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Das
Vier-Buchstaben-Wort
Uri Avnery, 24. Juni 2017
WENN EIN
Brite oder ein Amerikaner über ein „Vierbuchstabenwort“ spricht,
meint er einen vulgären Ausdruck für Geschlechtsverkehr, ein Wort,
das in höflicher Gesellschaft nicht erwähnt wird.
In Israel haben wir
auch so ein Wort, ein Wort mit vier Buchstaben. Ein Wort, das nicht
ausgesprochen wird.
Es ist das Wort „Schalom“
- Friede.
(Im Hebräischen ist
„Sch“ ein Buchstabe und das „a“ wird nicht geschrieben.)
Seit Jahren
verschwand dieses Wort aus dem Verkehr (außer als Gruß).Jeder
Politiker weiß, dass dies tödlich ist. Jeder Bürger weiß, dass
dieses Wort nicht zu erwähnen ist.
Es gibt viele
Wörter, die es ersetzen. „Politisches Abkommen“. „Trennung“. „Wir
sind hier und sie sind dort.“ Regionales Arrangement“, um nur ein
paar zu nennen.
Uns jetzt kommt
Donald Trump und bringt dieses Wort wieder zurück. Trump, ein
völliger Ignorant, weiß nicht, dass es in diesem Land ein Taboo
ist.
Er will hier
Frieden machen. SCH-A-LO-M . sagt er. Es gibt nicht die
geringfügigste Chance, dass er wirklich Frieden machen wird. Aber
er hat das Wort wieder in die Sprache zurückgebracht. Jetzt
sprechen die Leute wieder über den Frieden.
FRIEDEN? WAS
ist Frieden?
Es gibt alle
möglichen Arten von Frieden. Fangen wir mit einem kleinen Frieden,
einem Baby-Frieden an bis zu einem großen, sogar mächtigen Frieden.
Bevor wir deshalb
eine ernsthafte Debatte über den Frieden eröffnen, müssen wir
definieren, was wir meinen. Eine Zwischenzeit zwischen zwei
Kriegen? Keine Kriegsführung? Die Existenz auf den beiden Seiten
von Mauern und Zäunen? Eine verlängerte
Feuerpause/Waffenstillstand? Eine Hudna (Im Arabischen ein
verlängerterWaffenstillstand mit einem festgelegten
End-Zeitpunktpunkt.?
So etwas wie der
Frieden zwischen Indien und Pakistan? Der Frieden zwischen
Deutschland und Frankreich - und wenn es so ist, wie der Frieden
vor dem ersten Weltkrieg oder der Frieden, wie er jetzt
vorherrscht? Der Kalte Krieg zwischen der Sowjet-Union und den
Vereinigten Staaten oder der heiße Frieden zwischen Vladinir Putin
und Donald Trump?
Der Frieden
zwischen dem biblischen Isaak und Ismael, deren Mütter einander
hassten oder der Frieden zwischen Isaak und Ismael, die zusammen
ihren Vater Abraham beerdigten (Gen. 25)
Es gibt viele Arten
von Friedenssituationen. Über welche Art von
israelisch-palästinensischen Frieden sprechen wir? Der Frieden
zwischen dem Pferd und seinem Reiter? Über den Frieden zwischen
einem Herrenvolk und einem Sklavenvolk? So etwas wie der Frieden
zwischen dem Südafrikanischen Apartheidregime und den Bantustans,
die es für die Schwarzen geschaffen hat? Oder eine ganz andere Art
von Frieden, ein Frieden zwischen Gleichen?
Es geht um diesen
Frieden, über den ich gerne sprechen würde. Kein „realer“ Frieden.
Kein „perfekter“ Frieden. Kein „vollständiger“ Friede.
Über Frieden. Ein
einfacher und reiner Frieden. Ohne Qualifikation, bitte.
WANN HAT
alles angefangen? Der Konflikt, der jetzt das Leben der beiden
Völker beherrscht, wann begann er?
Schwer zu sagen.
Es ist leicht zu
sagen: er begann, als der erste jüdische Immigrant diese Küsten
erreichte.
Das klingt einfach.
Aber stimmt nicht.
Es scheint, dass
die vor-zionistischen Bilu-Immigranten, die hier Anfang des 19.
Jahrhunderts herkamen, keine Feindseligkeit erhoben.
Ich habe darüber
eine Theorie entworfen: Einige Zeit bevor die Bilu („Söhne von
Jakob, Geh (nach Palästina)“) hierherkamen, siedelte eine
religiöse deutsche Sekte, die Templer, in diesem Land. Sie hatten
keine politischen Ziele, nur eine religiöse Vision. Sie bauten
Model-Dörfer und Stadtteile und die Einheimischen waren dankbar.
Als die ersten Juden ankamen, vermuteten die Einheimischen, dass
diese etwas Ähnliches wären.
Dann kam die
zionistische Bewegung, die durchaus politische Ziele hatte. Sie
sprachen nur über eine „nationale Heimstätte“, aber der Gründer,
Theodor Herzl, hatte vorher ein Buch geschrieben, das den Titel
„Der Judenstaat“ trug Das Ziel war eine Weile verborgen, weil das
Land zum Ottomanischen Empire gehörte.
Nur sehr wenigen
der lokalen Bevölkerung war von Anfang an klar, dass dies für sie
eine tödliche Gefahr darstellte. Eine große Mehrheit der Muslime
sahen die Juden nur als eine minderwertige religiöse Gemeinschaft
an, die der Prophet ihnen zu schützen befahl.
Wann also begann
der Konflikt? Darüber gibt es verschiedene Theorien. Ich
akzeptiere die Theorie des fast vergessenen Historikers Aharon
Cohen, der auf ein besonderes Ereignis deutete. 1908 brach die
Revolution der Jungtürken aus. Das islamisch Ottomanische Empire
verwandelte sich in einen nationalistischen Staat. Als Reaktion
darauf erhob sich in Palästina und den benachbarten Ländern eine
arabische Nationalbewegung, die zu Dezentralisierung des Empire
aufrief, um seinen vielen Völkern Autonomie zu geben.
Ein lokaler
arabischer Führer ging auf den zionistischen Vertreter in Jerusalem
mit einem verführerischen Angebot: Falls die Juden die arabische
Bewegung unterstützen würden, würden die Araber die zionistische
Einwanderung unterstützen.
In großer
Aufregung eilte der zionistische Vertreter zum Führer der
zionistischen Weltbewegung Max Nordau, einem deutschen Juden und
drängte ihn das Angebot anzunehmen. Aber Nordau sah das Angebot
mit Verachtung an. Schließlich waren es die Türken, denen das Land
gehörte. Was hatten die Araber anzubieten?
Es ist schwierig,
sich die Geschichte vorzustellen, wenn es zu einer
zionistisch-arabischen Zusammenarbeit gekommen wäre. Aber ein
europäischer Jude konnte sich nicht einmal solch eine Wende der
Ereignisse vorstellen. Darum kooperierten sie mit den Türken – und
später mit dem britischen Kolonialregime - gegen die lokale
arabische Bevölkerung.
Seit damals
intensivierte sich der Konflikt von Generation zu Generation. Jetzt
ist der Frieden weiter entfernt als je.
ABER WAS
ist Frieden?
Die Vergangenheit
kann nicht getilgt werden. Jeder der vorschlägt, die Vergangenheit
zu ignorieren und „wieder von vorne anzufangen“, träumt.
Jedes der beiden
Völker lebt in seiner eigenen Vergangenheit. Die Vergangenheit
gestaltet jeden Tag und jede Stunde, ihren Charakter und ihr
Verhalten. Aber die Vergangenheit der einen Seite ist völlig anders
als die Vergangenheit der anderen.
Dies ist nicht nur
ein Krieg zwischen zwei Völkern. Es ist auch ein Krieg zwischen zwei
Geschichten. Zwei Geschichten, die einander in fast allem
widersprechen, obwohl es sich um dieselben Ereignisse handelt.
Zum Beispiel weiß
jeder Zionist, dass bis zum 1948 er Krieg die Juden mit gutem Geld
Land kauften, mit Geld, das von Juden aus aller Welt gespendet
wurde. Jeder Araber weiß, dass die Zionisten Land von abwesenden
Landbesitzern kauften, die in Haifa, Beirut oder Monte Carlo lebten
und dann verlangten, dass die türkische ( und später die britische)
Polizei, die Fellachen vertrieb, die generationenlang das Land
bearbeiteten.(Alles Land gehörte ursprünglich dem Sultan, aber als
das Empire bankrott war, verkaufte es der Sultan an arabische
Spekulanten).
Ein anderes
Beispiel: jeder Jude ist stolz auf die Kibbuzim, eine einmalige
Errungenschaft des menschlichen Fortschritts und der sozialen
Gerechtigkeit, die häufig von ihren arabischen Nachbarn angegriffen
wurden. Für die Araber waren die Kibbuzim nur ein sektiererisches
Instrument der Verdrängung und Vertreibung.
Ein anderes
Beispiel: Jeder Jude weiß, dass die Araber den 1948 den Krieg
begonnen haben, um die jüdische Gemeinschaft auszulöschen. Jeder
Araber weiß, dass in diesem Krieg, die Juden das halbe
palästinensische Volk aus ihrer Heimat vertrieben haben.
Und so weiter:
heute glauben die Israelis, dass die palästinensische Behörde, die
einen monatliches Gehalt an die Familien der Mörder zahlt, den
Terrorismus unterstützt. Die Palästinenser glauben, dass die Behörde
verpflichtet ist, die Familien zu unterstützen, deren Söhne und
Töchter ihr Leben für ihr Volk geopfert haben.
Und so weiter –
ohne Ende..
(übrigens bin ich
sehr stolz darauf, die einzige wissenschaftliche Definition des
„Terroristen“ erfunden zu haben, die beide Seiten akzeptieren können
„Freiheitskämpfer“ sind auf meiner Seite, „Terroristen sind auf der
andern Seite.“)
ES WIRD
niemals Frieden geben, wenn die beiden Völker nicht das historische
Narrativ der andern Seite kennen. Es ist nicht nötig, das Narrativ
des Gegners zu akzeptieren. Man kann dies völlig verleugnen. Aber
man muss es kennen, um das andere Volk zu verstehen und zu
respektieren.
Frieden muss nicht
unbedingt auf gegenseitiger Liebe bestehen. Aber es muss auf
gegenseitiger Achtung beruhen. Gegenseitige Achtung kann nur dann
entstehen, wenn jedes Volk das historische Narrativ der andern Seite
kennt. Wenn es dies versteht, dann wird es auch verstehen, warum das
andere Volk so handelt, wie es handelt und dass es dies für eine
friedliche Ko-Existenz benötigt.
Das würde viel
leichter sein, wenn jeder israelischer Jude arabisch gelernt und
jeder palästinensische Araber Hebräisch gelernt haben würde. Dies
würde natürlich nicht das Problem gelöst haben, aber es würde die
Lösung viel leichter machen.
Wenn jedes der
beiden Völker versteht, dass die andere Seite kein blutdurstiges
Monster ist , sondern aus natürlichen Motiven handelt, wird es viel
Positives in der Kultur der andern Seite entdecken. Persönliche
Kontakte werden sich entwickeln, vielleicht sogar Freundschaften.
Dies geschieht
schon in Israel, wenn auch in kleinem Maßstab. In der akademischen
Welt z.B. . Und in den Krankenhäusern . Jüdische Patienten sind oft
überrascht, dass einer ihrer netten und kompetenten Ärzte ein Araber
ist und dass arabische Pfleger häufig freundlicher sind als die
jüdischen.
Z.B. :Neve Shalom,
Hand in Hand-School, Givat Haviva )
Das kann die
Beschäftigung mit den wirklichen Problemen nicht ersetzen. Unsere
beiden Völker sind durch reale gewichtige Kontroversen getrennt. Es
gibt ein Problem wegen des Bodens, wegen der Grenzen und wegen der
Flüchtlinge. Es gibt Sicherheitsprobleme und unzählige andere
Probleme. Ein Krieg von mehr als hundert Jahren wird nicht ohne
schmerzliche Kompromisse enden
Wenn es eine
Grundlage für Verhandlungen zwischen Gleichen gibt, eine Grundlage
für gegenseitigen Respekt, werden unlösbare Probleme plötzlich zu
lösbaren Problemen.
ABER DIE
Vorbedingung für diesen Prozess ist die Rückkehr zum
Vier-Buchstaben-Wort in die unsere Sprache.
Es ist unmöglich,
etwas großes, etwas Historisches zu tun, wenn es nicht den Glauben
gibt, dass es möglich ist.
Eine Person wird
keinen Steckkontakt in einen Schalter stecken, wenn sie nicht davon
überzeugt wäre, dass er mit der Stromleitung verbunden wird. Sie
muss davon überzeugt sein, dass dann auch das Licht angeht,
Keiner wird mit
Friedensverhandlungen beginnen, falls er davon überzeugt ist, dass
Frieden unmöglich ist.
Der Glaube an
Frieden wird Frieden nicht sicher machen. Aber zumindest wird er den
Frieden möglich machen.
(Dt. Ellen Rohlfs;
vom Verfasser autorisiert Ich erinnere an mein Buch: „Sag, Mutter,
wie sieht Frieden aus?“ Mit Vorwort von Uri Avnery)
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