TRANSLATE
Wir, die Verräter
Uri Avnery, 7.10.11 *
ES GIBT Situationen, in der ein
wirklicher Patriot keine Alternative hat, als ein Verräter zu sein,“
schrieb Rudolf Augstein in einer Rezension von einem meiner Bücher
in den späten 80er-Jahren. Das Buch „Mein Freund, der Feind“
beschrieb u.a. meine Begegnung mit Yassir Arafat. Es war die erste
Begegnung zwischen einem Israeli und dem Führer der
Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO). Sie fand während der
Schlacht um Beirut 1982 statt; um dies durchzuführen, musste ich die
feindlichen Linien überqueren.
Während ich noch auf dem Rückweg war –
auf der Straße von Beirut nach Rosh Hanikra hörte ich im Radio, dass
vier Regierungsmitglieder verlangt hätten, mich wegen Verrats
anzuklagen. Tatsächlich ordnete Menachem Begins Regierung mit Ariel
Sharon als Verteidigungsminister offiziell an, dass der Staatsanwalt
ein Strafrechtsverfahren gegen mich beginnt. Nach der Untersuchung
kam der Staatsanwalt Yitzhak Zamir zu der Schlussfolgerung, dass ich
nicht das Gesetz gebrochen hätte, einesteils, weil ich in Beirut ein
Gast der IDF war und andernteils, weil es keine rechtliche
Unterscheidung zwischen dem östlichen Teil der Stadt gab ( den die
IDF kontrollierte) und dem westlichen Teil (der in Händen der PLO
war).
In den 14 Jahren, die diesem 1.Treffen
vorausgegangen waren, hielt ich regelmäßig Kontakte mit der
PLO-Führung, obwohl sie offiziell als Terror-Organisation definiert
wurde und Arafat als Erz-Terrorist. Ich berichtete Rabin, während er
Ministerpräsident war (1974-77) über diese Kontakte. Es waren nur 11
Jahre später, dass Israel einen Vertrag mit der PLO schloss, unser
Ministerpräsident Arafat umarmte und die Minister, die mich als
Verräter vor Gericht bringen wollten , selbst Pilgerreisen zu ihm
machten.
ALS AUGSTEIN seinen Kommentar über
Verrat schrieb, dachte er besonders an Nazideutschlands berühmtesten
Fall von Verrat: den 1944 von Klaus von Stauffenberg ausgeführten
Komplott, als er versuchte, Adolf Hitler zu ermorden. Von
Stauffenberg, ein Kriegsheld, der im 2.Weltkrieg ein Auge und
mehrere Finger verloren hatte, überlegte lange, bis er sich für den
Schlag entschied. Als wirklicher Patriot kam er zu dem Schluss, dass
nur das Töten Hitlers Deutschland vor der Katastrophe der Niederlage
retten und den unnötigen Tod Hunderttausender Menschen in einem
verlorenen Krieg verhindern kann. Aber er hatte dem Führer Treue
geschworen und als gläubiger Katholik sah er den Treuebruch als eine
sehr ernste Angelegenheit an. Ein Aufstand mitten in einem Krieg war
natürlich Verrat.
Fast alle Deutschen wären heute damit
einverstanden, dass ein solcher Akt von Verrat moralisch und gerecht
wäre. Daher wurde die Straße, in der das Hauptquartier des deutschen
Generalsstabs lag und in dessen Hof Stauffenberg erschossen wurde,
nach ihm benannt. Hier liegen Verrat und Patriotismus dicht neben
einander.
Klaus von Stauffenberg war kein Linker.
Im Gegenteil. Er war ein Mann der Rechten, sehr konservativ, ein
Nachkomme vieler Generationen einer Adelsfamilie. Viel öfter sind es
Leute vom linken Flügel, die wegen Verrat angeklagt werden. Diese
Anklage mag der gewöhnlichste Fluch jener Rechten sein - weltweit
und besonders in Israel – der den Linken verpasst wird: dass sie ihr
Volk und ihr Land verraten.
Gemäß der Ansicht des rechten Flügels
untergraben die Linken die nationale Stabilität und helfen dem
Feind, der uns vernichten will. Die Linken sind fast immer gegen ein
großes Militärbudget und behaupten, dass Geld sei nötiger für
soziale Dienste wie Erziehung, Gesundheit und Wohlfahrt. Für sie hat
das Individuum einen höheren Wert als die Nation und der Staat. Sie
sucht Frieden und ist dafür bereit, gegenüber dem Feind Konzessionen
zu machen. In der israelisch-palästinensischen Arena, ist sie
bereit, Teile des Landes abzutreten, die der Allmächtige selbst dem
jüdischen Volk versprochen hat. Kurz gesagt: die Linken sind
widerwärtige Verräter.
Die Linken in Israel und in aller Welt
kontern, dass sie die wirklichen Patrioten sind; denn sie sind es,
die eine gesunde Gesellschaft suchen, die die wirklich Grundlage der
nationalen Sicherheit ist. Schließlich sind es nur die Bürger, die
sich als Teil des Landes und des Staates fühlen, die bereit sind
voll und ganz für diesen zu kämpfen. Außerdem kann kein Staat endlos
Krieg führen. Der Staat und das Individuum benötigen Frieden, und
nur im Frieden kann ein Staat all seine geistigen und materiellen
Ressourcen entwickeln.
Nach den Linken kultiviert die Rechte
Hassgefühle, Furcht und Vorurteile gegen andere, in fremden Ländern
und gegen Minderheiten innerhalb des eigenen Staates. Um die
Unterstützung der Massen zu gewinnen, versucht die Rechte, ständig
Spannungen zu schüren und Kriegsabenteuer zu verursachen, ein
Phänomen, das ihre eigene verzerrte Weltansicht rechtfertigen kann.
Deshalb ist der rechte Flügel eine Bedrohung für den Staat und seine
Bürger und führt letzten Endes in eine nationale Katastrophe, die in
unserm Fall die Zerstörung des „Dritten Tempels“ bedeuten würde, das
erneuerte jüdische Gemeinwesen. Kurz gesagt: widerwärtige Rassisten.
UNSERE EIGENE Geschichte schließt
Beispiele von Verrat ein, die dem des Deutschen von Stauffenberg vor
langer Zeit vorausgingen. Vor vielen Jahren habe ich einmal mit
jemanden zusammen zu Mittag gegessen, der damals eine Schlüsselfigur
in der israelischen Wirtschaft war. Während des Gespräches deutete
ich auf Shimon Bar Kochba, der den misslungenen jüdischen Aufstand
132-135 n. Chr. gegen Rom anführte; er war ein verrückter
Abenteurer. Dass die Zeloten der großen Revolution, die ihm
vorausgegangen waren, Verbrecher waren und dass auch die Makkabäer
vor ihnen einen mörderischen Bürgerkrieg führten.
Der Bankier starrte mich mit seinen
blauen Augen mit einem Blick riesigen Erstaunens an. Er hatte nie
solch seltsame Ansichten gehört. In dem Augenblick entschied ich
mich, eine Artikelserie über dieses Thema zu schreiben. Sie wurden
in einer Serie in Haolam Hazeh veröffentlicht und verursachten keine
Aufregung.
Einige Zeit später jedoch schrieb
Yehoshafat Harkabi, ein früherer Chef des militärischen
Nachrichtendienste und zur Zeit ein Historiker an der Hebräischen
Universität ein Buch in derselben Art, und der Damm brach. Er
schrieb: die Rebellion der Zeloten gegen Rom war ein Akt des
Wahnsinns. In der Sprache von heute könnten sie extreme Rechte
genannt werden. Sensible Leute wie König Herodes Agrippa II. warnte
vor dem sinnlosen Abenteuer gegen die riesige Militärmacht der
römischen Supermacht.. Aber die Zeloten brachten diese Stimmen zum
Schweigen, ermordeten jeden, der gegen die Rebellen sprach und
übernahmen die Macht in der jüdischen Gemeinde. Als die Römer 70
n.Chr. Jerusalem belagerten, verbrannten zelotische Gruppen sich
gegenseitig die Getreidelager, mit der Gewissheit, dass sie diese
nicht benötigen, weil der Allmächtige selbst seine Heilige Stadt
erlösen wird.
Einer der vernünftigen Leute, der in der
verrückt gewordenen Stadt blieb, Rabbi Yochanan Ben Sakkai; sagte
die Zukunft richtig voraus. Ben Sakkai tat so, als wäre er tot, und
ließ sich in einem Sarg aus der Stadt tragen; er traf sich mit dem
römischen Kommandeur und bat um Erlaubnis, in Yavne zu wohnen und
dort ein geistliches Zentrum zu eröffnen.
Das war ein totaler Verrat an seinem
Volk: die Front zu wechseln, Feigheit, Kontaktaufnahme mit dem
Feind, Kollaboration. Als ich ein Jugendlicher war, war ich Mitglied
der Irgun, eine vorstaatliche Gruppe im Untergrund; wir
organisierten eine Scheingerichtsverhandlung gegen ihn. Er wurde des
Verrates für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Die Zeloten
waren unsere Helden.
Aber die kollektive Weisheit des
jüdischen Volkes pries Ben Sakkais Verrat und stellte fest, dass
dieser Schritt die Bewahrung des Judentums während 2000 Jahre
Diaspora gewährte. Mit anderen Worten: sein Verrat rettete das Volk.
Sein Handeln war ein patriotisches Handeln. Die jüdische Gemeinde
war in der Lage, auf ihrem Land zu bleiben und blühte, bis zum
Kommen des nächsten Verrückten, Bar Kochba, noch ein Mitglied der
extremen Rechten, um die heutige Terminologie anzuwenden.
Das Schicksal der Makkabäer war in der
Geschichte besser. Sie haben sich positiv ins jüdische Bewusstsein
eingegraben, während an andere zelotischen Aktivitäten an Tisha B’Av
trauernd gedacht wird, werden die makkabäischen Taten andrerseits an
den Feiertagen gefeiert, und die zionistische Bewegung hat sie als
Freiheitskämpfer bejubelt, die die Juden von fremden Unterdrückern
befreiten.
Und tatsächlich hatten die Makkabäer im
Gegensatz zu den Zeloten und zu Bar Kochba eine realistische Ansicht
der politischen Situation ihrer Zeit. Sie schlossen Bündnisse und
bereiteten die Rebellion weise vor. Doch die Makkabäerkriege im
zweiten Jahrhundert v.Chr. war vor allem ein Bürgerkrieg. Wir sagen,
die Makkabäer führten einen mörderischen Feldzug gegen die
Hellenisten – aber wer waren die Hellenisten? Es waren diejenigen,
die die aufgeklärteste und fortgeschrittenste Kultur ihrer Zeit
akzeptierten, etwa dem Status heute, der im allgemeinen der
amerikanischen oder westlichen Kultur entspricht.
Das „national-religiöse“ Lager jener
Tage und was heute als Hügeljugend bezeichnet wird, sahen die
Hellenisten als Verräter an, genau die Art und Weise, wie die Linken
heute gebrandmarkt werden.(Dies hielt die Hasmonäerkönige, die den
Makkabäern folgten, nicht davon ab, selbst die griechische Kultur
anzunehmen, wie einige ihrer Namen andeuten).
VIELE JAHRHUNDERTE später wurde die
Krone des verrückten Messianismus an Shabbetai Zvi weitergegeben.
Seine Lehre faszinierte im 17. Jahrhundert die jüdischen Massen rund
um die Welt – und zwar mit unglaublicher Geschwindigkeit. Nur eine
kleine Anzahl von Juden wagte es, diesem Wahnsinn zu widerstehen –
sie wurden die „Verräter“ jener Zeit. Als die Seifenblase sich
auflöste und der sog. Messias zum Islam konvertierte, wurde klar,
dass die Opponenten Recht hatten. Dies brachte aber die Massen nicht
dazu, sie beliebt zu machen. Im Gegenteil, wie Gershom Scholem uns
erzählt: nach Shabbetai Zwis Schande wurden seine Opponenten sogar
noch mehr gehasst.
Und bis jetzt erwähnten wir noch nicht
den Erz-Verräter, den Propheten Jeremia, der die Kapitulation
predigte. Er war ein wirklicher Defätist. Dafür wurde er von der
rechten Regierung des 6. und 7. Jahrhunderts v. Chr. in einen
Schlammgraben geworfen. Doch seine Worte wurden in die Bibel
aufgenommen, während die seiner Feinde vergessen wurden.
Man könnte noch unzählige Beispiele aus
der Geschichte anderer Völker zitieren. In Krisenzeiten werden die
wirklichen Patrioten diejenigen sein, die zum Frieden und zum
Kompromiss aufrufen, kurz „die Linken“, als Verräter angesehen,
wogegen die Nationalisten aller Arten, die Kriegstreiber und die zum
Hass aufwiegeln als Patrioten wahrgenommen werden.
Es trifft auf sie zu, was der britische
Philosoph Samuel Johnsohn sagte: „Patriotismus ist die letzte
Zuflucht eines Schurken.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
*Veröffentlicht in Haaretz am
Vorabend von Yom Kippur, am 7.10.2011
|