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Der Geist ist aus der Flasche
Uri Avnery, 19.2. 2011
DIES IST eine Geschichte direkt aus
Tausendundeiner Nacht. Der Geist entweicht der Flasche, und keine
Macht der Erde kann ihn wieder zurückbringen.
Als es in Tunesien geschah, konnte
gesagt werden: OK, ein arabisches Land, aber ein kleines. Es war
schon immer etwas fortschrittlicher als die anderen. Es ist nur ein
Einzelfall.
Und dann geschah es in Ägypten. Ein
zentrales Land. Das Herz der arabischen Welt. Das geistige Zentrum
des sunnitischen Islam. Aber es könnte gesagt werden: Ägypten ist
ein Sonderfall. Das Land der Pharaonen. Tausende von Jahren
Geschichte, noch bevor die Araber dorthin kamen.
Aber nun hat es sich über die ganze
arabische Welt ausgebreitet. Nach Algerien, Bahrain, Jemen,
Jordanien, Libyen, sogar nach Marokko. Und auch in den
nicht-arabischen, nicht sunnitischen Iran.
Der Geist der Revolution, der Erneuerung, der Verjüngung bedroht
jetzt alle Regime der Region. Man kann annehmen, dass die Bewohner
der „Villa im Dschungel“ eines Morgens aufwachen und entdecken, dass
der Dschungel um die Villa verschwunden ist und dass wir von einer
neuen Landschaft umgeben sind.
„ALS UNSERE zionistischen Vorväter
entschieden hatten, eine sichere Heimstätte für Juden in
Palästina einzurichten, hatten sie die Wahl zwischen zwei Optionen:
„Sie konnten in Vorderasien als
europäische Eroberer erscheinen, die sich selbst als ein Brückenkopf
des „weißen Mannes“ und als Herr der „Eingeborenen“ ansahen, wie die
spanischen Conquistadoren und angel-sächsischen Kolonialherren in
Amerika. Das taten die Kreuzfahrer zu ihrer Zeit.
„Die zweite Möglichkeit war, sich als
ein asiatisches Volk zu sehen, das in seine Heimat zurückkehrt, die
Erben der politischen und kulturellen Tradition der semitischen
Welt, bereit, mit anderen Völkern der Region am Krieg der Befreiung
von europäischer Ausbeutung teilzunehmen.“
Diese Worte schrieb ich vor 64 Jahren
in einer Broschüre, die genau zwei Monate vor Ausbruch des Krieges
von 1948 erschien.
Ich stehe auch jetzt noch zu diesen
Worten.
In diesen Tagen habe ich zunehmend das
Gefühl, dass wir wieder an einem historischen Scheideweg stehen. Die
Richtung, die wir in den kommenden Tagen wählen, wird noch einmal
das Schicksal des Staates Israel auf Jahre hinaus, vielleicht auf
Dauer entscheiden. Falls wir den falschen Weg wählen, werden wir –
wie ein hebräisches Sprichwort sagt - „ein Weinen für Generationen“
haben.
Und vielleicht wird die größte Gefahr
die sein, dass wir gar keine Wahl vornehmen, dass uns nicht einmal
bewusst ist, dass wir eine Entscheidung treffen müssen, dass wir auf
dem Weg weitergehen, der uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind.
Dass wir so sehr mit Trivialitäten beschäftigt sind – mit der
Auseinandersetzung zwischen dem Verteidigungsminister und dem
abgehenden Stabschef, dem Kampf zwischen Netanyahu und Lieberman
über die Ernennung eines Botschafters, mit den Nicht-Ereignissen von
„Big Brother“ und ähnlichen TV-Dummheiten – dass wir nicht einmal
merken, dass die Geschichte an uns vorüberzieht und uns zurücklässt.
WENN UNSERE Politiker und „Experten“ - zwischen all den täglichen
Zerstreuungen – überhaupt noch Zeit finden, sich mit den
Ereignissen rund um uns zu beschäftigen, dann in der alten (traurig)
bewährten Weise.
Selbst in den einigermaßen intelligenten
Talkshows gab es viel Heiterkeit über die Vorstellung, dass Araber
eine Demokratie schaffen könnten. Gelehrte Professoren und
Medienkommentatoren „bewiesen“, dass es so etwas nicht geben könne –
der Islam sei „von Natur aus“ antidemokratisch und rückschrittlich,
arabischen Gesellschaften fehlt die protestantisch-christliche
Ethik, die für eine Demokratie nötig sei, oder die kapitalistischen
Grundlagen für eine gesunde Mittelklasse etc. Bestenfalls würde
eine Art Despotismus die andere ersetzen.
Die populärste Schlussfolgerung war,
dass demokratische Wahlen unvermeidlich zum Sieg der
„islamistischen“ Fanatiker führen würde, die brutale Theokratien im
Talibanstil oder Schlimmeres errichten würden.
Ein Teil davon ist natürlich
absichtliche Propaganda, die dafür bestimmt ist, die naiven
Amerikaner und Europäer zu überzeugen, dass sie die Mubaraks der
Region unterstützen müssten oder eine alternative Militärdiktatur.
Aber das Meiste davon war ehrlich gemeint: die meisten Israelis
glauben wirklich, dass die Araber, die, wenn allein gelassen,
mörderische „islamistische“ Regime aufstellen, deren Hauptziel es
ist, Israel von der Landkarte zu wischen.
Die gewöhnlichen Israelis wissen fast
nichts über den Islam und die arabische Welt. Als ein (linker)
israelischer General vor 65 Jahren gefragt wurde, wie er die
arabische Welt sieht, antwortete er „durch das Fadenkreuz meines
Gewehrs“. Alles ist auf „Sicherheit“ reduziert, und Unsicherheit
verhindert natürlich jedes ernste Nachdenken.
DIESE HALTUNG geht zurück auf die
Anfänge der zionistischen Bewegung.
Ihr Gründer – Theodor Herzl – schrieb
bekanntermaßen in seiner historischen Abhandlung, dass der
zukünftige jüdische Staat „ein Stück des Walles der Zivilisation
gegen die asiatische (gemeint ist die arabische) Barbarei“ sei.
Herzl bewunderte Cecil Rhodes, den Fahnenträger des britischen
Imperialismus’. Er und seine Nachfolger teilten das geistige
Klischee, das damals in Europa üblich war, und das Eduard Said
später als „Orientalismus“ bezeichnete.
Wenn man bedenkt, dass die zionistische
Bewegung nah am Ende der imperialistischen Ära in Europa geboren
wurde, dass sie eine jüdische Heimstätte in einem Land aufzubauen
plante, in dem ein anderes Volk – ein arabisches Volk – lebte, dann
war dies im Nachhinein vielleicht sogar natürlich.
Die Tragödie ist, dass diese Haltung
sich seit 120 Jahren nicht verändert hat und dass diese heute
stärker als je ist. Diejenigen von uns, die einen anderen Kurs
vorschlagen – und diese hat es immer gegeben - bleiben „Stimmen in
der Wüste“.
Dies ist dieser Tage bei der
israelischen Haltung gegenüber den die arabische Welt und darüber
hinaus erschütternden Ereignissen offensichtlich. Unter gewöhnlichen
Israelis gab es eine Menge spontane Sympathie für die Ägypter, die
ihren Peinigern auf dem Tahrir-Platz entgegentraten – aber alles
wurde von außen und von weitem betrachtet, als würde dies alles
auf dem Mond geschehen.
Die einzige praktische Frage, die
gestellt wurde, war: wird der israelisch-ägyptische Friedensvertrag
eingehalten? Oder müssen wir neue Armeedivisionen für einen
möglichen Krieg mit Ägypten ausheben? Als fast alle
„Sicherheitsexperten“ uns versicherten, dass der Vertrag sicher sei,
verloren die Menschen das Interesse an der ganzen Sache.
ABER DER Vertrag – tatsächlich ein
Waffenstillstand zwischen Regimen und Armeen - sollte nur von
zweitrangiger Bedeutung für uns sein. Die wichtigste Frage ist: Wie
wird die neue arabische Welt aussehen? Wird der Übergang zur
Demokratie relativ glatt und friedlich verlaufen oder nicht? Wird es
überhaupt geschehen, oder wird es bedeuten, dass eine radikal
islamische Region entsteht - eine Entwicklung, die absolut möglich
ist ? Können wir Einfluss auf den Lauf der Dinge nehmen?
Natürlich ist keine arabische Bewegung
heute an einer israelischen Umarmung interessiert, es wäre die
erdrückende Umarmung eines Bären . Israel wird heute praktisch von
allen Arabern als ein kolonialistischer, anti-arabischer Staat
angesehen, der die Palästinenser unterdrückt und dabei ist, so viele
Araber wie möglich zu enteignen – obwohl ich glaube, dass es auch
eine Menge stille Bewunderung für Israels technische und andere
Errungenschaften gibt.
Aber wenn ganze Völker aufstehen und
Revolutionen alle festgefügten Einstellungen aufbrechen, besteht die
Möglichkeit, alte Ideen zu verändern. Wenn israelische politische
und intellektuelle Führer Israels heute aufstehen sollten und
offen ihre Solidarität für die arabischen Massen in ihrem Kampf
für Freiheit, Gerechtigkeit und Würde erklären würden, dann könnten
sie eine Saat säen, die in den kommenden Jahren Früchte tragen
würde.
Natürlich müssen solche Statements
wirklich aus einem ehrlichen Herzen kommen. Als oberflächlicher
Propagandatrick würden sie zu recht verachtet werden. Sie müssten
von einem tiefen Wandel unserer Haltung gegenüber dem
palästinensischen Volk begleitet werden. Deshalb wäre Frieden mit
den Palästinensern jetzt, sofort, eine lebenswichtige Notwendigkeit
für Israel.
Unsere Zukunft liegt nicht in der
Verbindung mit Europa oder Amerika. Unsere Zukunft liegt in diesem
Raum, zu dem unser Staat in Freud und Leid gehört. Nicht nur unsere
Politik müssten wir verändern, sondern unsere Grundeinstellung,
unsere geographische Orientierung. Wir müssen verstehen, dass wir
kein Brückenkopf von jemand Fernem sind, sondern Teil einer
Region, die sich jetzt - schließlich und endlich – dem Marsch
der Menschheit in die Freiheit anschließt.
Das arabische Erwachen ist keine Sache
von Monaten oder ein paar Jahren. Es kann gut ein langer Kampf
werden mit vielen Fehlschlägen und Niederlagen, aber der Geist wird
nicht mehr in die Flasche zurückkehren. Die Bilder der achtzehn Tage
auf dem Tahrir-Platz werden in den Herzen einer ganz neuen
Generation von Marrakesch bis Mosul lebendig bleiben, und jede neue
Diktatur, die hier und dort auftaucht, wird nicht in der Lage sein,
sie auszulöschen.
Ich könnte mir keinen weiseren und
anziehenderen Kurs für uns Israelis vorstellen, als dass wir uns
diesem Marsch mit Leib und Seele anschließen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
Gush Shalom Inserat in
Haaretz am 18. Februar 2011
Das ägyptische Volk
Kämpft tapfer für die Menschenrechte.
Die
israelische Knesset
Kämpft tapfer darum,
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