Ein juristisches Dokument
Uri Avnery, 21.3. 09
DER WICHTIGSTE Satz, der in dieser Woche in Israel geschrieben
wurde, wurde im allgemeinen Trubel der aufregenden Ereignisse
übersehen.
Wirklich aufregend: In einem Schlussakt von Niederträchtigkeit –
typisch für seine ganze Einstellung als Ministerpräsident - hat Ehud
Olmert den gefangenen Soldaten Gilad Shalit seinem Schicksal
überlassen.
Ehud Barak entschied, die Laborpartei müsse sich der ultra-rechten
Regierung anschließen, die ausgesprochene Faschisten mit
einschließt.
Und auch dies: der frühere Präsident Israels war offiziell wegen
Vergewaltigung angeklagt worden.
Wer wird bei solch einer Kakophonie auf einen Satz achten, der von
Juristen in einem Dokument geschrieben wurde, das dem Obersten
Gerichtshof vorgelegt wurde?
DIE JURISTISCHE Debatte betrifft eines der abscheulichsten Gesetze,
die je in Israel erlassen wurden.
Es
besagt, dass es der Frau eines israelischen Bürgers nicht erlaubt
ist, mit ihm in Israel zu leben, falls sie in den besetzten
palästinensischen Gebieten oder in einem „feindlichen“ arabischen
Land lebt.
Die arabischen Bürger Israels gehören zu Hamulas – Familienclans –
die sich auch über die Staatsgrenzen hinaus erstrecken. Araber
heiraten allgemein innerhalb der Hamula. Das ist eine alte,
orientalische Sitte, die tief in ihrer Kultur verwurzelt ist und
wahrscheinlich oft mit dem Wunsch zusammenhängt, den Familienbesitz
zusammen zu halten. In der Bibel heiratete Isaak seine Cousine
Rebecca. (vgl. auch 1.Moses 28, 3: Auch Jakob heiratete seine
Cousine, und holte sie deshalb aus Mesopotamien).
Die „Grüne Linie“, die willkürlich durch die Ereignisse des
1948er-Krieges als Grenze gezogen wurde, teilte Familien. Das eine
Dorf befand sich in Israel, das nächste blieb außerhalb des neuen
Staates; die Hamula lebt aber in beiden Dörfern. Die Nakba schuf
also eine große palästinensische Diaspora.
Ein arabischer Bürger Israels, der eine Frau seiner Hamula heiraten
will, findet sie oft in der Westbank oder in einem Flüchtlingslager
im Libanon oder Syrien. Die Frau wird sich im allgemeinen ihrem Mann
anschließen und wird in seine Familie aufgenommen. Theoretisch
könnte sich ihr Mann ihr in Ramallah anschließen, aber der
Lebensstandard dort ist viel niedriger und sein ganzes Leben –
Familie, Arbeit, Studien – haben ihren Mittelpunkt in Israel. Wegen
des großen Unterschieds im Lebensstandard wird ein Mann, der in den
besetzten Gebieten lebt und eine Frau in Israel heiratet, sich
normalerweise ihr anschließen und israelische Staatsbürgerschaft
erhalten und sein früheres Leben zurücklassen.
Es
lässt sich schwer sagen, wie viele junge Palästinenser - männliche
und weibliche - während der 41 Jahre der Besatzung nach Israel
gekommen sind und auf diese Weise israelische Bürger wurden. Ein
Regierungsbüro spricht von zwanzigtausend, ein anderes von mehr als
hunderttausend. Egal, welche Zahl: die Knesset hat ein (offiziell
„vorläufiges“) Gesetz erlassen, um dieser Bewegung ein Ende zu
setzen.
Wie es bei uns üblich ist, war der Vorwand die Sicherheit.
Schließlich könnten alle in Israel naturalisierten Araber
„Terroristen“ sein. Es wurden zwar niemals Statistiken über solche
Fälle veröffentlicht – falls es je solche gegeben hat – aber seit
wann muss man „Sicherheits“-Behauptungen mit Belegen beweisen?
Hinter dem Sicherheitsargument lauert natürlich der demographische
Dämon. Die Araber stellen nun mehr als 20% der israelischen Bürger
dar. Wenn das Land von arabischen Bräutigams und Bräuten
überschwemmt würde, könnte der Prozentsatz – Gott bewahre! – auf
22% anwachsen. Wie würde der „jüdische Staat“ dann aussehen?
Die Angelegenheit kam vor den Obersten Gerichtshof, die
Antragsteller, Juden und Araber, stritten darum, dass dieses Gesetz
unserm Grundgesetz (unser Ersatz für eine nicht vorhandene
Verfassung) widerspricht, das die Gleichheit aller Bürger
garantiert. Die Antwort der Anwälte des Justizministeriums ließ die
Katze aus dem Sack. Sie behauptet das erste Mal in
unmissverständlicher Sprache,
„Der Staat Israel befindet sich mit dem palästinensischen Volk im
Krieg, Volk gegen Volk, Kollektiv gegen Kollektiv.“
MAN SOLLTE diesen Satz mehrfach lesen, um seine volle Auswirkung zu
begreifen. Das ist kein Satz, der einem Politiker versehentlich aus
dem Munde rutschte und mit seinem Atem verschwand – es ist ein Satz,
der von vorsichtigen Juristen geschrieben wurde, die jeden
Buchstaben auf die Goldwaage legen.
Wenn wir uns mit dem palästinensischen Volk im Krieg befinden, dann
bedeutet das auch, dass jeder Palästinenser, egal. wo er oder sie
sich befindet, ein Feind ist. Das schließt auch die Bewohner der
besetzten Gebiete ein, die Flüchtlinge, die in aller Welt zerstreut
leben, also auch die arabischen Bürger in Israel selbst: einen
Maurer in Taibeh, Israel, einen Bauern in der Nähe von Nablus in der
Westbank, ein Polizist der palästinensischen Behörde in Jenin, ein
Mädchen in einer Schule im Mia Mia-Flüchtlingslager in der Nähe von
Saida, Libanon, einen naturalisierten Kaufmann in New York, einen
Arzt an einem deutschen Krankenhaus – „Kollektiv gegen Kollektiv“.
Natürlich haben nicht die Juristen dieses Prinzip erfunden. Es ist
schon seit langem im täglichen Leben akzeptiert worden, und alle
Abteilungen der Regierung handeln danach. Die Armee schließt ihre
Augen, wenn ein „illegaler Außenposten in der Westbank auf
palästinensischem Land errichtet wird, und schickt Soldaten, um die
Eindringlinge zu schützen. Die israelischen Gerichte verhängen
härtere Urteile für arabische Angeklagte als für Juden, die
derselben Tat als schuldig befunden wurden. Die Soldaten einer
Armee-Einheit bestellen T-Shirts mit dem Bild einer schwangeren
arabischen Frau mit einem Gewehr, das auf ihren Bauch gerichtet
ist; dabei die Worte „1 Schuss 2 Tote“ (Wie in Haaretz in dieser
Woche veröffentlicht wurde.)
DIESEN ANONYMEN Juristen sollte vielleicht gedankt werden, dass sie
es wagten, in einem juristischen Dokument die Realität zu
formulieren, die sonst auf vielfältige Weise verborgen geblieben
wäre.
Die einfache Realität ist die, dass seit 127 Jahren nach dem Beginn
der neuen jüdischen Einwanderungswelle, 112 Jahre nach der Gründung
der zionistischen Bewegung, 61 Jahre nach der Errichtung des Staates
Israel, 41 Jahre nach Beginn der Besatzung der
israelisch-palästinensische Krieg an allen Fronten mit
unverminderter Wucht weitergeht.
Das inhärente Ziel des zionistischen Unternehmens ist es , das Land
– wenigstens bis zum Jordan – in einen homogenen jüdischen Staat zu
verwandeln. Während der zionistisch-israelischen Geschichte ist
dieses Ziel nicht einen Augenblick vergessen worden. Jede Zelle des
israelischen Organismus enthält diesen genetischen Code und handelt
danach, ohne dass eine spezifische Direktive nötig wäre.
In
Gedanken sehe ich diesen Prozess wie den Drang eines Flusses, das
Meer zu erreichen. Ein Fluss, der zum Meer drängt, erkennt kein
Gesetz an außer das der Schwerkraft. Wenn es das Terrain erlaubt
fließt er in gradem Kurs, wenn nicht, bricht er sich ein neues
Flussbett, windet sich wie eine Schlange, wendet sich nach rechts
und links und umfließt alle Hindernisse. Wenn nötig, teilt er sich
in verschiedene Flussarme. Von Zeit zu Zeit fließen Bäche hinein.
Und jede Minute kämpft er darum, das Meer zu erreichen.
Das palästinensische Volk wehrt sich natürlich gegen diesen
Prozess. Es weigert sich, nachzugeben, baut Dämme auf, versucht den
Strom zurück zu drängen. Sie sind zwar in den letzten hundert
Jahren ständig auf dem Rückzug, aber sie haben nicht aufgegeben.
Sie widerstehen weiter mit derselben Hartnäckigkeit wie der zum
Meer hin fließende Fluss.
ALL DIES ist von israelischer Seite aus mit sturem Abstreiten
weitergegangen, indem man tausend und eine Umschreibung, Vorwände,
selbst-bedienende Slogans und frömmlerische Unwahrheiten
verwendete. Aber von Zeit zu Zeit zeigt ein unerwarteter
Lichtblitz, was wirklich vor sich geht .
Genau dies geschah in dieser Woche, als ein vormilitärisches
Gymnasium, das für die Ausbildung zukünftiger Offiziere bestimmt
ist, zu einem Treffen ehemaliger Schüler zusammenrief. Die meisten
sind im aktiven Militärdienst oder im Reservedienst. Sie wurden
ermutigt, frei über ihre Erfahrungen zu sprechen. Da die meisten
gerade aus dem Gazakrieg zurückgekehrt waren, und die Dinge in
ihren Knochen brannten (wie man es im Hebräischern ausdrückt)
kamen schockierende Details ans Tageslicht. Diese fanden schnell
ihren Weg in die Medien und wurden ausführlich in den Zeitungen und
im Fernsehen veröffentlicht.
Für die Leser dieser Kolumnen kamen sie nicht als Überraschung. Ich
habe über sie u.a. in meinem Artikel „Die schwarze Flagge“
(31.Januar 2009) geschrieben. Amira Hass und Gideon Levy sammelten
Berichte von Augenzeugen von Bewohnern aus dem Gazastreifen, die
genau dieselben Geschichten erzählten. Aber da gibt es einen
Unterschied: dieses Mal wurden die Fakten von den Soldaten
berichtet, die selbst an den Geschehnissen teilnahmen oder dies mit
eigenen Augen sahen.
Die Armee war geschockt. Überrascht. Entsetzt. Der offizielle
Armeelügner, der den Titel des Armeesprechers trägt, hat bis vor
kurzem all dieses abgeleugnet. Jetzt verspricht er, dass die Armee
jeden Fall untersuchen wird – „so wie es der Fall verlangt.“ Der
Militärgeneralanwalt befahl der Untersuchungsabteilung der
Militärpolizei, eine strafrechtliche Untersuchung anzuberaumen. Da
derselbe Generalanwalt in der Vergangenheit damit geprahlt hat, dass
seine Offiziere während des ganzen Krieges in jedem Kommandoposten
der Frontlinie eingebettet waren, muss man schon sehr naiv sein,
dass sein Statement ernst zu nehmen ist.
Man kann sich auf die Armee verlassen, dass nichts Handfestes aus
der Untersuchung auftauchen wird. Eine Armee, die sich selbst
untersucht – wie jede Institution, die sich selbst untersucht – ist
eine Farce. In diesem Fall ist es sogar noch absurder, da die
Soldaten ja vor den Augen ihrer Kommandeure Zeugnis ablegen
mussten, während ihre Kameraden zuhörten. Bei dem Treffen sprachen
sie frei, da sie glaubten, nur die Anwesenden würden sie hören.
Selbst dann brauchten sie noch eine Menge Mut, um dies
auszusprechen. Und da nur jeder über das sprechen konnte, was sich
in seiner unmittelbaren Umgebung abgespielt hatte, waren nur ein
paar Fälle vorgebracht worden. Die Armee beabsichtigt, nur diese zu
untersuchen.
Aber die Sache hat ganz andere Dimensionen. Wir haben über viele
Fälle derselben Art gehört. Sie waren deutlich ein weit verbreitetes
Phänomen. Eine Frau und ihre Kinder wurde mitten im Kampf aus dem
Haus vertrieben und unmittelbar danach aus der Nähe von anderen
Soldaten erschossen, die den Befehl hatten, auf alles zu schießen,
was sich bewegt. Alte Leute und Kinder, die sich auf freiem Gelände
bewegten, wurden kaltblütig von Scharfschützen erschossen, die
sie deutlich durch ihre Teleskope sahen. Sie hatten den Befehl,
dass alles, was sich bewegt, als „Terroristen“ angesehen werden
muss. Wohnungen wurden aus keinem Grund zerstört, nur weil sie eben
da waren. Die Sachen in den Wohnungen wurden rein aus der Freude am
Spaß zerstört, „weil sie Arabern gehören“. Soldaten schlitzten Säcke
mit Nahrungsmittel auf, die von den UNO-Agenturen für die hungrige
Bevölkerung bestimmt waren, weil sie „für Araber bestimmt waren“.
Ich weiß, dass solche Dinge in jedem Krieg passieren. Ein Jahr nach
dem 1948er-Krieg schrieb ich darüber ein Buch, das den Titel trägt
„Die andere Seite der Medaille“. Eine kämpfende Armee hat auch
Psychopathen, Außenseiter und Sadisten neben anständigen
Soldaten. Aber selbst einige normale Soldaten werden in einer
Schlacht verrückt, verlieren ihr Gefühl für Recht und Unrecht und
gleichen sich dem „Geist der Einheit“ an, falls es so einen gibt.
Mit unserer Armee ist etwas passiert. Ihre Kommandeure werden nicht
müde, sie die „moralischste Armee der Welt“ zu nennen . Und dies war
zu einem Slogan geworden wie „Guinness ist gut für dich“. Doch was
während der Gaza-Operation geschah, weist auf eine massive
Verschlechterung hin.
Diese Verschlechterung ist eine natürliche Folge der Definition des
Krieges, wie ihn die Anwälte in dem dem Obersten Gerichtshof
vorgelegten Dokument formulierten. Dieses Dokument muss Schock und
Verurteilung auslösen und jede Person aufwecken, die sich um die
Zukunft Israels sorgt.
Dieser Krieg muss beendet werden. Der Fluss muss in ein anderes Bett
umgeleitet werden, damit sein Wasser das Land fruchtbar macht –
bevor wir unwiderruflich in unsern eigenen Augen und in den Augen
der Welt zu wilden Tieren werden.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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