Bil’in! Bil’in!
Uri Avnery, 8.9.07
WENN
MEINE Freunde der Verzweiflung anheim zu fallen drohen,
zeige ich ihnen ein bemaltes Betonstück, das ich in
Berlin gekauft habe.
Es
ist eines der Überbleibsel der Berliner Mauer, die in
der Stadt verkauft werden.
Ich
sage ihnen, dass ich mich, wenn die Zeit gekommen ist,
um die Lizenz bemühen werde, um Stücke der hiesigen
Trennungsmauer zu verkaufen.
Wenn
ich in Deutschland einen Vortrag halte, frage ich
manchmal: „Wer von Ihnen glaubte eine Woche vor dem
Mauerfall, dass dies noch zu seinen Lebzeiten geschehen
würde?“ Keiner hob jemals seine Hand.
Aber
die Berliner Mauer fiel. Und in dieser Woche geschah
dies auch hier – zugegebenermaßen nur an einer Stelle
und für einen kleinen Abschnitt des Zaunes, aber
immerhin entschied der Oberste Gerichtshof, die
Regierung müsse das Hindernis (so nennt man hier einen
Zaun mit Gräben, Patrouillenweg und
rasierklingenscharfem Stacheldraht) näher an die Grüne
Linie hin verlegen.
DIE
BIBEL verlangt von uns: „Freue dich nicht, wenn dein
Feind fällt, und dein Herz sei nicht fröhlich, wenn er
strauchelt“ (Sprüche 24,17). Es ist ein sehr schwer zu
befolgendes Gebot, dem man gehorchen soll.
In
diesem Fall ist der Feind das „Trennungshindernis“. Es
fällt schwer, sich nicht zu freuen, selbst wenn es eine
begrenzte Freude ist, eine mit Vorbehalten, weil wir
wohl eine Schlacht, aber nicht den Feldzug gewonnen
haben
Zunächst einmal ist nur ein Teil des Landes von Bil’in
befreit worden, längst nicht alles. Der neue Zaun wird
immer noch weit entfernt von der Grünen Linie sein. Die
Länge des Sektors, der abgebaut werden soll, wird
weniger als zwei Kilometer betragen..
Zweitens: Bil’in ist nur eines von vielen Dörfern, deren
Land durch die Mauer geraubt wurde.
Drittens: die Mauer ist nur eines der Mittel der
Besatzung, und die Besatzung wird von Tag zu Tag
schlimmer.
Viertens hat der Oberste Gerichtshof den Verlauf der
Mauer an vielen anderen Stellen bestätigt, obwohl sie
dort nicht weniger palästinensisches Land stiehlt als in
Bil’in.
Fünftens: die Bil’in-Entscheidung hat auch eine negative
Seite: sie liefert dem Gericht in den Augen der Welt ein
Alibi. Es überträgt den Siedlern an vielen anderen Orten
eine scheinbare Legitimität. Es darf keinen Moment
vergessen werden, dass der Oberste Gerichtshof im
Wesentlichen ein Instrument der Besatzung ist, selbst
wenn er diese manchmal abmildert.
Als
ob er dieses unerstreichen wolle, beeilte sich der
Gerichtshof in dieser Woche, noch eine andere
Entscheidung zu fällen: eine rückwirkende Bestätigung
für ein anderes Siedlerwohngebiet, das auch auf
Bil’in-Land gebaut wurde.
Doch
trotz alledem: in diesem verzweifelten Kampf ist selbst
ein kleiner Sieg ein großer Sieg. Ganz besonders, da es
in Bil’in geschah.
DENN
BIL’IN ist ein Symbol. In den vergangenen zwei ein halb
Jahren wurde es zu einem Teil unseres Lebens.
Hier
findet jeden Freitag - ohne Ausnahme - sei 135 Wochen
eine Demonstration gegen den Zaun statt.
Was
ist so besonders an Bil’in, einem kleinen und weit
entfernt liegenden Ort, dessen Name bis vor kurzem nur
wenigen Außenseitern bekannt war - wenn überhaupt?
Dieser Kampf
dort ist auf Grund verschiedener, ungewöhnlicher
Eigenschaften zu einem Symbol geworden:
a) STANDHAFTIGKEIT. Der Mut der Bil’iner.
Auch in anderen Orten hatten die Demonstranten Mut
bewiesen. Aber hier hat die schiere, zähe Hartnäckigkeit
Bewunderung hervorgerufen. Woche um Woche kamen sie
zurück. Die Aktivisten wurden immer wieder verhaftet und
mehr als einmal verletzt. Das ganze Dorf hat unter dem
Terror der Besatzungsbehörden gelitten.
Mehr
als einmal war ich beim Anblick des Widerstandes dieses
kleinen Dorfes tief bewegt. Ich sah die gepanzerten
Jeeps hineinrasen, die Sirenen kreischten hysterisch,
die schwer gepanzerten Polizisten sprangen heraus und
warfen Tränengas- und Lärmbomben in alle Richtungen,
junge Leute stoppten die Jeeps mit ihrem bloßen Körper.
b)
PARTNERSCHAFT. Die dreiseitige Partnerschaft zwischen
der Bevölkerung des Dorfes, israelischen
Friedensaktivisten und Vertretern der internationalen
Solidaritätsbewegung.
Das
ist eine Art Partnerschaft, die nicht bei hochtrabenden
Reden oder sterilen Konferenzen in Luxushotels im
Ausland zustande kommt. Sie entstand unter
Tränengaswolken und unter Güssen von Wasserwerfern und
während Lärmbomben und mit Gummi ummantelte Stahlkugeln
geschossen wurden, in Ambulanzen des Roten Halbmondes
und in Haftzentren der Armee. Es entstand wirkliche
Kameradschaft und gegenseitiges Vertrauen, etwas, das
für immer in unserm Land abhanden gekommen schien.
Seit
dem Tode Arafats war die Zusammenarbeit zwischen
Palästinensern und Israelis auf verschiedenen Ebenen
weniger geworden. Viele Palästinenser hatten alle
Hoffnung gegenüber Israelis aufgegeben, die die
erhoffte Veränderung nicht erreicht hatten, und viele
israelische Friedensaktivisten verzweifelten angesichts
der palästinensischen Realität. Aber in Bil’in blühte
die Zusammenarbeit geradezu auf..
Die
israelischen Aktivisten, angeführt von den resoluten
jungen Frauen und Männer der „Anarchisten gegen den
Zaun“, haben den Palästinensern bewiesen, dass sie einen
israelischen Partner haben, dem sie vertrauen können,
und die Leute von Bil’in haben ihren israelischen
Freunden bewiesen, dass sie verlässliche und
entschlossene Partner sind. Ich bin stolz auf die Rolle,
die Gush Shalom in diesem Kampf gespielt hat.
Nun
hat das Gerichtsurteil bewiesen, dass solche
Demonstrationen, die viele für hoffnungslos hielten,
tatsächlich Früchte tragen können.
c)
GEWALTLOSIGKEIT. Immer und überall. Mahatma Gandhi und
Martin Luther King würden auf solche Nachfolger stolz
sein.
Die
Gewaltlosigkeit war ganz auf Seiten der Demonstranten.
Ich kann es als Augenzeuge bestätigen: in allen
Demonstrationen, an denen ich teilnahm, sah ich nicht
ein einziges Mal, wie ein Demonstrant seine Hand gegen
einen Soldaten oder Polizisten erhob. Wenn bei einem der
Proteste aus den Reihen der Demonstranten Steine
geworfen worden waren, so bewiesen Videoaufnahmen, dass
sie von Undercover-Polizisten (als Araber verkleidete
Polizisten) stammten.
Allerdings stimmt es, dass es Gewalt bei den
Demonstrationen gab, sogar eine Menge Gewalt. Aber
diese kam von den Soldaten und Grenzpolizisten, die es
vermutlich nicht ertragen konnten, dass Palästinenser
und Israelis gemeinsam handelten.
Gewöhnlich geschah dies wie folgt: Die Demonstranten
marschierten gemeinsam vom Dorfzentrum in Richtung Zaun.
Vorneweg gingen junge Männer und Frauen, die Symbole der
Gewaltlosigkeit an sich hatten oder trugen. Einmal
hatten sie sich mit Handschellen an einander gekettet,
ein andermal trugen sie Poster mit Bildern von Gandhi
und Martin Luther King , wieder ein anderes Mal wurden
sie in Käfigen eingesperrt getragen – der Phantasie und
Kreativität waren keine Grenzen gesetzt. Manchmal gingen
bekannte Persönlichkeiten Arm in Arm vorne weg.
Vor
dem Zaun stand ein großes Kontingent von Soldaten und
Grenzpolizisten und wartete auf sie. Sie trugen Helme
und schusssichere Westen, waren mit Gewehren und
Granatwerfern bewaffnet und Handschellen und Knüppel
hingen an ihren Gürteln. Die Demonstranten hielten nicht
an, sondern gingen auf das Tor im Zaun zu, schlugen
darauf und schüttelten es, schwangen Fahnen und riefen
Slogans. Nun eröffneten die Soldaten das Feuer, schossen
Tränengas- und ohrenbetäubende Lärmgranaten und mit
dünnem Gummi ummantelte Stahlkugeln.
Die
Demonstranten setzten sich auf den Boden, andere zogen
sich zurück und kamen immer und immer wieder. Manche
wurden mit bloßem Rücken über die Straße und die Felsen
weggeschleift, wegen des Gases oft nach Luft ringend.
Verhaftungen wurden vollzogen. Wunden mussten behandelt
werden.
Wenn
die Demonstration zu Ende ging, und die Teilnehmer
sich auf den Rückweg zum Dorf machten, begannen die
einheimischen Jungen Steine auf die Soldaten zu
schleudern, die mit „Gummikugeln“ antworteten. Die
Jungen wurden zwischen den Olivenbäumen gejagt; da sie
die Schnelleren waren, konnten sie meistens entkommen.
Manchmal begann
das Steine-werfen schon früher: Wenn die Jungen von
weitem die Menge der Soldaten zwischen den
Olivenbäumen des Dorfes lauern sahen und als
Demonstranten brutal zu den Armeefahrzeugen geschleift
wurden. Aber entsprechend einem Abkommen unter einander
schlossen sich die Demonstranten nie den Steinewerfern
an, auch dann nicht, wenn sie über den felsigen Boden
geschleift oder, wenn sie bereits auf dem Boden lagen,
getreten oder geschlagen wurden.
Dieses Zusammenspiel von Standhaftigkeit,
Partnerschaft und Gewaltlosigkeit ist es, was
Bilin zu einem leuchtenden Beispiel im Kampf gegen die
Besatzung machte.
DIE
BIL’IN-Geschichte hat noch eine andere Seite, die in all
ihrer Hässlichkeit während der letzten paar Wochen
aufgedeckt wurde.
Der
Oberste Gerichtshof hat entschieden, dass der Verlauf
des Zauns nicht auf Sicherheits-bedürfnissen beruht,
sondern geplant wurde, um die Siedlung zu vergrößern.
Für uns war das natürlich nichts Neues. Jeder , der dort
gewesen war – einschließlich ausländischer Diplomaten –
sah dies mit eigenen Augen. Die Route war so festgelegt
worden, dass das Land von Bil’in von Israel de facto
annektiert werden konnte, um einem großen neuen
Wohnungsbauprojekt „Matityahu-Ost“ zur Verfügung zu
stehen – zusätzlich zur Siedlung Matityahu (auch
Modi’in Illit und Kiryat Sefer genannt), die schon dort
steht.
Bei
einer zweiten Entscheidung in dieser Woche beschloss
der Oberste Gerichtshof – um der fadenscheinigen
„Balance“ willen – dass das
Matityahu-Wohnungsbauprojekt, das auch auf Land von
Bil’in schon existiert, dort bleiben kann und nun
bewohnt werden darf, trotz der Tatsache, dass dasselbe
Gericht dies früher verboten hatte.
Und
wer hat Matityahu gebaut?
Vor
ein paar Wochen wurde ein riesiger Skandal aufgedeckt.
Der Missetäter ist eine Baugesellschaft, namens
Hefziba. Diese brach zusammen und mit ihr die Wohnungen,
die ihre Kunden schon bezahlt hatten. Viele haben so
all ihre Ersparnisse verloren.
Der
Besitzer der Gesellschaft floh und wurde in Italien
aufgespürt. Die Schulden der Gesellschaft umfassen
nahezu eine Milliarde Dollars. Die Polizei hat den
Verdacht, dass der Geflohene immense Summen gestohlen
hat.
Und sieh da! Es
handelt sich um dieselbe Gesellschaft, die den
ursprünglichen Matityahu- Stadtteil baute und die
beabsichtigte, das neue Matityahu-Projekt auf dem durch
den „Sicherheitszaun“ gestohlenen Land zu bauen. Sie
hatte auch das monströse Har-Homa-Wohnungsprojekt bei
Bethlehem und andere Siedlungen in den besetzten
Gebieten gebaut.
Wer
kann jetzt leugnen, was wir schon seit Jahren gesagt
hatten, dass die Siedlungen ein milliardenschweres
Geschäft sind - ein Geschäft, das sich auf gestohlenen
Landbesitz gründet.
Jeder kennt den harten Kern der Siedler -
nationalistisch-messianische Fanatiker - die bereit
sind, zu vertreiben, zu töten und zu rauben, weil ihr
Gott ihnen das so aufgetragen hat. Aber hinter
diesem harten Kern verbirgt sich eine große Gruppe von
Gangstern, eigentlich Immobilienmakler, die ihr
schmutziges und enorm profitables Geschäft unter dem
Decknamen des „Patriotismus“ durchführen. In diesem
Fall ist „Patriotismus“ tatsächlich die Zuflucht von
Schurken.
Talia Sasson, eine von der Regierung bestimmte
Anwältin, hatte den Auftrag, die Gründung „illegaler“
Außenposten zu untersuchen. Sie kam zu der
Schlussfolgerung, dass die meisten Ministerien und
Armeekommandeure das Gesetz verletzt und heimlich mit
den Siedlern zusammen gearbeitet hatten. Es mag so
aussehen, als würden sie aus patriotischen Gefühlen
handeln. Ich habe da meine Zweifel. Ich wage zu
vermuten, dass es Hunderte Politiker, Beamten und
Offiziere gibt, die von den Geschäftsleuten großzügig
bestochen wurden, die wiederum Milliarden bei diesen
„patriotischen“ Transaktionen eingeheimst hatten.
P.S.
:
Der
Mann, der die Idee zur Trennungsmauer hatte, war Chaim
Ramon, damals ein Führer der Labor-Partei. Ramon begann
als einer der „Tauben“ in der Partei, (als das populär
war). Später sprang er über zur Kadima-Partei (als diese
profitabel war).
In
dieser Woche schlug Ramon vor, den Gazastreifen vom
Strom abzuschalten, den Israel liefert – als
Strafmaßnahme für die Qassamraketen, die nach Sderot
abgeschossen werden. Es muss daran erinnert werden, dass
vom Anfang der Besatzung an die israelischen Regierungen
verhindert haben, dass dort unabhängige Wasser- und
Stromwerke eingerichtet wurden, um sicher zu stellen,
dass der Gazastreifen auf Gedeih und Verderb von Israel
abhängig ist.
Jetzt schlug Ramon vor, diese lebensnotwendige Leitung
abzuschneiden, um Gaza in Dunkelheit zu tauchen, den
Strom für Krankenhäuser und Gefrierschränke zu kappen –
als Kollektivstrafe, die ein Kriegsverbrechen
darstellt. Seine Regierung hat diesen Vorschlag im
Prinzip akzeptiert.
Wenn
Bil’in in diesem Kampf gegen die Besatzung die Söhne des
Lichts darstellen, dann vertritt Ramon sicherlich – ganz
buchstäblich – die Söhne der Finsternis.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert)
Bericht und Fotos der Siegesdemonstration, die am
letzten Freitag ( 7.9.07) in Bilin stattgefunden hat,
können auf der Website
www.gush-shalom.org betrachtet werden.