fehler. Arafat dachte, die korrupten
Geschäfte würden ihm helfen, seine Leute zu kontrollieren. Aber
nüchtern betrachtet, half die Korruption dem Shin Bet,
palästinensische Persönlichkeiten zu bestechen und zu erpressen, die
Führung zu korrumpieren und ihren Befreiungskampf lahm zu legen.
Palästinensische Korruption ist ziemlich schäbig: zweifelhafte
gemeinsame Transaktionen mit israelischen Geschäftsleuten, viele von
ihnen frühere militärische Gouverneure; Kommissionen zu kassieren.
Es ist unbedeutend, verglichen mit unserer eigenen all-umfassenden
legalen Korruption. Unsere Ministerpräsidenten verlassen Politik für
kurze Zeit und machen viele Millionen, indem sie ihre Verbindungen
und Informationen nützen, die sie im Amt erwarben. Im Ruhestand
befindliche Generäle verkaufen Waffen und bestechen überall auf der
Welt. Zwanzig Oligarchen kontrollieren praktisch die israelische
Wirtschaft mit Hilfe von Ministern und ranghohen Beamten, die ihnen
hörig sind. Ganz zu schwiegen von der USA, wo Lobbys Senatoren und
Kongressleute ganz offen mit Wahlkampagnenspenden kaufen .
ZURÜCK ZUM tugendhaften Fahmi Shabaneh: vor einigen Monaten
verhaftete die israelische Polizei ihn. Er ist ein Bewohner
Ost-Jerusalems und hat eine israelische Identitätskarte. Er wurde
angeklagt, für die palästinensische Behörde gearbeitet zu haben -
eine offensichtlich absurde Anklage, da Hunderte von
Ost-Jerusalemern für die Behörde arbeiten. Die israelische Regierung
schließt ihre Augen, weil sie versucht, die palästinensische Behörde
in ihren Sub-Unternehmer zu verwandeln.
Und warum wurde Shabaneh verhaftet? Um ihn in palästinensischen
Kreisen glaubwürdig erscheinen zu lassen und den Verdacht von ihm zu
nehmen, bevor er zum Anti-Korruptionsheld erkoren wurde? Um ihn zu
erpressen? Er wurde gegen Kaution freigelassen (in solch einem Fall
ganz ungewöhnlich) und sein Prozess ist noch anhängig. Nun ist er
der „gute Araber“, der Held der israelischen Medien, ein integraler
Teil der gut geölten Propagandamaschine.
Von der ganzen ekelhaften Affäre bleibt eine Hauptfrage: Zu welchem
Zweck? Derjenige, der entscheidet, Abbas zu verunglimpfen, weiß,
dass er damit Hamas’ Macht stärkt, eine Bewegung, die von der
palästinensischen Öffentlichkeit als nicht korrupt angesehen wird.
Während Abbas von demjenigen einen tödlichen Schlag erhält, der
angeblich Verhandlungen mit ihm führen will, liefert Netanyahu der
Hamas, die nicht verhandeln will, ein phantastisches Geschenk.
Sehr merkwürdig. Oder?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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