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Eine Villa im Dschungel
Uri
Avnery, 5. Februar 2011
WIR SIND inmitten eines geologischen
Geschehens. Ein Erdbeben von historischen Dimensionen verändert die
Landschaft unserer Region. Berge werden zu Tälern, Inseln tauchen
aus dem Meer auf, Vulkane bedecken das Land mit Lava.
Die Menschen fürchten sich vor der
Veränderung. Wenn dies geschieht, neigen sie dazu, dies zu leugnen,
zu ignorieren, geben vor, dass nichts wirklich Bedeutendes
geschieht.
Die Israelis sind hier keine Ausnahme.
Während im benachbarten Ägypten erderschütternde Dinge geschehen,
war Israel mit einem Skandal in den oberen Rängen der Armee
beschäftigt. Der Verteidigungsminister verabscheut den amtierenden
Stabschef und macht daraus kein Geheimnis. Der mutmaßlich neue Chef
wurde als Lügner enthüllt, und seine Ernennung wurde zurückgezogen.
Das waren die Schlagzeilen.
Aber was jetzt in Ägypten geschieht,
wird unser Leben verändern.
WIE GEWÖHNLICH sah es keiner voraus. Der
viel gefeierte Mossad war total überrascht, genau wie der CIA und
all die anderen gefeierten Dienste dieser Art.
Doch sollte es überhaupt keine
Überraschung gewesen sein – abgesehen von der unglaublichen Wucht
des Ausbruchs. In den letzten Jahren haben wir viele Male hier
erwähnt, dass in der ganzen arabischen Welt eine Menge junger Leute
heranwächst, die eine tiefe Verachtung für ihre Führer hat, und
dass es früher oder später zu einem Aufstand kommen werde. Dies
waren keine Prophezeiungen, sondern eher eine nüchterne Analyse von
Wahrscheinlichkeiten.
Der Aufstand in Ägypten wurde durch
wirtschaftliche Faktoren bestimmt: die wachsenden Lebenskosten, die
Armut, die Arbeitslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit der gebildeten
jungen Leute. Aber lassen wir kein Missverständnis aufkommen: die zu
Grunde liegenden Ursachen liegen viel tiefer. Sie können mit einem
Wort zusammengefasst werden: Palästina.
In der arabischen Kultur ist nichts
bedeutsamer als die Ehre. Die Menschen können Not ertragen, aber
keine Demütigungen.
Was jeder junge Araber von Marokko bis
Oman täglich sah, war , dass seine Führer sich demütigten, indem
sie die palästinensischen Brüder im Stich ließen, um Gunst und Geld
von Amerika zu erhalten. Sie kollaborierten mit der israelischen
Besatzung und katzbuckelten vor den neuen Kolonialherren. Dies war
für junge Leute zu tiefst demütigend, die mit den Errungenschaften
der arabischen Kultur vergangener Zeiten und dem Ruhm früherer
Kalifen aufgewachsen sind.
Nirgendwo war der Ehrverlust
offensichtlicher als in Ägypten, das offen mit der israelischen
Führung kollaboriert, in dem es die schändliche Blockade über den
Gazastreifen verhängt und so 1,5 Millionen Araber der Unterernährung
und Schlimmerem preisgibt. Es war niemals nur eine israelische
Blockade, sondern eine israelisch-ägyptische, die mit 1,5 Milliarden
US-Dollar pro Jahr geschmiert wurde.
Ich habe viele Male – laut – darüber
nachgedacht, wie ich mich als 15-jähriger Junge in Alexandria, Amman
oder Aleppo fühlen würde, wenn ich meine Führer sehe, wie sie sich
wie unterwürfige Sklaven der Amerikaner und Israelis benehmen,
während sie ihre eigenen Untertanen unterdrücken und ausplündern. In
diesem Alter schloss ich mich einer terroristischen Organisation an.
Warum sollte ein arabischer Junge anders sein?
Ein Diktator kann toleriert werden, wenn
er die nationale Würde reflektiert. Aber ein Diktator, der nationale
Schande ausdrückt, ist ein Baum ohne Wurzeln – ein starker Wind
wird ihn zu Fall bringen.
Für mich gab es nur die Frage, wo es in
der arabischen Welt anfangen würde. Ägypten – wie auch Tunesien –
standen unten auf der Liste. Doch genau hier in Ägypten findet die
große arabische Revolution statt.
DIES IST ein Wunder für sich selbst.
Wenn Tunesien ein kleines Wunder war, so ist dies ein großes.
Ich liebe das ägyptische Volk. Es stimmt
zwar, dass man nicht 88 Millionen Individuen wirklich lieben kann,
aber man kann sicher ein Volk mehr als ein anderes lieben. In dieser
Hinsicht ist es einem erlaubt, zu verallgemeinern.
Die Ägypter, die man auf den Straßen
trifft, in den Häusern der intellektuellen Elite und in den Gassen
der Ärmsten der Armen sind eine unglaublich geduldige
Gesellschaft Sie sind mit einem unverwüstlichen Gespür für Humor
ausgestattet. Sie sind auch unheimlich stolz auf ihr Land und seine
8000 jährige Geschichte.
Für einen Israeli, der an seine
aggressiven Landsleute gewöhnt ist, ist das fast vollkommene Fehlen
von Aggressivität bei den Ägyptern erstaunlich. Ich erinnere mich
noch lebhaft an eine besondere Szene: ich saß in einem Taxi in
Kairo, als dieses mit einem anderen zusammenstieß. Beide Fahrer
stiegen aus und verfluchten einander mit schrecklichen Ausdrücken.
Und dann hielten beide plötzlich inne und brachen in ein Gelächter
aus.
Wenn ein Europäer nach Ägypten kommt,
mag er dieses oder hasst es. In dem Augenblick, in dem du auf
ägyptischem Boden landest, verliert die Zeit ihren tyrannischen
Druck. Alles wird gelassen, alles ist durcheinander, doch in
wunderbarer Weise löst sich alles von alleine auf. Geduld ist
grenzenlos. Dies mag einen Diktator täuschen. Weil die Geduld
plötzlich ein Ende haben kann.
Es ist wie ein defekter Deich an einem
Fluss. Das Wasser steigt kaum wahrnehmbar und geräuschlos hinter
dem Deich – aber wenn es einen kritischen Punkt erreicht, bricht
der Deich und überschwemmt alles.
MEINE EIGENE erste Begegnung mit
Ägypten war wie ein Rausch. Nach Anwar Sadats beispiellosem Besuch
in Jerusalem eilte ich nach Kairo. Ich hatte kein Visum. Ich werde
niemals den Moment vergessen, in dem ich meinen israelischen Pass
dem korpulenten Beamten am Flughafen reichte. Er blätterte ihn
durch und wurde immer verwirrter – und dann hob er seinen Kopf mit
einem breiten Lächeln und sagte „Marhaba!“, „Herzlich Willkommen!“
Zu diesem Zeitpunkt waren wir die einzigen drei Israelis in der
riesigen Stadt, und wir wurden wie Könige gefeiert. Beinahe
erwarteten wir, jeden Augenblick auf die Schultern der Leute
gehoben zu werden. Frieden lag in der Luft, und die Menschenmassen
Ägyptens liebten dies.
Es dauerte nur ein paar Monate, bis
sich dies zu tiefst veränderte. Sadat hoffte - und glaubte ehrlich–
dass er auch den Palästinensern Befreiung gebracht hat. Unter
intensivem Druck von Seiten Menachem Begins und Jimmy Carters
stimmte er einer vagen Formulierung zu. Bald danach merkte er, dass
Begin nicht im Traume daran dachte, sein Versprechen zu erfüllen.
Für Begin war das Friedensabkommen mit Ägypten ein separater
Frieden, der es ihm möglich machte, den Krieg gegen die
Palästinenser zu intensivieren.
Die Ägypter vergaben dies niemals – das
begann bei der kulturellen Elite und sickerte bis zu den
Volksmassen durch. Sie fühlten sich betrogen. Die Palästinenser
mögen nicht sehr geliebt sein, aber einen armen Verwandten zu
verraten, ist nach arabischer Tradition eine Schande. Nachdem die
Ägypter gesehen hatten, wie Hosni Mubarak mit diesem Verrat
kollaborierte, verachteten sie ihn. Diese Verachtung lag allem
zugrunde, was in dieser Woche geschehen ist. Die Millionen, die
„Mubarak, geh weg!“ schrieen, schrieen - bewusst oder unbewusst
- auch aus dieser Verachtung.
BEI JEDER Revolution gibt es einen „Jeltzin-Moment“
. Die Panzer werden in die Hauptstadt geschickt, um die Diktatur
wieder herzustellen. Im kritischen Augenblick standen sich die
Volksmassen und das Militär gegenüber. Wenn die Soldaten sich zu
schießen weigern, ist das Spiel zu Ende. Jeltzin kletterte auf einen
Panzer, ElBaradei wandte sich an die Massen auf dem Tahrir-Platz.
Das ist der Augenblick, in dem ein vorsichtiger Diktator ins Ausland
flieht, wie es der Schah tat und jetzt der tunesische Boss.
Dann gibt es noch den „Berliner Moment“,
wenn ein Regime ins Wanken gerät und keiner der Mächtigen weiß, was
er tun soll, und nur die anonymen Massen genau zu wissen scheinen,
was sie wollen: sie wollten, dass die Mauer fällt.
Und es gibt noch den „Ceaucesco
Moment“. Der Diktator steht auf dem Balkon und wendet sich an die
Menge, als plötzlich von unten ein Schrei ertönt „Nieder mit dem
Tyrannen!“ und anschwillt. Einen Moment lang ist der Diktator
sprachlos, bewegt seine Lippen geräuschlos, dann verschwindet er.
Dies geschah Mubarak, der noch eine lächerliche Rede hielt und
umsonst versuchte, sich gegen die Flut zu stemmen.
WENN MUBARAK die Realität nicht mehr
sieht, so trifft dies auch auf Binyamin Netanyahu zu. Er und seine
Kollegen sind unfähig, die schicksalhafte Bedeutung dieser
Ereignisse für Israel zu begreifen.
Wenn Ägypten sich bewegt, wird die
arabische Welt folgen. Was in der nächsten Zukunft in Ägypten
geschieht – Demokratie oder eine Militärdiktatur – so ist das nur
die Sache einer (kurzen) Zeit, bevor die Diktatoren in der ganzen
arabischen Welt fallen und die Massen eine neue Realität ohne
Generäle schaffen.
Alles, was die israelische Führung in
den letzten 44 Jahren der Besatzung oder der 63 Jahre seiner
Existenz getan hat, ist obsolet geworden. Wir stehen vor einer
neuen Realität. Wir können sie ignorieren – und darauf bestehen,
dass wir „eine Villa im Dschungel“ sind, wie Ehud Barak es einmal
bekanntermaßen sagte – oder einen passenden Platz in der neuen
Realität finden.
Frieden mit den Palästinensern ist nicht länger
Luxus. Es ist eine absolute Notwendigkeit. Frieden jetzt, und zwar
Frieden schnell. Frieden mit den Palästinensern und dann Frieden mit
den demokratischen Massen in der ganzen arabischen Welt, Frieden mit
den vernünftigen islamischen Kräften (wie Hamas und den
Muslimbrüdern, die sich sehr von der Al-Qaida unterscheiden),
Frieden mit den Führern, die im Begriff sind, in Ägypten und überall
aufzutauchen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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