„Die Bäume gingen hin..“
Uri Avnery, 15.4.06
HEUTE WURDE Ehud Olmert der Ministerpräsident von
Israel. Er ist nicht mehr nur der „stellvertretende
Ministerpräsident“, sondern ein wirklicher
Ministerpräsident. Hundert Tage nachdem Ariel Sharon ins
Koma fiel, wurden ihm Job und Titel genommen. Gemäß dem
Gesetz. Olmert ist nun der amtierende Ministerpräsident
der Übergangsregierung und in ein paar Wochen von jetzt
an – wenn die neue Koalition gebildet wurde – wird er
der Chef einer regulären Regierung werden.
All
dies geschah ohne eine echte Debatte über Olmert. Der
Mann, der sein Leben lang eine Persönlichkeit des
öffentlichen Lebens war, ist den meisten Bürgern
eigentlich unbekannt. Der Öffentlichkeit genügt es, dass
er der „Erbe Sharons“ ist.
Doch
kann man sich kaum einen größeren Unterschied zwischen
zwei Personen vorstellen wie die zwischen Sharon und
Olmert. Es ist wie der Unterschied zwischen einem Löwen
und einem Fuchs, zwischen dem König der Tiere und dem
Listigsten unter ihnen (nach den Fabeln). Sharon ist
eine ungewöhnliche Person, ein Abenteurer, ein Führer
von Armeen, ein Mann des Krieges, der Schöpfer
großartiger Entwürfe ( im allgemeinen mit schwacher
Begründung), ein kreativer, starker, gefährlicher,
charismatischer Führer. Olmert ist ein Politiker, ist
ein Politiker, ist ein Politiker.
DIE
PERFEKTE Beschreibung eines Politikers wurde vor mehr
als 2000 Jahren über eine Person geschrieben– die nach
der Legende – fast 1000 Jahre früher gelebt haben soll:
Abimelech, König von Sichem (heute Nablus).
Wie
im Buch der Richter (Kap.9) beschrieben wird, ist
Abimelech der Sohn eines großen Führers. Nach dem Tod
seines Vaters tötete er seine 70 Brüder „auf einem
Stein“ und wurde Diktator.
Nur
Jotham, der jüngste Bruder, entkam dem Massaker. Er kam
und stellte sich auf den Gipfel des Berges Garizim, der
über der Stadt liegt, und erzählte den Männern von
Sichem in wunderbarem Hebräisch eine unsterbliche Fabel,
die mit den Worten beginnt: „Die Bäume gingen hin, um
einen König über sich zu salben ....“
Sie
gingen auf ihre Baumkollegen zu, auf einen nach dem
anderen und boten ihm die Krone an. Als sie zum
Olivenbaum kamen, verweigerte er verächtlich das
Angebot: „ Soll ich meine Fettigkeit lassen, die Götter
und Menschen an mir preisen und hingehen, über den
Bäumen zu schweben?“ Auch der stolze Feigenbaum lehnte
ab: „Soll ich meine Süßigkeit und meine gute Frucht
lassen und über den Bäumen schweben?“
Und
so hat jeder Baum der Reihe nach vorgezogen, sinnvolle
Dinge zu tun, statt in die Politik zu gehen. Nur der
Dornbusch, der keine Früchte, keinen Duft und keinen
Schatten hat, war unter einer Bedingung damit
einverstanden zu regieren: „ Ist es wahr, dass ihr mich
zum König über euch salben wollt, so kommt und bergt
euch in meinem Schatten; wenn nicht, so gehe Feuer vom
Dornbusch aus und verzehre die Zedern Libanons.“
Der
biblische Geschichtenerzähler meint damit, dass der
gewöhnliche Politiker ein unnützer Geselle sei und dass
jeder, der schöpferische Gaben habe, von diesem Beruf
Abstand nehmen solle. Das ist nun auch die weit
verbreitete Ansicht in Israel und in der Welt im
allgemeinen. Aber das legt eine simple Frage nahe: Wenn
es so ist, wer wird dann den Job tun? Denn Politik ist
ein notwendiger Beruf – irgendjemand muss, weitgehende
Zustimmung erhalten, um Aufgaben zu erfüllen, Gesetze zu
erlassen, die Gesellschaft zu verwalten. Und wenn weder
der Oliven- noch der Feigenbaum sich herablassen und
freiwillig den Job übernehmen, bleibt dies dem Dornbusch
überlassen.
Das
heißt, jemandem, dessen herausragende Eigenschaft
Machthunger ist.
WIE
AUS seiner Biographie bekannt ist, litt Olmert in seiner
Kindheit an großer Entbehrung. Eine Gruppe alter
Revisionisten (Mitglieder der rechtesten zionistischen
Bewegung, der Vorgängerin der Herut-Partei) bauten sich
einen Stadtteil am Rande von Binyamina, im Süden von
Haifa, dessen alte Bewohner sie mit Verachtung
behandelten. Es ist möglich, dass dies den Jungen Ehud
beeinflusste und anspornte, hervorzutreten, um
öffentliche Anerkennung zu erlangen und auch reich zu
werden.
Ich
traf ihn das 1. Mal in den Sechzigern, als ich ein
Mitglied in der Knesset war. Der junge Olmert war der
Lehrling und (buchstäblich) der Diener von einem anderen
Mitglied: Shmuel Tamir.
Man
konnte eine Menge von Tamir lernen. Er war ein
talentierter Egomane, der davon überzeugt war, dass die
Vorsehung ihn von Geburt an für den Ministerpräsidenten
bestimmt hat. Er hatte eine große Begabung, Leute
anzuziehen und sie zu seinen ergebensten Dienern zu
machen, die er dann so weit wie möglich ausnützte – und
dann wie eine ausgequetschte Zitrone wegwarf. Er hatte
viel persönlichen Charme und war ein Genie für
Propaganda. Immer war eine Menge von Journalisten um
ihn herum, die bereit waren, im zu dienen. Fast alle
wurden später seine Feinde. Sein politisches Leben war
ein irres Hin und Her zwischen den verschiedensten
Parteien, Splittergruppen und Vereinigungen, mit
Positionen von Tauben und Falken, bis er den Posten des
Justizministers erhielt und dort stecken blieb.
Auf
dem Wege dahin gelang es ihm auch, reich zu werden.
Das
war das Beispiel, das Olmert vor Augen hatte, als er
seine politische Karriere startete. Sein Weg sieht aus
wie ein Fluss, der sich mal nach rechts, mal nach links
schlängelt, manchmal auch zurück, aber in seinem Streben
keinen Augenblick ruht, bis er das Meer erreicht hat –
die höchste Macht. Es mag Jahrzehnte gedauert haben;
doch nun ist er angekommen.
Tamir ein früheres Mitglied des Irgun, begann seine
politische Karriere zunächst als Mitglied der
Herutpartei, verließ sie, trat wieder ein, versuchte
Menachem Begin abzusetzen, was ihm misslang. So war er
gezwungen, die Partei zu verlassen, und gründete eine
kleine Partei, die sich „Freies Zentrum“ nannte. Olmert,
von Geburt an ein Revisionist, glaubte, dass Tamir, der
viel jünger als Begin war, viel versprechender war und
schloss sich seiner erfolglosen Rebellion an. Er fand
sich dann als Juniorfunktionär in einer kleinen Partei
wieder.
Tamir förderte den Jüngeren. Zu spät verstand er, dass
sein Schüler begabter war, als er dachte: dieser
verhielt sich gegenüber Tamir wie Tamir gegenüber Begin.
Er verursachte eine Trennung zwischen Tamir und seinem
Partner, dem alten Politiker Eliezer Shostak vom rechten
Flügel. Mit diesem verließ er die Partei und bildete
eine andere. Dann verdrängte er Shostak, und übernahm
selbst die Führung . Die Affäre verursachte einiges
Lächeln, als Olmert (buchstäblich) mit den Stempeln der
Partei davon lief, um diese zu übernehmen.
1973 einigte Ariel Sharon den rechten
Flügel zu einem neuen Block, „Likud“ (Einigung) genannt.
Abgesehen von der Herut und Liberalen Parteien, die
schon in einer gemeinsamen Fraktion vereint waren, fügte
er noch zwei winzige Gruppen hinzu: Tamirs Freies
Zentrum und die Staatsliste, ein Überbleibsel von Ben
Gurions Anhängern.
(Als
ich ihn damals fragte, welchen Nutzen diese beiden
kleinen Parteien hätten, die keine Stimme hätten, sagte
er mir: „ Es ist wichtig, den Eindruck zu wecken, dass
die ganze Rechte vereinigt sei. Deshalb kann ich
niemanden außen vor lassen.)
Bei
den Wahlen, die am letzten Tag des Jahres 1973
stattfanden, erschien der von Menachem Begin geführte
Likud als einheitlicher Block. Sharon war die Nr.6 auf
der Liste, Olmert die Nr. 36. Seitdem arbeitete er
unermüdlich, mit unzähligen Tricks, um näher an die
Spitze heranzukommen. Er kam 1981 auf Platz 26, 1984
auf 24, 1988 auf Platz 22, 1991 auf 13 und 1995 auf
Platz 10. Dann entschied er sich für eine Abkürzung: er
wurde der Likud-Kandidat für das Amt des Bürgermeisters
von Jerusalem und besiegte den alten Teddy Kollek.
Als
Bürgermeister arbeitete er an zwei Fronten: er
unterdrückte die arabische Bevölkerung und verwöhnte die
orthodoxen Juden. Die annektierten arabischen
Stadtviertel wurden systematisch vernachlässigt. Er
trieb den Ministerpräsident Binyamin Netanyahu an, den
Tunnel in der Nähe der muslimischen Heiligen Stätten zu
öffnen, was Unruhen auslöste mit Dutzenden von Toten .
Er ermutigte amerikanisch-jüdische Millionäre, jüdische
Siedlungen mitten in arabischen Stadtteilen zu bauen und
kämpfte darum, den wunderschönen und bewaldeten Abu
Ghneim Hügel in die jüdische Siedlungsfestung Har Homa
zu verwandeln. Am Ende drängte er zum Bau der
Trennungsmauer, die die arabischen Wohnbezirke
zerschneidet.
Mit
den Orthodoxen – auf der andern Seite - hielt er eine
starke Verbindung, die ihn an der Macht hielten und
schließlich überreichte er ihnen die Schlüssel zur
Stadt. Die säkulare jüdische Bevölkerung zog in Scharen
aus der Stadt aus.
All
dies half ihm nichts. Als er sich entschloss, wieder in
die Knesset einzutreten, warfen ihn die 3000 Mitglieder
des eigenwilligen Likud Zentral Komitee zurück auf
Platz eins: Nr. 32 auf der Wahlliste. Aber Sharon, der
neue Parteiführer, entschied, dass es sich lohnt, die
Loyalität dieses frustrierten, ehrgeizigen Politikers zu
gewinnen. Als er seine Regierung bildete, versuchte er,
ihm das mächtige Finanzministerium zu überlassen. Doch
erwies sich dies als unmöglich, weil Netanyahu die Nr. 2
auf der Liste war. Er konnte nicht beiseite geschoben
werden.
Die
Lösung war dann: Olmert ein zweitrangiges Ministerium,
das für Industrie und Handel, zu geben – verbunden mit
einem Trostpreis: den renommierten, aber wertlosen Titel
des „stellvertretenden Ministerpräsidenten“. Das einzige
Vorrecht des Titelträgers war, dem Kabinett vorzusitzen,
wenn der Ministerpräsident im Ausland war. Sharon reiste
aber kaum.
Und
dann geschahen zwei Dinge: Sharon - von Olmert gedrängt
– spaltete den Likud und fiel dann ins Koma. Der
Stellvertreter wurde natürlicherweise sein
vorübergehender Erbe und der vorübergehende Erbe wurde
sein Nachfolger. Nach 40 Jahren Mäandrieren hat der
Fluss das Meer erreicht.
WIE
WIRD sich Olmert als Ministerpräsident entwickeln? Wird
sich der Fuchs in einen Löwen verwandeln, der
Nur-Politiker in einen Staatsmann?
Die
ersten Schritte lassen nichts Gutes ahnen. Olmert machte
zwar keine ernsten Fehler, die Wahlergebnisse waren
aber trostlos: von den 45 Sitzen, die Sharon bei den
Meinungsumfragen versprochen wurden, gewann er bei der
Wahl nur 29 Sitze. Seitdem spielte er den arroganten
Führer, besonders gegenüber der Labor-Partei, seinem
unentbehrlichen Koalitionspartner. Er versucht, die
rassistische Partei von Avigdor Liebermann in sein
Kabinett mit einzuschließen, behandelt Mahmoud Abbas mit
offener Verachtung, boykottiert die gewählte
palästinensische Führung ( die „Hamas-Regierung“) und
gibt dem Verteidigungsminister Shaul Mofaz freie Hand,
die Palästinenser zu bombardieren und auszuhungern.
Um
seine Unabhängigkeit zu demonstrieren, hat er Sharons
Trennungsplan einen neuen Namen gegeben: „Konvergenz“
(„Zusammenstreben“). Er sprich über ihn in vagen
Redewendungen - ohne Karten und Terminkalender. Er
könnte der Annexion von großen Gebieten („ohne Araber“)
dienen oder sich als ein Fata-Morgana-Plan
herausstellen, der niemals ausgeführt wird. Eindeutig
ist sein Wunsch für eine breite und bequeme Koalition.
Dies ist ihm wichtiger als die Realisierung eines
Planes, der ein entschlossenes und auf ein Ziel
konzentriertes Kabinett verlangt.
Es
ist noch zu früh, vorauszusehen, wohin er gehen wird.
Die Geschichte hat kleine Politiker gekannt, die aus dem
Schatten der großen Führer heraus traten und die Welt
überraschten. Ein solcher war Harry Truman, der Franklin
Delano Roosevelt folgte und seiner Präsidentschaft
einen eigenen bedeutenden Stempel aufdrückte. Ein
anderer war Anwar Sadat, der Nachfolger des
charismatischen Gamal Abd-al-Nasser. Aber es stimmt
auch: die Zahl der gegenteiligen Beispiele ist Legion.
Es
wird gesagt, dass ein Politiker an die nächsten Wahlen
denkt, ein Staatsmann aber an die nächste Generation.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert) |