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Sturm über Hebron
Uri Avnery, 11. Februar 2012
ANSCHEINEND
GIBT es keine Grenzen für das Unheil, das die Stadt Hebron
verursacht.
Dieses Mal ist der Grund so unschuldig, wie er
nur sein kann: die organisierten Besuche von Schulkindern zur
Machpela-Höhle, in der unsere Vorfahren angeblich beerdigt wurden.
Von Rechts wegen sollte Hebron ein Symbol für
Brüderlichkeit und Versöhnung sein. Die Stadt ist verbunden mit der
legendären Person von Abraham, dem Vorfahren von Hebräern und
Arabern. Tatsächlich bedeutet der Name selbst „Freundschaft“: der
hebräische Name Hebron hat dieselbe Wortwurzel wie „haver“ – Freund,
Kamerad, während der arabische Name der Stadt – al-Khalil – „Freund“
bedeutet. Beide Namen sprechen davon, Abraham sei der Freund Gottes.
Abrahams Erstgeborener, Ishmael, war der Sohn der
Nebenfrau Hagar, die, als der legitime Sohn Isaak von Sarah geboren
wurde, in die Wüste hinaus getrieben wurde, um dort zu sterben.
Ishmael, der Patriarch der Araber, und Isaak der Patriarch der
Juden, waren Feinde, aber als ihr Vater starb, kamen sie zusammen
und begruben ihn: „Als Abraham seinen Geist aufgab und in
einem guten Alter (175) starb , als er alt und lebenssatt war, wurde
er zu seinen Vätern versammelt. Und seine beiden Söhne, Isaak und
Ishmael begruben ihn in der Höhle von Machpela…“ (Genesis 25)
IN LETZTER ZEIT hat Hebron einen ganz anderen Ruf
erlangt.
Seit Jahrhunderten lebte eine kleine jüdische
Gemeinde dort im Frieden und guter Nachbarschaft mit den
muslimischen Bewohnern. Aber 1929 geschah etwas Schreckliches. Eine
Gruppe jüdischer Fanatiker inszenierte in Jerusalem einen Vorfall,
als sie versuchten, den empfindlichen Status an der Klagemauer zu
verändern. Religiöse Aufstände brachen im ganzen Land aus. In Hebron
ermordeten Muslime 59 Juden, Männer Frauen und Kinder, ein
Ereignis, das eine unauslöschliche Spur im jüdischen Gedächtnis
hinterließ (weniger bekannt ist die Tatsache, dass 263 Juden von
ihren arabischen Nachbarn gerettet wurden).
Kurz nach der Besetzung der Westbank im
Sechs-Tage-Krieg drang eine Gruppe fanatisch-messianischer Juden mit
einer List in Hebron ein und gründete dort die erste jüdische
Siedlung. Diese wurde zu einem wahrhaftigen Nest von Extremisten,
einschließlich einiger eingefleischter Faschisten. Einer von ihnen
war der Massenmörder Baruch Goldstein, der 29 betende Muslime in der
Machpelahöhle mordete – die in Wirklichkeit gar keine Höhle ist,
sondern ein festungsartiges Gebäude, vielleicht von König Herodes
gebaut.
Seitdem gibt es endlose Scherereien zwischen den
etwa 500 jüdischen Siedlern in der Stadt, die sich des Schutzes der
Armee erfreuen, und den 165 000 arabischen Einwohnern, die völlig
von ihrer Gnade abhängig sind und keine Menschenrechte noch zivilen
Rechte genießen.
WENN DIE Schulkinder dorthin geschickt worden
wären, um beide Seiten anzuhören und so von der Kompliziertheit des
Konfliktes erfahren hätten, dann wäre dies gut gewesen. Aber das ist
nicht die Absicht des Bildungsministers Gideon Sa’ar.
Persönlich ist Sa’ar (sein Name bedeutet
„Sturm“) eine nette Person. Tatsächlich begann er seine Karriere in
meinem Magazin Haolam Hazeh. Doch ist er ein fanatischer Rechter,
der glaubt, sein Job sei es, die israelischen Kinder vom miesen
kosmopolitischen Liberalismus zu reinigen, in dem ihre Lehrer
angeblich stecken würden, und sie in uniforme loyale Patrioten zu
wandeln, die bereit sind, fürs Vaterland zu sterben. Er sendet
Armeeoffiziere zum Predigen in die Klassen, verlangt von den
Lehrern, dass sie den Kindern „jüdische Werte“ beibringen (d.h.
nationalistische Religiosität), selbst in säkularen Schulen, und
jetzt möchte er sie nach Hebron und anderen „jüdischen Plätzen“
schicken, damit ihre jüdischen Wurzeln kräftiger werden.
Die dorthin gesandten Kinder sehen die „jüdische“
Machpela-Höhle ( die 13 Jahrhunderte eine muslimische Moschee war),
die Siedler, die Straßen, in denen sich keine Araber mehr bewegen
dürfen, und lauschen der Indoktrinierung patriotischer Führer. Kein
Kontakt mit Arabern, keine andere Seite, überhaupt keine anderen.
Als eine rebellische Schule Mitglieder der
friedensorientierten Ex-Soldatengruppe „Das Schweigen brechen“
einlud, um sie zu begleiten und ihnen die andere Seite zu zeigen,
kam die Polizei und hinderte sie daran, die Stadt zu besuchen. Jetzt
haben etwa 200 Lehrer und Schulleiter einen offiziellen Protest
gegen das ganze Projekt unterschrieben und verlangten, es zu
streichen.
Sa’ar ist empört. Mit glühenden Augen hinter den
Brillengläsern denunziert er die Lehrer. Wie konnte man solchen
Verrätern erlauben, unsere kostbaren Kinder zu lehren?
ALL DIES erinnert mich an meine Frau Rachel. Ich
mag diese Geschichte schon einmal erzählt haben, dann bitte ich um
Nachsicht. Ich kann gerade nicht anders, als sie nochmals zu
erzählen.
Rachel war viele Jahre lang Lehrerin in der
ersten und zweiten Klasse. Sie war davon überzeugt, dass danach
weiter nichts getan werden könne, um den Charakter eines Menschen zu
formen.
Wie ich liebte auch Rachel die Bibel – nicht als
religiösen Text oder als Geschichtsbuch (was sie ganz entschieden
nicht ist), sondern als großartige Literatur – unübertroffen in
seiner Schönheit.
Die Bibel erzählt, wie der mythische Abraham die
Machpela-Höhle kaufte, um seine Frau Sarah dort zu beerdigen. Es ist
eine wunderbare Geschichte, und wie Rachel es immer tat, ließ sie
die Kinder die Geschichte in der Klasse spielen. Dies machte die
Geschichte nicht nur lebendig, sondern erlaubte ihr auch,
schüchterne Jungen und Mädchen, denen das Selbstvertrauen fehlte, zu
ermutigen. Wenn sie in einem der improvisierten Spiele für eine
bedeutende Rolle auserwählt wurden, gewannen sie Selbstrespekt und
blühten auf einmal auf. Einige hatten ihr ganzes Leben verändert
(wie sie mir viele Jahre später anvertrauten).
Die Bibel (Genesis 23) sagt, Abraham habe die
Leute von Hebron um ein Stück Land gebeten, damit er seine Frau, die
im reifen Alter von 127 Jahren starb, begraben könne. Alle
Hebroniten boten ihre Felder umsonst an. Aber Abraham wollte das
Feld von Ephron, dem Sohn Zohars, für so viel Geld abkaufen, wie
es wert wäre.
Ephron jedoch weigerte sich, Geld anzunehmen, und
bestand darauf, dem verehrten Gast das Feld als Geschenk zu
vermachen. Nach dem Austausch von Freundlichkeiten kam Ephron
schließlich zu dem Punkt: „Mein Herr, höret mich doch an, das Land
ist vierhundert Lot Silber wert, was ist das aber zwischen mir und
dir?“
Die Szene wurde aufgeführt mit einem 7Jährigen
Jungen der einen langen Bart trug, der Abraham spielte. Ein anderer
spielte Ephron, während der Rest der Klasse die Leute von Hebron
als Zeugen der Übergabe spielten, wie Abraham gebeten hatte.
Rachel erklärte den Kindern, dass dies eine alte
Art sei, Geschäfte zu machen, um nicht direkt auf die unfeine Art
des Geldes zu kommen. Sondern man wechselte zunächst höfliche Worte
und Proteste, und dann kam man nach und nach zu einem Kompromiss.
Sie fügte noch hinzu, dass diese zivilisierte Art heute noch in der
arabischen Welt besteht, besonders unter den Beduinen, sogar in
Israel. Für die Kinder, die wahrscheinlich noch nie ein gutes Wort
über Araber gehört hatten, war dies eine Offenbarung.
Später fragte Rachel die Kollegin der
Parallelklasse, wie sie dieselbe Geschichte erzählt habe. „Was
meinst du damit?“, erwiderte die Frau, „ich habe ihnen die Wahrheit
gesagt, dass Araber immer lügen und täuschen. Wenn Ephron 400
Schekel haben will, warum sagt er es nicht gleich? Statt vorzugeben,
er wolle es ihm schenken?“
WENN LEHRER wie Rachel ihre Kinder nach Hebron
nehmen und ihnen alles zeigen könnten, den arabischen Gewürzmarkt
und die Glasbläsereien, die seit Jahrhunderten das einzigartige
blaue Hebronglas herstellen, so wäre das wunderbar. Wenn die Kinder
mit Arabern und Juden, einschließlich den Fanatikern auf beiden
Seiten, sprechen könnten, dann wäre das von hohem Bildungswert. Die
Gräber der Patriarchen zu besuchen ( von denen die meisten
Archäologen glauben, dass es tatsächlich die Gräber von muslimischen
Scheichs sind) die für Muslime und Juden heilig sind, könnte eine
Botschaft übermitteln. Den Israelis ist gar nicht bewusst, dass
Abraham als Prophet auch im Koran erwähnt wird.
Vor der Eroberung Jerusalems, um diese zu seiner
Hauptstadt zu machen, hatte der mythische König David (auch als
Prophet im Islam verehrt) seine Hauptstadt in Hebron. In der Tat
erfreut die Stadt, die 930 m über dem Meer liegt, mit ihrer
wunderbaren Luft und angenehmen Temperaturen im Sommer wie im
Winter.
Diese ganze Episode bringt mich zurück zu einem
alten Hobby von mir: die Notwendigkeit für alle israelischen
Schulkinder, die jüdischen wie arabischen, die ganze Geschichte des
Landes zu lernen.
Das scheint selbstverständlich, ist es aber
nicht. Weit davon entfernt. Die arabischen Kinder in Israel lernen
die arabische Geschichte, die mit Anfang des Islam im weit
entfernten Mekka beginnt. Die jüdischen Kinder lernen jüdische
Geschichte, die fast 2000 Jahre keine bedeutende Rolle im Lande
spielte. Große Teile der Landesgeschichte sind der einen Seite oder
gar beiden Seiten unbekannt. Die jüdischen Schüler wissen nichts
über die Mamelucken und fast nichts über die Kreuzfahrer ( außer
dass sie die Juden in Deutschland auf dem Weg hierher mordeten). Die
arabischen Schüler wissen sehr wenig über die Kanaaniter und die
Makkabäer.
Die Geschichte des Landes im Ganzen zu lernen,
einschließlich seiner jüdischen und muslimischen Phasen, würde eine
vereinheitlichte allgemeine Ansicht schaffen, die die beiden Völker
viel näher zu einander bringen und den Frieden und die Versöhnung
leichter machten. Aber diese Aussicht ist heute so weit entfernt wie
vor 40 Jahren, als ich dies das erste Mal in der Knesset vorbrachte.
Seitdem gab mir der damalige Bildungsminister Zalman Aran von der
Laborpartei den Spitznamen „der Mameluke“.
In einer anderen Atmosphäre würde Hebron anders
angesehen werden: eine faszinierende Stadt, die beiden Völkern
heilig wäre; die zweite heilige Stadt für das Judentum ( nach
Jerusalem) und eine der vier heiligen Städte für den Islam ( mit
Mekka, Medina und Jerusalem). Mit gegenseitiger Toleranz und ohne
die Fanatiker auf beiden Seiten was wäre es für ein wunderbarer Ort,
den die Schulkinder besuchen könnten!
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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